ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 02.03.2020 um 18:34 Uhr |
Wer sich auf den dritten Band der Cotta-Ausgabe des Tagebuchs von Harry Graf Kessler einlässt – er umfasst die Zeit von April 1897 bis Ende 1905 -, dem steht eine in weiten Teilen mühsame Lektüre bevor. Kessler entwickelt sich damals zum Spezialisten für Kunstgeschichte wie für den aktuellen Kunstmarkt. Er reist nach Italien, Griechenland und Kleinasien, besucht immer wieder Museen, Galerien und Ateliers, vor allem in Paris und London. Mit seinen Eindrücken und Gedanken dazu füllt er Hunderte von Seiten. Penibel untersucht er die Strukturen einer ungeheuren Zahl von Bildern und Plastiken - Materialien, Komposition, Farbauftrag usw. Er vergleicht die Künstler mit ihren Zeitgenossen und Vorgängern und stellt Verbindungslinien über Jahrhunderte und auch Jahrtausende her. All das war so nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Es sind private Notizen, Arbeitsmaterialien, die Kessler später bei der Abfassung von Aufsätzen und Vorträgen dienen sollten und es zum Teil auch getan haben. Eingestreut in diese kunsthistorische Wüstenei finden sich immer wieder Überlegungen zu sozialen, politischen, historischen, philosophischen oder psychologischen Fragen. Hier kann der Leser mitdenken und zu einer eigenen Position finden. Dazwischen etwas Gesellschaftsklatsch, von amüsant bis skandalös, oder treffende Kurzporträts Prominenter.
Das wirklich Suggestive an diesem Tagebuch ist das, was sich permanent zu entziehen sucht – die Person des Grafen. Sie verschwindet wie hinter zwei zugezogenen Vorhängen. Der vordere (aus der Sicht des Betrachters) ist noch durchscheinend und lässt die Konturen der äußeren Lebensumstände des Verfassers in jenen Jahren in ihren Grundzügen erkennen: Wohnen und Arbeiten. Hier werden auf knappste Weise Fakten mitgeteilt oder lassen sich vom Leser aus dem übrigen Ablauf erschließen. Kessler, immer reisefertig wie der von ihm wenig geschätzte Kaiser, zieht um, bleibt nahe am Anhalter Bahnhof wohnen und richtet sich später auch in Weimar ein, das zum Lebensmittelpunkt wird. Oder ist es nicht vielmehr damals London? Oder doch Paris? Er macht in Berlin sein Assessorexamen und strebt Aufnahme in den diplomatischen Dienst an. Als das scheitert, etabliert er sich als Museumsdirektor in Weimar, mit über das Haus weit hinausreichenden Plänen. Von Weimar soll eine Bewegung die gesamte Nation erfassen, sie kulturell und im Alltagsleben reformieren. Kessler will dazu das große Netzwerk seiner Beziehungen einsetzen. Am Ende dieser Periode zeichnet sich bereits sein Scheitern in Thüringen ab.
Der zweite Vorhang hinter dem ersten ist sehr dicht und verbirgt den Privatmenschen Kessler fast vollständig, seine Gefühle, seine Sehnsüchte, Enttäuschungen. An nur wenigen Stellen vergisst er sich, bezieht sich auf jenen innersten Bezirk seiner Existenz, verschafft kurze Einblicke in sein persönliches Drama. Als Motto dafür könnte ein Eintrag vom 2. 5. 1903 dienen: „Alle Schönheit der Welt besteht in nichtgenossenem Glück.“ Nach einem Besuch von Fiesole hat er am 1.8.1899 in Florenz noch notiert: „Und auch ich habe das Glück gekannt.“ Das kann sich auch auf die zuletzt genossene Kunst und Natur beziehen, diese Eindrücke hängen jedoch, wie Kessler häufig analysiert, alle mit innerem Gefühl, im Kunstwerk ausgedrückt oder in der Natur empfunden, zusammen. Das individuelle Gefühl war auch schon in Band 2 ein Thema, dort noch unabhängig von Kunst oder Natur. Der sehr aktive Gesellschaftsmensch Kessler und sein eigenes fast immer schamhaft verborgenes inneres Gefühl, dieser Kontrast ist das Fesselndste an seinen Aufzeichnungen. Bezeichnend ist, wenn Kessler am 30.9.1897 wegen seines Umzugs für eine Nacht ins Hotel geht und sich nun „sehnsüchtig schmerzensvoll“ daran erinnert, wie er dort früher mit seinem Offiziersfreund Dungern abgestiegen war. Jetzt ist von „alten Wunden“ die Rede. Von jenen Konflikten findet sich in den damaligen Aufzeichnungen jedoch keine Spur.
