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Literaturforum: Tucholsky rüffelt Brecht: Keine Plagiate!


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Forum > Literaturgeschichte & -theorie > Tucholsky rüffelt Brecht: Keine Plagiate!
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 Thema: Tucholsky rüffelt Brecht: Keine Plagiate!
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 08.07.2021 um 17:31 Uhr

Immer neue Fälle von Plagiaten führen zu immer derselben verengten Diskussion. Sie erschöpft sich in der Regel im Beharren auf dem Rechtsstandpunkt. Jenseits von ihm ist nichts denkbar, nicht diskutierbar. Der Schutz geistigen Eigentums scheint zu den Grundwerten zu gehören, die man immer und unbedingt zu verteidigen hat, auch gegen Relativierung. Gewöhnlich wird als Grundmuster dieses Bild gezeichnet: Schwächliche, unbegabte, faule Zeitgenossen bedienen sich der Werke anderer, indem sie Teile davon als eigene Schöpfung ausgeben. Der Vorgang ist immer parasitär, führt zur Schwächung des ehrlich arbeitenden, leistungsfähigeren Autors. Die Wegrichtung ist gewöhnlich die vom Höheren zum Niederen, vom Besseren zum Schlechteren.

Mir kam in diesen Tagen eine Erinnerung an einen sehr alten Text. Ich ziehe daraufhin einen Band Tucholsky aus dem Regal und finde, was ich suche: Der Artikel „Die Anhängewagen“ ist im Mai 1929 in der „Weltbühne“ erschienen und gegen Bertolt Brechts Umgang mit fremdem Eigentum gerichtet. Tucholsky beginnt mit Brecht und endet mit ihm. Dazwischen zieht er noch gegen, wie er es sieht, parasitären Umgang mit fremden Lebensläufen in Biografien zu Felde und verurteilt beispielsweise Stefan Zweigs Arbeitsweise scharf. Aber Brecht bleibt doch der eigentliche Adressat. Tucholsky bezieht sich vor allem auf dessen „Dreigroschenoper“ und auf missbräuchliche unautorisierte Verwendung fremder Übersetzung: „Es ist Bert Brecht nachgewiesen worden, dass er bei einer Übertragung aus dem Französischen einen Übersetzer bestohlen hat. Er hat darauf geantwortet: das beruhe auf seiner grundsätzlichen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums. Das soll sehr rebellisch klingen – es ist aber nur dumm.“ Am Ende des Artikels kommt Tucholsky selbst darauf, dass außer Dummheit auch Geschäftstüchtigkeit eine Rolle spielen könnte. Erst als die „Dreigroschenoper“ kommerziell ein großer Erfolg geworden war, schlüpfte Brecht, für Tucholsky unerträglich, vollends in die Rolle des Autors. Tucholsky kommt nicht auf die Idee, dass gerade das zum weiteren anhaltenden Ruhm des Werks noch beitragen könnte. Die Marke „Brecht“ war kreiert worden. Aber Tucholsky fleht, fordert, donnert: „Lasset uns in Zukunft Dichter loben, die sich ihr Werk allein schreiben.“

Profitiert hat Brecht auch von der Arbeit mehrerer Frauen, die nacheinander oder zur selben Zeit mit ihm zusammenlebten. Sie arbeiteten ihm zu, texteten fleißig und fügten nicht unwesentliche Bausteine in sein Gesamtwerk ein. Zumeist wurden sie als Mitautorinnen nicht angegeben. So trugen sie mit an der Arbeitslast, trugen bei zu seinem Ruhm, aber eben auch zur Aufnahme des gemeinschaftlich entstandenen Werks in den Kanon der Weltliteratur. Ihre Rolle bei der Entstehung des Werks wurde im Lauf der Zeit immer wieder von anderen kritisch durchleuchtet, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Manche erklären Brechts Verhalten als schäbiges Ausnutzen der Arbeitskraft auf die eine oder andere Weise von ihm abhängiger Frauen. Andere wiederum sehen die Kooperation im Kontext eines damals neuen, unter Progressiven sehr populären Ideals gemeinschaftlichen Arbeitens. Feststellen darf man, dass sich Rang und Nachruhm z.B. von Elisabeth Hauptmann wesentlich aus ihrer Stellung innerhalb des Brecht-Kollektivs speist. Und: Die „Laxheit“, deren Brecht sich rühmte, war außerordentlich produktiv. Die Marke „Brecht“ setzte sich auf Dauer durch. Wer hatte und hat den größeren Nutzen davon, der Autor selbst oder wir, die Nachwelt?

