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Literaturforum:
Perplex beim Friseur
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Autor
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Thema: Perplex beim Friseur
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 20.05.2020 um 22:30 Uhr |
Seltsame Zeiten sind das jetzt: meine Haare bis vor zwei Tagen wieder so lang wie damals, als Willy Brandt Kanzler war. Kommt alles zurück? Wirklich jugendlich habe ich mich nun nicht gefühlt. Endlich ist der kleine Salon wieder offen, in dem ich mir schon lange die Haare schneiden lasse. Beim ersten Anruf erfahre ich, dass zwei Wochen lang alle Termine vergeben sind. Wir bereden dennoch schon den Ablauf. Ich sage der Friseuse, ich würde mit Maske kommen und sie müsste vor dem Schneiden neuerdings die Haare wohl waschen, ja? (Bisher gab es nur einen Trockenhaarschnitt mit der Maschine.) – „Ja“, sagt sie zögernd, „waschen, ja …“
Elf Tage später, nach weiterem Telefonat, sinke ich frohgemut auf meinen alten Platz an der Längswand des Salons. An der Stirnseite ist eine Kundin länger in Arbeit, zwischendurch ist mal Zeit für mich. Dann kommt noch ein Mann, der auf dem Stuhl neben der Tür warten darf. Die Inhaberin - sie ist hier allein tätig - überzeugt sich, dass die Mindestabstände eingehalten sind, sie stellt es laut fest. Im Salon sind zahlreiche Desinfektionsflaschen zu sehen, benutzt werden sie während meines Aufenthalts nicht. Mein Frisierumhang kommt mir bekannt vor, es ist der altgediente für jedermann.
Die Haare habe ich mir eingedenk der neuen Vorschriften und unseres Vorgesprächs heute nicht gewaschen. Ich lehne den Kopf zurück – aber die Friseurin hat anderes vor, sie hat schon die Maschine in der Hand, fragt: „Wieder zwölf Millimeter?“ Jetzt zeigt sich erneut meine angeborene fehlende Schlagfertigkeit: Ich nicke ergeben, statt auf dem Waschen zu bestehen. (Und wie viel wäre damit gewonnen, wenn es nur auf besonderen Wunsch geschieht?)
Die Meisterin trägt die Halbmaske, befreit aber ihre Nase, als sie mich bearbeitet. Sie versucht ein kleines Gespräch, ich bleibe einsilbig. Zweimal kommt noch ein Anruf. Beim Telefonieren zieht die Friseurin die Maske bis unters Kinn. Minuten später bin ich fertig. Für alle Fälle wird beim Zahlen meine Telefonnummer notiert. Während ich die Jacke überstreife, darf der wartende Herr auf meinem Stuhl Platz nehmen, der zuvor nicht desinfiziert wird.
Zuhause recherchiere ich fünf Minuten im Internet zu Verstößen gegen die neuen Maßgaben. In Bremerhaven wurde ein Salon vom Ordnungsamt geschlossen. Im Ruhrgebiet beschuldigen sich Friseurbetriebe gegenseitig, die Vorgaben nicht einzuhalten. Ein Innungsobermeister in Württemberg fordert die Kunden auf, Verstöße zu melden. Am schlimmsten seien die Barbershops, sagt er. Melden werde ich nichts, mir nur einen anderen Friseur suchen.
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Kenon
Mitglied
1482 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
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1. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 15.07.2020 um 23:02 Uhr |
Tja, diese Regeln. Nicht jeder hält sich dran. Vermutlich sind auch nicht alle Regeln sinnvoll - in Polen zum Beispiel werden in Gaststätten und Bars Tische als desinfiziert ausgewiesen, die ein paar Tropfen Alkohol aus einer Sprühflasche abbekommen haben. Hat das jetzt irgendetwas gegen Covid-19 bewirkt? Und inwiefern hilft Haarewaschen beim Friseur gegen die Viren?
In den Flixbussen waren anfangs die Toiletten geschlossen. Auf den drei Fahrten, die ich in den letzten Wochen gemacht habe, hatte vielleicht 1/4 der Passagiere eine Maske auf, also so richtig über Mund und Nase. Das macht besonders Spaß, wenn man neben einer hustenden und niesenden Seniorin platziert wurde, die auch zu den Nicht-Maskenträgerinnen gehört. Für manche, vor allem für jüngere aber auch ältere Leute scheint die Pandemie schon vorbei zu sein. Die mittel-alten waren auf meinen Fahrten noch die vernünftigsten.
Beim Friseur war ich noch immer nicht. Wenn irgendwann einmal das Home Office bei uns aufgehoben wird, überlege ich es mir sicherlich. So lange laufe ich herum, wie die aktuelle Zeit ist: Ein wenig außer Form geraten.
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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2. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 16.07.2020 um 10:52 Uhr |
Nun, Haare können ebenfalls Viren transportieren. Das Problem dürfte darin liegen, dass beim Schneiden sehr kleinteiliges, leicht schwebfähiges Material entsteht. Das Waschen vor dem Schneiden soll also primär die Friseure und sekundär auch die Kundschaft schützen. Es handelt sich beim Waschgebot um eine Art Unfallverhütungsvorschrift der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege. Sollten sich Friseure in größerer Zahl infizieren, droht die Anerkennung als neue Berufskrankheit mit erheblichen Kosten für die Versicherung.
Was die Verlässlichkeit einzelner Vorsorgepraktiken angeht, so muss man sich vor Augen halten, dass das Virus erst seit einem halben Jahr bekannt ist. Alle Maßnahmen funktionieren noch nach dem Muster von Versuch und Irrtum. Wer verantwortlich ist für Seuchenbekämpfung oder die Funktionsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft, steht unter einem immensen Handlungsdruck. Das sollten wir bei aller Kritik im Detail bedenken. Ich erinnere an den hessischen Finanzminister, der in dieser Situation Suizid begangen hat.
In meinem Text fehlte noch, dass die Kundschaft des Salons überwiegend aus Senioren besteht.
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Kenon
Mitglied
1482 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
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3. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 16.07.2020 um 14:47 Uhr |
Danke für die erhellenden Details, Arno. Die hatte ich bisher in keiner Kommunikation der Regeln gesehen.
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