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Der reife Doderer als Ruinenbaumeister
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Autor
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Thema: Der reife Doderer als Ruinenbaumeister
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 28.05.2018 um 15:24 Uhr |
Wie ein jeder so hat auch Doderer sich sein Geburtsjahr nicht ausgesucht: 1896! Er war hineingeboren in eine der reichsten Familien der Donaumonarchie - doch mit der Reifeprüfung kam der Erste Weltkrieg und das Studium musste schon 1915 unterbrochen werden. Doderer hat zwei Weltkriege als Soldat mitgemacht und war zweimal in Gefangenschaft. In der Zwischenkriegszeit bekam er materiell keinen Fuß auf den Boden, blieb abhängig von der Familie, deren Vermögen zusammengeschmolzen war. Hungerjahre nach dem Zweiten Weltkrieg, Wiederaufnahme seiner Romanprojekte und ab etwa 1950 der rasche, steile Aufstieg zum Nationalschriftsteller der zweiten österreichischen Republik schlechthin. Ein respektabler Lebenslauf, eine bewundernswerte Lebensleistung!
Doderer baute in seinen Romanen detailreich wieder auf, was ab 1914 in einem Abgrund verschwunden war, doch nicht als Idylle, auch nicht als bloß realistisches Erinnerungsbild. Sein Werk ist das literarische Abbild alteuropäischer Zivilisation und zugleich die Darstellung ihrer Brüche und ihres Absturzes. Wie sehen eine Welt, die dabei ist, sich in eine Ruinenlandschaft zu verwandeln. Doderer beschwört so das Untergegangene als voll existent herauf und zerstört es gleich wieder, ein ewiges Österreich, ewig in seinem Untergang begriffen. Dabei verstärkt er die Wirkung, indem er häufig Episoden von vor und nach dem Ersten Weltkrieg verklammert.
Das Grundmuster von Willkommen und Abschied taucht bereits in ersten oder letzten Sätzen seiner Romane auf. „Die Dämonen“ endet auf Seite 1345 mit einer Abschiedsszene auf dem Wiener Westbahnhof. Der Erzähler beendet seinen Bericht und damit den Roman insgesamt so: „Mir war in diesen Augenblicken, als sollte ich weder sie, noch irgendjemand von der Gruppe, die mit erhobenen Armen und winkenden Tüchlein auf dem sonst fast leeren Bahnsteige stand, jemals im Leben wiedersehen.“ Noch deutlicher der Anfang von „Die Strudlhofstiege“: „Als Mary K.’s Gatte noch lebte, Oskar hieß er, und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren) …“ Der erste Satz stellt uns sogleich eine der Hauptpersonen vor, eine schöne und sympathische junge Frau, und verweist im selben Atemzug auf deren Teilverstümmelung, mit der später die Handlung kulminieren wird.
Es ist also bei Doderer ganz überwiegend von privaten Schicksalen die Rede, in denen sich gleichsam das Unglück des Gesamtstaates widerzuspiegeln scheint. (Nur ausnahmsweise thematisiert er z.B. den Brand des Wiener Justizpalastes 1927 in „Die Dämonen“ oder Kriegsgefangenschaft in Sibirien in „Der Grenzwald“.) In seinem letzten vollendeten Roman „Die Wasserfälle von Slunj“ ist von „Zerfall“, von „Depression“, vom Tod durch „Auszehrung“ und viel vom Schweigen die Rede. Auch damit sind private, nicht öffentliche Kalamitäten thematisiert. Den Rahmen des Werks bildet die Geschichte der Wiener Filiale einer englischen Landmaschinenfabrik zwischen 1877 und 1910. Die Firma prosperiert ununterbrochen, hat Märkte in der Donaumonarchie, auf dem gesamten Balkan und im Vorderen Orient. Clayton Vater und Clayton Sohn leiten sie seit etwa 1900 gemeinsam. Um sie herum gruppiert sich das weitere Personal des Romans aus Industrie, Handel und hoher Beamtenschaft. Es ist viel von Karriere, von Erfolgen an Schule und Hochschule die Rede, nie von Politik. All das fehlt vollständig: die Nationalitätenkonflikte im Innern, die Blockaden des Regierungsapparates, die Kriegsgefahr von außen. Die Brüchigkeit dieser Wohlstands- und Luxuswelt zeigt sich fast ausschließlich auf dem Gebiet der erotischen und sexuellen Beziehungen – das ist die Hauptstörungszone. Der Erzähler zitiert dazu passend Goethe: „Die Poesie ist doch eigentlich auf die Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet.“
Zwei junge burgenländische Huren in Wien eröffnen den unguten Reigen. Doderer schildert, wie die Prostituierten Untermieter in einer Arme-Leute-Wohnung werden, und die Verhältnisse dominieren und korrumpieren. Die Freier bleiben anonym, gesichtslos. Die zwei Damen werden auf romanhafte Weise zurückverfrachtet aufs Land mit seinen mythischen Qualitäten. Doderer erweist sich hier als der Konservative, der er tatsächlich war. Wenn 1910 ein junger Budapester Stiefelfetischist auf das Gut mit den zufrieden altgewordenen Ex-Huren kommt, stellt er enttäuscht fest, dass dort gewöhnlich nur Männer Stiefel tragen.
