Kenon
Mitglied 1499 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
Eröffnungsbeitrag
Abgeschickt am: 05.10.2020 um 00:07 Uhr
Vom Axel-Springer-Hochhaus in Kreuzberg kann man nordwärts nach Ost-Berlin auf die Leipziger Straße gehen. Wendet man sich dann noch einmal dem geographischen Osten zu und macht ein paar Schritte, erreicht man alsbald die U-Bahn-Station Spittelmarkt, die aktuell eine Baustelle ist.
Auch Du kennst vielleicht dieses Phänomen, dass Du an einem Ort, den Du schon oft passiert hast, auf einmal sehenden Auges entdeckst, was Du so viele Male zuvor auch hättest entdecken können, aber etwas hat Dich davon abgehalten, weil Du gar nicht immer wirklich dort bist, wo Du bist, sondern in Gedanken irgendwo anders, ganz bei Dir. Du bist also an einem bekannten Ort, der Dir plötzlich neu ist, als wärest Du das erste Mal dort. So erging es mir mit dem brutalistischen Beton-Klotz an dem U-Bahn-Eingang Spittelmarkt an eben der Ecke Leipziger / Axel-Springer-Straße. Anders als viele Plattenbauten im ehemaligen Osten, ist er von außen nur geringfügig saniert worden. Breite graue Betonflächen wechseln sich auf der Fassade mit schwarzen Bändern, den verschatteten Balkoninnenflächen, ab. Das Gebäude würgt sich um die Straßenecke wie ein pubertierendes Akkordeon, das sich in einem Fitness-Studio monströse Kräfte antrainiert hat, um dann als gewaltiger Stein zu erstarren. Das Gebäude beeindruckt, aber es ist aus der Zeit gefallen, man hätte es längst abreißen oder mit erheiternden farbigen Fassadenteilen bekleben können. So ist es, was es ist und immer war: Eine ehrliche und wohlgeformte Masse Beton, errichtet in einem Unrechtsstaat. Das Gebäude könnte überall zwischen Elbe und Wladiwostok, z.B. in der Ukraine stehen - und das kann auch ein Kompliment sein. Nur wohnen mag man darin natürlich nicht, schon allein wegen des Lärms der Hauptstraße, an der es liegt.
Oben auf dem Dach hat man eine große, wetterfeste und blutrot gestrichene Metall-Installation angebracht, die den geschwungenen Schriftzug von Coca Cola zeigt. Ich fantasiere, vielleicht liege ich richtig - die Reklame scheint mir aus den frühen Neunzigern zu stammen, möglicherweise ist sie die erste Aufwertung, die dieses Gebäude erfahren hat. Morgen ist der 3. Oktober, man feiert den 30. Jahrestag der Einheit Deutschlands. Dieser Beton-Klotz mit der aufgesetzten Reklame ist mein persönliches Sinnbild der Einheit Deutschlands: Hier ist ja ganz offenbar zusammengewachsen, was zusammen gehört.
Was fühle ich? Nichts - und zugleich sehr viel.
ArnoAbendschoen
Mitglied 718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
Mir ging es mit dieser Ecke im Juli ähnlich. Wo ich sonst nur mit dem Bus durchkam, fiel, nun zu Fuß, erstmals mein Blick auf den in der Tat auffallenden Kontrast von farbiger Werbung und vernachlässigtem Baukörper. So sehr mich der Anblick auch stutzen ließ, würde ich darin kein Sinnbild für Gegenwärtiges erkennen, eher vielleicht für die Zeit um 1990 - 1995. Die braune Brause und diese Werbeästhetik, das ist beides auch schon vorgestrig wirkend.
Ich überlege, wo sonst "mein persönliches Sinnbild der Einheit" in der Gegenwart als Gebautes liegen könnte. Vielleicht am Alex, die Gruppe vom Kaufhof (Ostschaufenster wird Westkaufhaus in der Krise) über das Hotelhochhaus (kann es überleben?) zu der Großbaustelle daneben (wird das wie geplant zu Ende gebaut und wofür dann gebraucht?).