Thema: Zu Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus
ArnoAbendschoen
Mitglied 718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
Eröffnungsbeitrag
Abgeschickt am: 22.09.2021 um 18:13 Uhr
Vier Jahre lang, von 1850 – 1854, war Dostojewski als politischer Gefangener im Straflager Omsk interniert. Die Mitgefangenen waren überwiegend gewöhnliche Schwerkriminelle aus den unteren Bevölkerungsschichten, zum Teil aus dem Soldatenstand. Dostojewski, selbst dem niederen Adel angehörig, fand hier das reichste Anschauungsmaterial für psychologische Studien und profitierte bei der Ausarbeitung seiner späteren Romane sehr von der Haftzeit in Sibirien. Über sie selbst veröffentlichte er 1861/62 die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“. Es handelt sich dabei sowohl um erzählende Literatur wie auch um einen Sachbericht über die krassen Missstände dort. Das Buch war außerordentlich erfolgreich, auch mit zahlreichen Übersetzungen. Kann nach eineinhalb Jahrhunderten der Rezeption noch etwas Neues aus dem Text herausgelesen werden – schwerlich. Begnügen wir uns von vornherein mit einem Überblick aus respektvoller Entfernung.
Die Aufzeichnungen haben zwei einander entgegengesetzte Pole: Unfreiheit und Individualität. Beide erscheinen in vielfacher Variation und Beleuchtung und werden immer wieder in spannungsvolle Beziehung zueinander gesetzt. Zur Unfreiheit gehört zuallererst die Zwangsarbeit, ihr entgegengestellt die weit verbreitete emsige private Tätigkeit der Gefangenen nach Feierabend, ihre Geschäftsbeziehungen zur Stadtbevölkerung. Geld spielt paradoxerweise in der Katorga eine größere Rolle als in der Freiheit. Es ist ein Stück Ersatzfreiheit, mit dem die Gefangenen sich die Existenz wesentlich erleichtern oder sich auch nur die Illusion von Macht über die Verhältnisse verschaffen können. Man kann dann z.B. sich eigene Kost zubereiten lassen oder in der Stadt eine Prostituierte aufsuchen oder sich dort sogar eine Geliebte halten. In letzteren Fällen geht es nicht ohne Bestechung des Wachpersonals ab. Besonders lukrativ sind illegale Geschäfte, allen voran der Alkoholschmuggel. Andere Erscheinungsformen der Unfreiheit sind die Ketten, die während der gesamten Haftzeit getragen werden müssen, und das dem Erzähler auffallende Fehlen von Freundschaften – sie würde Freiheit der Individuen voraussetzen. Charakteristisch ist auch die große Konformität in den unter den Gefangenen herrschenden Konventionen und Auffassungen, was sich in der Strafkolonie schickt. Die unmittelbarste Erfahrung härtesten Zwangs besteht für die dazu Verurteilten in der Prügelstrafe, die häufig verhängt wird und die regelmäßig zu schweren Verletzungen führt; manche überleben sie nicht. Der Erzähler registriert ferner die Gräben zwischen den verschiedenen im Lager vertretenen Nationalitäten und Gesellschaftsschichten. Gerade die zwischen Adligen und Nichtadligen oder zwischen Russen und Polen lassen sich kaum überbrücken.
All diese Darstellungen unfreier Existenz könnten auch in einer reinen Sachdokumentation enthalten sein. Erzählerische Qualität bekommt das Werk dann, wenn Massenszenen dargestellt werden: das entgleiste Weihnachtsfest, die befreiende Wirkung einer Theaterinszenierung, der Besuch der Badestube oder Leben und Sterben im Hospital. Noch größer ist die epische Wirkung, wenn Einzelschicksale nachgezeichnet werden. Wir begegnen jetzt Personen, deren reale Vorbilder die Forschung zum Teil herausgefunden hat. Jedes dieser facettenreich geschilderten Individuen, jede im Lager zu sühnende Tat ist von allen anderen grundverschieden und wird dadurch plastisch für den Leser. Einige dieser eingeschobenen Vorgeschichten könnten für sich als abgeschlossene kurze Erzählungen oder kleine Novellen bestehen, vor allem „Bakluschins Geschichte“ oder „Akulinas Mann“. Bei der Individualisierung von Gestalten geht der Autor so weit, dass er uns sogar die im Zuchthaus gehaltenen Tiere als eigenwillige, erinnerungswürdige Wesen vor Augen führt: Hunde, ein Pferd, ein Ziegenbock und ein flügellahmer Adler.
Nicht verschwiegen seien die kleinen Mängel des Werks. So gibt die knappe Rahmenhandlung vor, der Text sei von einem wegen Mordes verurteilten Adligen nach dessen Entlassung verfasst worden. Wie der Stoff jedoch behandelt ist, verweist deutlich nicht auf den Gutsherrn Gorjantschikow, sondern auf den Petersburger Literaten und politischen Häftling Dostojewski. Die literarische Wirkung wird außerdem hier und da durch Nachzeichnen gefängnisinterner Verwaltungsstrukturen geschmälert, auch dadurch, dass immer wieder Personen nur mit den Initialen ihrer Namen auftreten. Insgesamt hat all das der Wirkung des Buchs nicht geschadet. Ihren schönsten Ausdruck hat die Rezeption durch den Komponisten Leoš Janáček erfahren. Seine letzte Oper „Aus einem Totenhaus“ bringt den Stoff wunderbar zum Klingen und Dostojewskis Gestalten höchst eindrucksvoll auf die Bühne, auch den Adler.