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Kenon
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 08.07.2021 um 23:03 Uhr

Meine früheste Erinnerung an Bertolt Brecht ist ein Kinderbuch, das sich “Ein Kinderbuch” nannte. Es enthielt ein paar eindrucksvolle Bleistiftzeichnungen, die Moritat, vielleicht irgendetwas über Hirse, mein Vater hat uns oft daraus vorm Schlafen vorgelesen. Besonders beeindruckt hat Brecht mich nie, die Dreigroschenoper ist ganz nett (wieviel Anteil daran hat Kurt Weill?), aber literarisch wie auch das, was vom Menschen noch sichtbar ist, diese ganze billige Selbstinszenierung, der scheußliche Zigarrengeruch, hat mich immer eher abgestoßen. Ich habe nicht den Eindruck, dass er aktuell gesellschaftlich eine besondere Wertschätzung erfährt, gerade in seiner Heimatstadt Augsburg. Du schreibst von Geschäftstüchtigkeit, ein recht erfolgreicher Geschäftsmann war er sicherlich, man schaue sich nur an, wie es ihm nach dem Krieg in Ost-Berlin ging: Haus, Auto, Geld, eigene Bühne. Auch Kommunismus kann ein einträgliches Geschäft sein – für einige wenige. Johannes R. Becher, trotz aller politischen Fehlschläge, ist mir da viel näher: Sohn eines schwierigen Vaters, selbst Missbrauchsopfer, drogensüchtig, suizidal, manchmal genial, immer schwankend – ein ebenso verbrauchter Name, gut – der Name Bechers ist tatsächlich noch verbrauchter als der von Brecht, weil er nie eine Dreigroschenoper aufführen ließ.

Aber es ging ja eigentlich um Plagiate. Natürlich lässt man sich als Schriftsteller von seinem Umfeld beeinflussen; mir ist es heute wichtig, zu kennzeichnen, woher eine Idee stammt, und wenn sie nur auf ein Bild, das ich irgendwo gesehen habe, oder irgendeinen zufälligen Tweet zurückzuführen ist; aber die Grenzen sind fließend, in politischen Texten kann nicht jedes Argument ein Original sein, da gibt es gewisse Ideenströme. Früher habe ich besonders darauf geachtet, mich von niemandem in meinem Schaffen beeinflussen zu lassen, der noch lebt, am besten gar nichts zeitgenössisches gelesen. Heute ist das nicht mehr nötig.

Zum aktuellen Fall: Bei Frau A.C.A.B. sind die Plagiate ja nur ein Detail einer mehr und mehr als hochstaplerisch erscheinenden Gesamtpersönlichkeit, oder noch bösartiger formuliert: quotierten Luftpumpe. Wo immer man sie berührt, bröckelt der Lack – oder wenn man es tatsächlich in Richtung “Frauenfeindlichkeit” treiben möchte: die Schminke, von der bei ihr auf jeden Fall nicht zu wenig im Gesicht getragen wird. Um sich in einer Partei hochzuwurschteln, mag es ausreichen, den Fön voll aufzudrehen, das sieht man ja auch in diversen anderen Parteien, wo gewisse Spitzenleute, sobald sie den Mund aufmachen, Prozentpunkte vernichten. Letztlich sehen wir in der Politik auch nur das ekelhafte Spiegelbild unserer Gesellschaft: Die geschäftstüchtigen lauten Schwatztaschen sichern sich ihren Platz an den Fleischtöpfen, die ehrliche Arbeit machen andere, aber immerhin hat das Volk doch ein einigermaßen feines Gespür, soetwas nicht durchgehen zu lassen.