Im Frühjahr 1899 scheint er länger krank gewesen zu sein – woran litt er, welche Art von „Kur“ meint er am 5.5.1899? Wir erfahren es nicht. Zeitweise fällt in Kesslers Tagebuch eine erhöhte Reizbarkeit gegen andere auf, die vielleicht mit eigenem Triebverzicht und rigoros unterdrücktem Gefühlsausdruck zusammenhängt. Er nimmt Notiz von der gesellschaftlichen Ächtung, die dem Prinzen Aribert von Anhalt oder dem jüngeren Grafen Eulenburg aufgrund ihrer Homosexualität widerfährt, enthält sich jedoch jeden Kommentars aus persönlicher Sicht. Jahre später umkreist er in London sehr allgemein das Thema und kommt zu einer mühselig konstruierten theoretischen Rechtfertigung. Im Kessler-Tagebuch von 1901 fallen relativ lange Zeiträume auf, in denen er nichts notiert hat und wofür eine Erklärung nicht immer ersichtlich ist. Rätselhaft sein Eintrag vom 24.6.1901: „Früh aus London fort nach Ostende. Mit Bedauern. F. M.“ Sind dies Initialen eines Personennamens? Im selben Jahr findet sich noch ein Verweis auf seelisches Leid in der Vergangenheit, das seinerzeit nicht thematisiert wurde. Jetzt am 25.9.1901 liest man, als Kessler wegen einer Militärübung seine alte Potsdamer Wohnung noch einmal für kurze Zeit mietet: „Als ich die Zimmer wieder betrat, drohten alte Gefühle wieder hervorzubrechen. Jahre, Wandlungen. Alles verflogen.“
In London notiert Kessler 1903 interessiert, was er von einem Maler über die Homosexualität britischer Künstler und Schriftsteller erfährt. Zwischen seinen Zeilen kann man hier, wie schon bei früheren Berliner Skandalen, eine Spur von Häme herauszulesen. Er selbst geht während seiner London-Aufenthalte häufig zu Boxturnieren und bewundert die Körper der Kämpfer. Er ist von ihrem Anblick fasziniert und bevorzugt einzelne unter ihnen. Er vergleicht sie mit seinen Lieblingsplastiken aus klassischer griechischer Zeit. Wieder einmal fragt man sich, inwieweit Kesslers Kunstinteresse Surrogatcharakter hat.
Der rein private Kessler äußert sich auf diesen fast achthundert Seiten kein zweites Mal so offen wie am 24.5.1902 nach einem Besuch in Ascot: „Zum ersten Mal nach 20 Jahren meine alte Schule in Ascot besucht … Nicht ein Bild hat sich mir durch meinen Besuch verwischt oder verändert. Die Gemütsbewegung war aber, namentlich in den ersten Augenblicken, sehr stark. Ascot, und Potsdam im Sommer 93 und 94, sind die beiden glücklichsten Erinnerungen meines Lebens. Alles Andere, selbst Bonn und Leipzig, ist dagegen wie fremd und Nichts. Und doch habe ich gerade in Ascot und Potsdam vielleicht die heftigsten und intimsten Schmerzen durchlebt. Aber ich würde alle ungetrübten und selbst die seligsten Stunden meines Lebens darum hingeben, um noch einmal diese gemischten Schmerzen und Freuden durchzukosten. Und ich wünsche mir, dass in der Todesstunde diese Bilder mir vor Augen steigen. Durch Virginia Waters dann den alten oftgegangenen Weg nach Windsor gegangen. In Eton beim Anblick der leichtbekleideten flinken Jungen noch einmal Etwas vom selben Gefühl.“
Von Ascot über Potsdam nach Weimar … und dazwischen das Athen des 5. Jahrhunderts … und Franz von Assisi … und endlich die Neoimpressionisten: ein weiter Weg und Weimar nur längere Zwischenstation auf der Lebensreise.
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