Kenon
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 22.10.2021 um 22:59 Uhr |
In der Bibliothek verbrauchter Namen steht auch der Chilene Pablo Neruda. Welches Zonenörtchen hatte keine Pablo-Neruda-Straße? Und trotzdem: Wer hat ihn denn gelesen? 1971 bekam Pablo Neruda den Literatur-Nobelpreis, aber das heisst ja erst einmal gar nichts außer dass er ihn tatsächlich bekommen hat. Nochmals trotzdem: Die Gedichte in chronologischer Ordnung, Band I bis III (2928 Seiten), herausgegeben im Luchterhand-Verlag, übersetzt von verschiedenen Übersetzern, liegen jetzt doch neben meinem Bett. Es ist eine recht trockene Angelegenheit, die Gedichte fernab des Klangs des spanischen Originals zu lesen, aber verdaulicher, weil ich immerhin kein Wort nachschlagen muss, um alles zu verstehen. Nach den ersten 200 Seiten etwa drei wirkliche Highlights, nicht die schlechteste Ausbeute, der Rest ist schon in Ordnung – irgendwie.
Was sind mir die Gedichte der ersten 200 Seiten? Ich vergleiche das Lesen dieser frühen Neruda-Gedichte mit dem Aufmachen von alten Flaschen, die man sich zur Zierde in die Wohnung stellt und in welche der Dichter jede Menge Seetang gesteckt hat. All den Seetang hole ich beim Lesen wieder hervor, eine manchmal etwas langatmige Sache, lauter grünes Zeug kommt zum Vorschein, eine Sache voller meist stumpfer Metaphern – im Deutschen klingen sie halt nicht, da sind die Originale uneinholbar. Warum lese ich das Werk trotzdem? Vielleicht gefällt mir die oft maritime Atmosphäre, welche die Dichtungen ausstrahlen, aber vor allem möchte ich mich doch zum großen Bruch hervorarbeiten, dem Zeitpunkt, an dem Neruda Kommunist wurde und sich das auch in seinem Werk niederschlug, um am Ende zu sehen, wie er möglicherweise wieder etwas Abstand gewann. Mag sein, dass sich andere Menschen schon damit befasst haben, ich möchte es gern selbst nacherlesen.
Schriftsteller chronologisch zu lesen, finde ich faszinierend: Ein Leben lesen, wie es sich entwickelt hat; deswegen ist mir die chronologische Ordnung so wichtig. Ein Schaffen, das sich über einen gewissen Zeitraum erstreckt, kann schließlich nie ein einziger Wurf sein, bezeugt immer eine Bewegung des Geistes (der Mensch, der einen Text anfängt, schreibt ihn nie zu Ende, weil er bereits ein anderer ist, wenn er ihn fertiggestellt hat), daher ist ja auch beispielsweise die thematische Sortierung, die Porphyrios als Nachlassverwalter Plotins bei dessen Schriften vorgenommen hat, nicht sonderlich viel wert: Richard Harder hat bei seiner Werkausgabe des Philosophen versucht, die Chronologie wieder herzustellen.
Ein gelebtes Leben von vorn bis hinten – in seinem literarischen Abdruck nachlesbar:
Das ist doch nichts weniger als – wunderbar.
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