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ArnoAbendschoen
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 09.07.2021 um 11:09 Uhr

Ja, Brecht ... Seine Werke zogen und ziehen mich weder stark an - Ausnahme: "Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar" - noch stießen oder stoßen sie mich ab. Seine Bücher nehme ich fast nur zur Hand, wenn ich mal wieder (wie demnächst erneut) umziehe und die Regale räumen muss. Er ist für mich eine unbestreitbare Größe in der Vergangenheit mit Wirkungen fürs Theater und den Film bis heute. Thomas Mann hat die Ironie in der deutschen Literatur verankert und Brecht die Verfremdung in den darstellenden Künsten.

Tatsächlich ging´s mir um die Komplexität des Themas Plagiate. Immerhin war zu Brechts Zeit das Urheberrecht schon voll ausgebildet und dennoch konnte er, auch durch Anzapfen fremder Quellen, zu einem unserer modernen Klassiker werden. Wahrscheinlich auch, da seinerzeit und noch darüber hinaus die Vorstellung genossenschaftllicher Kooperative auch auf künstlerischem Gebiet als progressiv galt und populär wurde. (Im Bauhaus spürt man ähnliche Tendenzen.) Es scheint, dass die aufeinander folgenden Generationen da jeweils zu Übertreibungen neigen. Mal steht das Individualrecht im Zentrum, mal soll es sich gemeinschaftlichen Interessen möglichst unterordnen.

Was die aktuellen Fälle angeht, so sind sie überwiegend an sich nicht so schwerwiegend, dass der Stab gebrochen werden müsste. Nur werfen sie, besonders im jüngsten Fall, ein Licht auf die Motivation der Akteure. Warum musste jenes Buch überhaupt geschrieben werden, und zwar in Windeseile? Und von wem tatsächlich? Und welche Fehleinschätzung der Öffentlichkeit zeigt sich da?

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Kenon
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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 11.07.2021 um 18:19 Uhr

Ich kann es ja mal etwa systematischer versuchen, wobei das selbstverständlich auch längst noch keine erschöpfende Behandlung ist.

Ich betrachte folgende vier Parteien / Seiten, die bei einem Plagiat eine Rolle spielen können; das Plagiat selbst steht im Zentrum, ich führe es aber nicht noch einmal einzeln auf.

A) Der Plagiator
B) Der Plagiierte
C) Das Publikum
D) Die Rechtsprechung
    Wenn sich A) bei B) ohne das kenntlich zu machen und ohne dessen Einverständnis an dessen geistigem Eigentum bedient, so muss er es erst einmal nur mit seinem Gewissen ausmachen: Tue ich das richtige? Darf ich das? Schade ich damit nicht A)? Riskiere ich vielleicht meinen Ruf, wenn es herauskommt?

    B) bekommt vermutlich erst einmal gar nicht mit, was A) mit seinem geistigen Eigentum gemacht hat. Vielleicht stolpert er irgendwann zufällig darüber, jemand gibt ihm einen Tipp oder der Diebstahl wurde so erfolgreich, dass er davon aus den Medien erfährt, beispielsweise seine Melodien plötzlich von jemand anders dargeboten im Radio hört.

    Im Extremfall wird A) durch die Ideen von B) ein Millionär, weil er einen Welthit gelandet hat, von dem er noch Jahre lang wird leben können, während B) vielleicht weiterhin unter Brücken hausen muss.

    B) kann dann A) unter Bezugnahme auf D) verklagen. Da geht es dann um Sachen wie Schöpfungshöhe, Ähnlichkeiten, die meist Sachverständige begutachten.

    C) fühlt sich vielleicht zum Teil betrogen: Da ist jemand mit dem Werk oder Versatzstücken aufgetreten und hat sich größer gemacht, als er ist; ein anderer Teil denkt sich: Ist doch egal, Hauptsache, mir hat es gefallen (oder: mir hat es ohnehin nicht gefallen).

    A) kann B) seine mangelnde Geschäftstüchtigkeit vorhalten: Es reicht ja nicht, tolle Ideen zu haben, man muss sie auch mit Gewinn unter die Leute bringen. Dazu warst Du, B), entweder zu dumm oder hattest es gar nicht darauf abgesehen. Worüber beschwerst Du Dich also?

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