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Literaturforum: Schwul in der DDR


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Forum > Politik & Gesellschaft > Schwul in der DDR
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 Thema: Schwul in der DDR
ArnoAbendschoen
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seit dem 02.05.2010

Das ist ArnoAbendschoen

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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 29.01.2022 um 18:50 Uhr

Wer formuliert mir einen besseren Titel? Das wird keine gelehrte Abhandlung mit umfassendem Überblick, eher eine Art Feldblumenstrauß, am Lebenswegrand gepflückt. Mit seiner dekorativen Wirkung wird es nicht weit her sein. Vielleicht reicht es am Ende bloß fürs Herbarium? Ich will die Echtnamen vermeiden, jede Figur bezeichne ich mit einer Initiale, fortlaufend nach dem ABC.

Mit A. kam ich eines Nachts in einer Diskothek ins Gespräch. Wir saßen an einem der kleinen Tische und er verriet mir, er sei aus Ost-Berlin und im amtlichen Auftrag im Westteil der Stadt. Er verhandele tagsüber mit Senatsdienststellen, worüber, das erfuhr ich nicht. Ich fragte ihn, ob im Osten zu leben für einen Homosexuellen schwierig sei. Da lächelte er kühl und tat überlegen. Seine Antwort: Für mich nicht, es gibt genug private Zirkel.

Einige Wochen später lernte ich dort B. kennen, wir tanzten, redeten, gingen durch die nächtlichen Straßen. Er war abgemagert, wirkte stigmatisiert, sehr verletzlich. Ich sah ihn zwei Tage später wieder und erfuhr noch mehr. Die Geschichte, die er erzählte, war hochdramatisch. Er habe dem Intimleben hoher Funktionäre nachspioniert, Informationen darüber und das Treiben in den Gästehäusern weitergegeben und sei so mit der Staatsmacht in Konflikt geraten, habe Jahre gesessen, auch wegen Staatsverleumdung. Ich kannte den Begriff nicht und er wies mir Tätowierungen an rechter Hand und linkem Unterarm vor, die seien aus Bautzen. Wenn alles zutraf, was er vorbrachte, hatte er Frau und Kind in Ost- und Eltern in West-Berlin und war erst kürzlich auf illegale Weise herübergekommen. Als er von heute auf morgen nicht mehr zu sehen war und mein Brief mit dem Stempel „unbekannt verzogen“ zurückkam, machte ich mir noch eine Zeitlang Sorgen.

Wenige Jahre darauf war ich vorübergehend mit C. liiert. Er war neben seinem Brotberuf literarisch und journalistisch tätig und schrieb damals auch für „Die Wahrheit“, das war die Parteizeitung des West-Berliner Ablegers der SED. Er sprach nicht darüber, seit wann er im Westen lebte und weshalb er übergewechselt war. Er reiste wiederholt in die DDR und beklagte sich bei mir einmal über die Einstellung der Bürger von Karl-Marx-Stadt, sie sei rein negativ gegenüber ihrem Staat und der Gesellschaft.

Ausgestattet mit einem westdeutschen Pass unternahm ich damals Tagesbesuche in Ost-Berlin und wurde einmal bei der Einreise im Bahnhof Friedrichstraße festgehalten. Man führte mich in ein abgelegenes Büro, wo mich einer, der sich nicht vorstellte, höflich nach diesem und jenem befragte, bis meine Harmlosigkeit oder Unbrauchbarkeit erwiesen. War ich ein Zufallstreffer, der sich als Niete herausstellte? Gab es doch Material über mich? Die Fragen gingen ins Persönliche: Warum meine Haare so kurz seien und dergleichen.

Einmal begleitete mich D. und wir besuchten mitten am Tag ein schwules Café, am oberen Ende der Friedrichstraße gelegen, glaube ich. Oder war es schon in der Chausseestraße? Personal wie Gäste ließen uns merken, wir seien unerwünschte Eindringlinge. Wir gingen bald und wollten später in einem Restaurant im Bahnhof Friedrichstraße essen. Es wurde placiert und die Schlange war lang. Wir standen erst kurz an ihrem Ende, als von vorn schon ein Ruf erschallte: „Die beiden einzelnen Herren! Ein Tisch für die beiden einzelnen Herren …!“ Mir war es peinlich, aber D. lachte und fand unsere Bevorzugung erklärlich.

Als ich schon in Hamburg lebte, hörte ich, der taubstumme E., mir aus Berliner Bars vom Sehen bekannt, sei als Fluchthelfer erwischt und verurteilt worden. Er saß in Rostock ein. Ob man ihn vorzeitig freibekommen hat, erfuhr ich nicht.

Im letzten Jahrzehnt der DDR tauchten immer mehr Übersiedler auf, die mit oder ohne Erlaubnis der DDR-Behörden ausgereist waren. Ich erinnere mich an F. und G., lebenshungrige junge Männer, die dem Anschein nach rasch manches nachholen wollten. Von F. weiß ich, dass er vielbeschäftigt war und zwei Jobs hatte. Beide standen mir ein bisschen zu sehr unter Strom.

Nach dem Untergang des ostdeutschen Staates reiste ich selbst jahrelang kreuz und quer durch das „Beitrittsgebiet“. Es waren vor allem die Landschaften und die Stadtbilder, die mich anzogen. Ich hatte auch mit Menschen Kontakt, meist nur flüchtiger Art, mit anderen Reisenden oder Vermietern. Noch später zog ich wieder nach Berlin und verbringe inzwischen den Großteil meiner Zeit in Ostdeutschland. Zwangsläufig habe ich nun auch hier mit Nachbarn zu tun. Da ist menschliche Nähe, mal mehr, mal weniger angenehm, wie üblich. Die DDR und die Sexualität, das ist kein Thema mehr.

In der Coda wäre jetzt der Buchstabe H dran, aber seinen Namen brauche ich nicht zu verschweigen: Ronald Schernikau (1960 – 1991), der verspätete Wanderer zwischen den Welten. In Leipzig stieß ich nahe der Universität vor Jahren zufällig auf das Haus, an dem eine Tafel an ihn und seine Zeit dort erinnert. Heute komme ich selten mal durch die Straße in Berlin-Hellersdorf, in der er am Schluß gewohnt hat; auch hier eine Gedenktafel. Weiteres über ihn und von ihm könnte ich nachholend aus Büchern erfahren …

Für B. wünschte ich mir ein Memorial.

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