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Literaturforum: Edmund White - Abschiedssymphonie


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 Thema: Edmund White - Abschiedssymphonie
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 22.02.2019 um 22:34 Uhr

Der dritte Teil von Whites autobiographischer Romantetralogie umfasst gut 700 Seiten, mehr als die beiden Vorgängerbände („Selbstbildnis eines Jünglings“, „Und das schöne Zimmer ist leer“) zusammen. Das 1997 erschienene Werk verarbeitet Lebensstationen und Begegnungen des Autors von der Mitte der 1960er Jahre bis etwa 1995. Die Schauplätze: New York, Paris, Rom, Venedig, mit Abstechern ins Innere der USA (Chicago, Texas, Ohio). Es zeichnet den erst sehr langsamen, mühseligen, schließlich rasanten Aufstieg Whites zum neben Gore Vidal und Truman Capote erfolgreichsten amerikanischen homosexuellen Prosaschriftsteller des 20. Jahrhunderts nach. In Einschüben erfahren wir von den weiteren Schicksalen der Mutter, des Vaters, der Schwester und lernen nun noch den Neffen und die texanischen Verwandten der Mutter kennen. In erster Linie ist es jedoch eine romanhafte Sexualautobiographie. White spricht selbst von seiner „exhibitionistischen Schriftstellerei“. Aus der Fülle der zahllosen intimen Begegnungen ragen hervor als zeitweilige Hauptpersonen im Leben des Erzählers: Sean – Kevin – Leonard – Fox – Ned – Hajo – Brice. Jeder von ihnen wird als sich scharf von allen anderen abhebendes Individuum präsentiert und führt noch zusätzliches Personal in die Handlung ein. Ihnen allen steht eine Gruppe literarischer schwuler Größen gegenüber: Butler – Max – Joshua – Eddie. Diese bilden untereinander und mit dem Erzähler ein Netzwerk, trotz aller Sympathien nicht frei von Egozentrik und Eifersüchteleien. Auch ihre Partner werden vorgestellt mit charakteristischen Zügen und individuellen Schicksalen. An Frauen werden in diesem Teil des Opus neu eingeführt die New Yorkerin Christa und die Römerin Tina. In kleinen Nebenrollen treten unter ihrem wahren Namen einige Prominente auf, z.B. Tennessee Williams und Michel Foucault.

White konnte, was den Stoff betrifft, tatsächlich aus dem Vollen schöpfen. So zum Bersten angefüllt die eigene Biographie, so erregend das Auf und Ab der allgemeinen Entwicklung seinerzeit. Der Erzähler erlebt das New York um 1970/80 als den Schauplatz einer weder jemals vorher noch später je wieder erreichten kulturellen Blüte, jedenfalls nicht in der modernen westlichen Welt. Das seine eigene sexuelle Minorität speziell Betreffende fasst er so zusammen: „Ich fand, noch nie war eine Gruppe einem so rapiden Entwicklungsprozess ausgesetzt gewesen – unterdrückt in den fünfziger Jahren, befreit in den Sechzigern, himmelhoch jauchzend in den Siebzigern und ausgelöscht in den achtziger Jahren.“ Aids wird gegen Ende des Romans das beherrschende Thema. Ein Großteil sowohl seiner Schriftstellerkollegen wie seiner Liebhaber stirbt daran. Er selbst – und das ist rein autobiographisch – lebt mit dem HIV-Virus weiter. Er wirft skeptische Blicke auf die Gegenwart der neunziger Jahre und findet: „Die Kategorie der allgemeinen literarischen Prosa verschwand, und ihr Verschwinden zeigte, dass die neue multikulturelle Strömung weniger eine allgemeine Konversation war als miteinander konkurrierende Monologe.“ (An diesem Befund hat sich seitdem nichts geändert, die Tendenz ist sogar noch augenfälliger geworden.) Sein Trost wie seine Hoffnung sind dennoch rein literarisch. Als er Joshuas hinterlassene Habseligkeiten in Venedig wegwirft, formuliert er den letzten Satz des Werks so: „Von Joshuas Geist fand sich in diesen Dingen nicht mehr als von unserem Virus; sein Geist wohnte in Eddies Zeilen und auch, so hoffte ich, in meinen.“

Ein Riesenprojekt wie dieser Roman kann heute vielleicht nur noch partiell gelingen. Whites Prosa mag den Leser auf vielen Seiten begeistern. Seine Gestalten wie Situationen sind über lange Abschnitte reine Lesefreuden. Seine Analysen sind hellsichtig, bestechend. Und doch hat das Buch verdientermaßen auch negative Kritiken bekommen. Seine Schwächen seien nicht verschwiegen. Sie scheinen mir aus der Verbindung von Romanform mit erzählter Autobiographie herzurühren. Für einen Roman ist die Struktur oft zu wenig verdichtet. Weniger Figuren hätten noch größere Plastizität schaffen können. Dem Autor, sich beim Schreiben erinnernd, ist manches wichtig, das dem Leser keinen Nutzen bringt, weder ästhetisch noch an Erkenntnis. Nur ein kleines Beispiel dafür: Der Erzähler fliegt nach Ohio zur Bestattung seines Vaters und beschreibt ihren Verlauf sehr plastisch. Doch zuvor müssen wir ausführlich von einem verpassten Abflug in New York lesen und sogar, dass beim alternativen Flug die Airline sich als kulant erwies. Diese vorgeschalteten banalen Details mindern den Wert der großartigen Bestattungsszene, indem sie sie unnötig ein wenig in den Schatten stellen.

Der Ich-Erzähler und der Autor White sind sich also erkennbar näher als für einen rundum gelungenen Roman passend. Ersterer äußert sich zum Schluss hin zu Zeitfragen gelegentlich so prosaisch nüchtern und schlicht, wie es allenfalls Letzterem in einem Zeitungsinterview erlaubt wäre. Auch der Aufbau des Werks enttäuscht insofern, als es zu Beginn sich einzupendeln scheint zwischen Pariser Erinnerungen an den jüngst verstorbenen Brice und frühen Episoden aus New York – dann aber Brice so gut wie aus den Augen verliert, bis auf eine eher pflichtgemäß erscheinende Episode in der Buchmitte, und erst am Ende allzu kurz zu ihm zurückkehrt. Brice ist tot und der Erzähler resigniert: „Ich kann nicht weiterschreiben. Ich kann seine Geschichte nicht erzählen, weder ihren glücklichen Anfang noch ihr tragisches Ende …“ So konstruiert trägt die Brücke nicht die Stoffmassen dazwischen.

Dennoch: Bei aller verdienten Kritik ist Whites Tetralogie für den Kanon großer autobiographischer Romane des 20. Jahrhunderts durchaus geeignet. Der Autor hat sich und die Urbilder seiner Figuren dafür nicht geschont, und der potentielle Leser sei zugleich ermuntert wie gewarnt. New York um 1975, das war eine ebenso produktive wie problematische Mischung aus Entfesselung, Kreativität und Verfall. Whites Werk spiegelt es getreulich wider. Er selbst zitierte 2015 in einem Interview Voltaire mit diesem Satz: „Den Lebenden schuldet man Respekt, aber den Toten schuldet man nichts als die Wahrheit.“

(Zitate aus dem Roman nach der Übersetzung von Benjamin Schwarz)

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