Wien bleibt dagegen Wien, also problematisch. Der Juniorchef und sein Prokurist besuchen gehobene Bordelle, gründen keine Familien. Der Prokurist spielt als alter Mann mit der Eisenbahn seiner Kinderzeit, findet ein regredierendes Glück: „ … (es) fiel … der Knabe … ganz mit ihm zusammen.“ Unmittelbar davor hat er einen plumpen Verführungsversuch seiner Hausmeisterin durchkreuzt. Henriette Frehlinger, Gattin eines Chemiefabrikanten und eine Mrs. Robinson der Belle Époque, ist dagegen erfolgreich, sie vernascht einen Schulkameraden ihres Sohnes. Zdenko, so der Name des Gymnasiasten, realisiert danach seine Schwäche für reifere dicke Damen. Mama Harbach, ebenfalls Industriellengattin, begnügt sich damit, ihren Töchtern jede Partie zu vermasseln, indem sie sich in Gesellschaft zwischen sie und mögliche Aspiranten schiebt. Ihr Sohn Paul wird für längere Zeit der Geliebte einer reichen Witwe und lässt sich das Medizinstudium von ihr finanzieren. Immerhin wird er später eine Russow-Tochter (Getreidehandel) ehelichen, als beide schon in den Dreißigern sind. Es ist die einzig unkompliziert glückliche Verbindung und sie wird sehr knapp, fast lustlos abgehandelt. In Budapest wiederum spielt sich das Drama um jene Margot mit dem fürchterlichen Brandmal um die Hüften ab. Ihre Ehe wird nicht vollzogen, sie ergibt sich dem Männerhass, trägt wesentlich mit zu Donald Claytons Untergang bei.
Homoerotik kommt so diskret vor, dass sie übersehen werden kann. (Der Roman wurde 1959/60 geschrieben.) Jener Zdenko gründet mit zwei Mitschülern den elitären „Metternich-Club“. Alle drei sind vom Bild der Claytons angezogen, ohne sich darüber auszusprechen. Sie suchen deren Alltagswege zu kreuzen, imitieren ihre Gewohnheiten und kultivieren sich, indem sie sich insgeheim mit ihnen identifizieren. Kaum hat Zdenko Frau Frehlinger umfangen gehabt, weiß er: Die Zeit des Clubs ist für ihn vorbei.
Münsterer, ein junger Postangestellter gegen 1880, Stiefsohn eines Drachens von Hausmeisterin, ist auf Chwostik fixiert, dessen Aufstieg zum Prokuristen der Clayton-Firma gerade erst begonnen hat. Sein „Idol“ ist noch Mieter im Haus, Münsterer empfindet „Verehrung für Chwostik“ und verfeinert sich, ähnlich wie die Schüler des „Metternich-Clubs“, indem er den von fern Angebeteten imitiert. Auch Münsterer bleibt Junggeselle.
Die Claytons wirken nicht nur wie Brüder, sie handeln und empfinden beinahe auch so. Der Vater ist als Witwer jung geblieben, dynamisch, sein Sohn mit Anfang dreißig permanent unbeteiligt, beziehungsgestört, nur auf den Vater bezogen. Zwischen sie tritt die Ingenieurin Monica Bachler, die illegitime Tochter aus dem Verhältnis einer Zahnarztgattin mit einem alternden Richter. Sie nähert sich dem jüngeren Clayton, aber der geht im entscheidenden Moment nicht auf sie ein. Das besorgt dann sein Vater und aus dem Vater-Sohn-Brüderpaar werden Rivalen. Der Alte geht als Sieger hervor, der Jüngere treibt seinem Ende entgegen.
