ArnoAbendschoen
Mitglied 718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
Eröffnungsbeitrag
Abgeschickt am: 14.03.2021 um 18:22 Uhr
Als ihre Tante gestorben war, übernahm meine Mutter aus dem Nachlass eine Briefsammlung. Es waren die Feldpostbriefe ihres Cousins von der Ostfront, an seine Eltern gerichtet. Sie hatte ihn persönlich gekannt und gemocht, er war 1944 in der Ukraine gefallen. Meine Mutter las die Briefe mit viel Interesse und zeigte sie mir bei meinem nächsten Besuch. Sie waren in einer altertümlichen Schrift abgefasst, die ich nicht lesen konnte. Schon sah ich die Briefe später in meine Hände übergehen und nahm mir vor, einmal die alte Schrift lesen zu lernen. Damals durfte ich auch Fotografien des Cousins betrachten und erfuhr wichtige Daten seines Lebens: das Elternhaus regimetreu, er selbst Ortsgruppenleiter der Hitler-Jugend, dann Jurastudent in Frankfurt. Als ich die Bilder durchging, schien mir der Cousin im Lauf der Zeit weniger schneidig aufzutreten, vor dem Krieg uniformiert als zackiger Anführer männlicher Dorfjugend eine Brücke überschreitend, dann auf Fronturlaub leger in Zivil vor dem Elternhaus, zuletzt mit seiner Verlobten bei einem Besuch Hamburgs: Blankenese und der Rathausmarkt, noch unzerstört. Wirkte er da nicht wie geläutert, schicksalsergeben? Ich würde die Briefe genau studieren.
Zwei Jahre später vernichtete meine Mutter die Briefe. Ich war schockiert. Wozu so alte Sachen aufbewahren, meinte sie lahm und wich weiterer Erörterung aus. Verriet ihre Handlung eine aliterarische Einstellung – oder hatte sie Details entdeckt, die das Bild des Cousins verdunkelten? Ich erfuhr ihr Motiv nicht. Einige Jahre später wiederholte sich der Vorgang. Mein Vater starb und meine Mutter vernichtete zahlreiche Dokumente, ihn betreffend. Schlimmer noch, sie beseitigte zugleich auch alle Briefe von mir, mehr als dreihundert, die ich ihr in drei Jahrzehnten geschrieben hatte. Wir sprachen nicht darüber. Um diese Zeit schrieb sie mir einmal, sie wäre während der Ehe zeitweise gern fortgegangen, nur wohin?
Diese Abläufe kamen mir wieder in den Sinn, als ich neulich eine Biografie André Gides las. 1918 war Gide mit Marc Allégret, seinem jungen Geliebten, in England und Gides Ehefrau Madeleine vernichtete daraufhin seine sämtlichen an sie gerichteten Briefe. Gide war entsetzt. Die Preisgabe von Briefen, die man lange wertgeschätzt und aufbewahrt hat, ist es nicht wie Bilderstürmerei? Spuren werden getilgt und etwas wird ausradiert: als ob es nie gewesen wäre.
Kenon
Mitglied 1499 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
Ich verstehe die Neugierde und das historische Interesse, glaube aber, man muss akzeptieren, dass man nicht nachträglich in diese Kommunikation eingeschlossen wird, die einen selbst nicht vorhersehen konnte und auch nicht für einen gedacht war. Es ist natürlich bedauerlich, wenn Du nicht einmal das Motiv, das zur Vernichtung der Briefe führte, erfahren durftest. Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt und überlebt hat, ist ja generell nicht besonders redselig gewesen. Meine beiden Großmütter haben mir in ihren letzten Lebensjahren einige wenige Details zu dieser Zeit anvertraut – besser wenig als gar nichts. Mich hat es nachhaltig beeinflusst. Ich werde es irgendwann literarisch aufarbeiten.