ArnoAbendschoen
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718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 19.08.2019 um 17:28 Uhr |
"Mir fehlt ein Wort", titelte Tucholsky 1929. Neunzig Jahre später mangelt es mir nicht nur an e i n e m Ausdruck. Für einen flüssigen Stil, um Wiederholungen zu vermeiden, benötige ich oft Synonyme. Es gibt ein spezielles Wörterbuch zum Nachschlagen – für mich hatte es dieses Lexikon gegeben, es ging letztes Jahr beim Umzug verloren. Seitdem zergrübelte ich mein Hirn auf der Suche nach sinnverwandten Begriffen. Inzwischen ist schon der nächste Wohnungswechsel in Sicht. Das vermisste Wörterbuch wird nicht mehr mit einzupacken sein, dachte ich. Aber dann …
… kommt lang ersehnte Post vom Notar Dr. X. Darüber will ich die Bergmanns informieren, die es interessieren könnte. Frau Bergmann erwähnt am Telefon, dass sie und ihr Gatte demnächst Urlaub im Tessin machen, in Rasa. In mir klingt etwas nach. Bin ich da nicht mal gewesen? Aber wann und unter welchen Umständen? Liegt das nicht bei Intragna, frage ich Frau Bergmann auf gut Glück. Sie bestätigt es mir sogleich. Ich steige in ihrer Achtung als der bislang einzige Bekannte, dem Rasa etwas sage. Aber ich verbinde damit noch nichts, höchstens Tabula rasa.
Die gute Buchhaltung meines Lebens zahlt sich aus. Ich finde anhand alter Aufzeichungen heraus: Vor achtunddreißig Jahren bin ich mit Max von Ascona über die Berge nach Palagnedra gegangen. Es ist feucht-kühl gewesen, fällt mir ein, damals im Oktober. Bei Google Maps entdecke ich Rasa als winziges Dorf dazwischen. Ich erinnere mich an die verlassenen alten Häuser, an ein kleines Grotto ohne Gäste, in dem wir Grappa getrunken haben. Die Wirtin, damals schon greisenhaft, lebt sie noch? Was Max heute so treibt, weiß ich nicht. Das Leben hat uns …? – Weiche von mir, Phrase!
Welche Pfade mögen wir damals gegangen sein, vor und hinter Rasa? Es gibt einen großen weißen Karton, in dem ich, zu sentimental, um sie zu entsorgen, meine Sammlung alpiner Wanderkarten noch immer aufbewahre. Ich werde sie nie mehr brauchen. Das Blatt Locarno – Lugano endet vor Rasa – abgeschnitten, ein bisschen wie Teile meiner Vergangenheit. Aber dann mache ich doch eine freudige Entdeckung: zwischen den Karten, seinerzeit unsystematisch gepackt, das Wörterbuch der Synonyme! Es allein wird mich künftig noch weiterbringen. Apropos freudige Entdeckung – wie abgenutzt, banal! Ich schlage zu freudig nach und erhalte: erfreut, freudevoll, beseligt, heiter, munter … Und Entdeckung führt zu Feststellung, Enthüllung, Fund. Ich setze also zusammen: freudevoller Fund – und rufe mir ins Gedächtnis, was Italo Svevo formulierte: "Außerhalb der Feder gibt es kein Heil."
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