Doderer als Ruinenbaumeister? In „Die Wasserfälle von Slunj“ sind es die Ruinen erotischer und sexueller Beziehungen. Realisiert werden Bindungen allenfalls in Form von „Liebeskonserven“. Melancholisches Fazit des Erzählers: „Gerade die wichtigsten Sachen im Leben trennt der Mensch gerne von diesem ab.“
Werfen wir noch einen Blick auf die zwei Motivkomplexe, anhand deren die Handlung sich realisiert: WASSER und ABSTURZ. Ersteres präsentiert sich schon ganz zu Beginn in England, hier noch idyllisch-bukolisch mit einem „fast-stehend spiegelnden Flusslauf im Tale“. Hier lernt 1877 Robert Clayton seine Harriet kennen (die später an „Auszehrung“ sterben wird). Schon auf der Hochzeitsreise auf den Kontinent zeigt sich das Element weniger freundlich. Im Wiener Prater werden aus den Donaualtarmen Mückenschwärme lästig, es befremden Molche. Robert befällt ein „Gefühl von Trübsäligkeit“. Auf der Balkanrundreise werden im Kontakt mit Wasser die negativen Gefühle allmählich stärker, so beim Krebsfang an der Zirknitz und erst recht am Fuß der Wasserfälle von Slunj. Der Anblick in sie hineingebauter alter Mühlen war „das Schrecklichste an dem Katarakt“, wirkt „fast vernichtend“ auf die Jungvermählten. Wer will, mag darin eine Vorahnung vom Untergang der eigenen Familie wie der alteuropäischen Gesellschaft insgesamt sehen. Wie auch immer, Harriet scheint ihre Furcht in Form eines vorgeburtlichen Alptraums an Sohn Donald, ihr einziges Kind, weitergegeben zu haben. Sein nächtlich immer wiederkehrender Alp ist eine senkrechte Wassersäule, die ihn unter sich zu begraben droht. Im Weiteren bezieht die nach Wien verpflanzte Kleinfamilie eine Villa am Rand des Praters. Die im Keller aufsteigende Nässe wird von mächtigen Öfen in Schach gehalten, die ihrerseits auf Donald bedrohlich wirken. Als er später nicht zu Monica ins Schlafzimmer hinübergeht und sie dadurch verliert, regnet es gerade stark in Form einer „wahren Wasserswand“, einer „zerstörenden Wassermasse“.
Das Motiv Absturz taucht erstmals auf, als die frischverheirateten Claytons die Semmering-Bahn befahren und Robert von den Abgründen fasziniert ist – Harriet dagegen nicht. Monica stürzt als Kleinkind in den Donaukanal, wäre ums Haar ertrunken. Als sie viel später mit Robert eine Bergtour auf die Raxalpe unternimmt, hat dort kurz vorher „ein gewaltiger Bergsturz stattgefunden“. Zu Beginn seiner finalen Krise rutscht Donald auf einer fortgeworfenen Obstschale aus. So bereitet sich das Fatum hier Stück für Stück vor. Beide Motivstränge werden schließlich mit Donalds Absturz in den Wasserfällen von Slunj verknüpft. Zdenko, Augenzeuge des Sturzes, hat danach aus einiger Entfernung diesen Eindruck: „In tiefer Beruhigung stand der Ton der Fälle, von hier nicht mehr heulend, rauschend und zischend, sondern als ein einziger Orgelpunkt. Die gewaltige Bewegung des Wassers ward solchermaßen stehend, ein in sich gekehrter Donner, das Kommen und Gehen in einem, im Ohr ein Massiv aufrichtend, an dessen sonorer Ruhe all sonstiges klein vorüberging.“ Oder wie es ein Astrophysiker kürzlich ausgedrückt hat: „Wir sind so unvorstellbar unbedeutend.“
Auf diesen absolut vernichtenden Schluss folgt noch eine etwas freundlichere und leicht rätselhafte Coda. Chwostik, Donalds Reisebegleiter, will im Postamt von Slunj ein Telegramm aufgeben und findet dort – Zufälle gibt’s bei Doderer! – Münsterer hinter dem Schalter vor. Und so friedvoll schließt der Roman: „Er sah Münsterer lange an und blickte in dieses entwirrte und ruhig gewordene Antlitz, als läge hier der gelöste Knoten dieser letzten Zeit vor ihm zu Tage.“ Das könnte einen zu weiteren Untersuchungen und Spekulationen veranlassen, z.B. inwieweit Doderers letzter Roman auf Otto Weiningers Spuren wandelt. Doch halten wir hier lieber inne …
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