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Berlin 2018: Betteln extrem
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Autor
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Thema: Berlin 2018: Betteln extrem
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 11.01.2018 um 19:06 Uhr |
In diesen Tagen ist es in Berlin entweder trocken-kalt oder nass-kalt. Die Temperaturen pendeln meist um den Gefrierpunkt. Umso mehr fällt in der U 6 jetzt ein hochsommerlich gekleideter junger Mann auf. Er trägt kurze Shorts – die Knie nackt – und ein T-Shirt, dessen rechte Hälfte er über die Schulter hochgezogen hat. So präsentiert er seinen von massiven Brandverletzungen entstellten Rücken und den entmuskelten Stummel seines rechten Armes. Die Gliedmaße ist oberhalb des Ellenbogengelenks amputiert – der junge Orientale, Syrer oder Iraker vermutlich, könnte das Opfer einer Bombenexplosion sein.
Obwohl hochgewachsen, geht er gebückt und schlurfend durch die ganze U-Bahn, fortwährend bettelnd. Die neueren durchgehenden Züge erleichtern ihm das Vorankommen. Bei den älteren Wagen hat er Mühe, auf den Stationen rechtzeitig von einem in den anderen umzusteigen. Wenn es in der Stoßzeit schnell gehen muss und viele Fahrgäste gleichzeitig aus- oder einsteigen, läuft er Gefahr, als Letzter in der sich schließenden Tür eingeklemmt zu werden.
Er spricht keinen an, man weiß nicht, welche Sprache er spricht. Er weist nur kurz seinen Armstummel und die massiven, flächendeckenden Narben am Rücken vor. Obwohl er mit den Mitteln des Schocks arbeitet, scheint ihm nicht öfter gegeben zu werden als dem durchschnittlichen Bettler. Sein Anblick ist allzu schockierend. Wer ihn angesehen hat, wird ihn gerade deshalb nicht vergessen, wird noch lange grübeln – über eine Welt aus den Fugen. Was tun angesichts dieses Elends, das uns buchstäblich auf den Leib gerückt ist?
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Kenon
Mitglied
1488 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
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1. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 11.01.2018 um 20:58 Uhr |
Manchmal wünscht man sich in der Bahn, mit einem Auto unterwegs zu sein, um gleich im nächsten Moment wieder zu wissen, warum nicht. Man würde dieses Elend nicht sehen, und doch wäre es da. Das ist ähnlich wie keine Nachrichten zu konsumieren oder nicht in ein Kriegsgebiet zu fahren. Wir haben es fürchterlich gut; wenn wir unsere Ordnung aufgeben, droht uns auch ein solches Elend. Es ist nicht gut, dass es dies gibt, aber es ist gut, dass wir es sehen müssen, weil es nun einmal in der Welt ist.
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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2. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 11.01.2018 um 22:02 Uhr |
Ja, Kenon, du drückst das aus, was auch meine Einstellung dazu ist. Als Erwachsener darf man nicht so zartbesaitet sein - und schon gar nicht in Berlin -, dass man das nicht ertrüge. Anders mag es mit Kleinkindern sein, von denen in einem U-Bahnzug mit Hunderten Passagieren leicht auch ein, zwei Dutzend sein können. Gewaltdarstellungen sind ihnen nicht zuzumuten, dafür der Anblick der Opfer krassester Gewalt? Aber ich bin ja nicht Vater, es ist nicht meine Sache.
Nach meinem Eindruck ist die Prozedur für den jungen Mann stark erniedrigend und peinigend, das beschäftigt mich am meisten. Er ist doch ein hochgradiger Versorgungs- und Pflegefall und könnte erhebliche Ansprüche an den deutschen Staat haben, z.B. nach § 6 Asylbewerberleistungsgesetz. Warum dann noch betteln? Lebt er in Strukturen, die ihn benutzen? Wird er behördlicherseits nicht ausreichend betreut? Ja, ich weiß: sehr naive Fragen. Wir begegnen im öffentlichen Raum doch regelmäßig vor sich hindämmernden, stark verwahrlosten Individuen - und hoffen, dass sie nicht gerade im Augenblick unseres Vorübergehens das Zeitliche segnen. Und all das oft unter den Augen der Überwachungskameras in der "Hauptstadt der Herzen"! Da ist bei uns etwas gewaltig ins Rutschen gekommen.
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Itzikuo_Peng
Mitglied
242 Forenbeiträge seit dem 08.01.2011
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3. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 16.01.2018 um 13:08 Uhr |
Diese Nachricht wurde von Itzikuo_Peng um 13:48:43 am 16.01.2018 editiert
Zitat:
Wir haben es fürchterlich gut; ... Ja, das sollte man sich immer mal wieder bewusst machen. Bei mir ist es das Zwiegespräch mit dem Kassenzettel. Mag zwar jetzt kindisch rüberkommen, aber ich schaue mir oft meinen Kassenzettel an (Lebensmittel) und bin schlichtweg dankbar, dass ich mir das alles gerade kaufen konnte/durfte. Isso.
Miau
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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4. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 17.01.2018 um 11:48 Uhr |
Danke, Itikuo_Peng, für deine Anmerkungen. Mir ging es bei der Veröffentlichung allerdings primär nicht um die individuelle Verarbeitung des Eindrucks durch den Beobachter, sondern um zwei allgemeinere Perspektiven:
1. Was macht es mit einer Gesellschaft insgesamt, die sich an derartige Anblicke gewöhnt?
2. Ist eine derartige erbarmungswürdige Existenz unter uns mit Menschenwürde und Sozialstaatsprinzip vereinbar?
Vor ein paar Tage bin ich ihm erneut aus größter Nähe begegnet. Auch sein Gangbild ist fürchterlich, entweder aufgrund von Verletzung oder infolge der permanenten Fehlhaltung beim Betteln.
Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
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Kenon
Mitglied
1488 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
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5. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 18.01.2018 um 23:07 Uhr |
Wenn 8/10 Menschen so herumlaufen würden, fiele es nicht mehr auf. Weil es nicht so ist, hast Du Dein Erlebnis als extrem empfunden.
Menschenwürde muss jeder zuerst für sich für sich selbst definieren. Ich zum Beispiel sehe unter der Woche jeden Tag Junkies, die von ihren Dealern abhängen, die von der Polizei abhängen, die von Steuerzahlern abhängen, die von ihren Einkünften abhängen. Aus meiner Sicht scheint da vieles unter der Menschenwürde abzulaufen, aber es steht mir gar nicht zu, das zu beurteilen.
Ich habe auf Deine Fragen auch keine Antworten. Dem Bettler wäre nicht mit 50, 100 oder 1000 Euro geholfen. Geld hilft in solchen Situationen nicht, sondern bestärkt die Leute ja nur in ihrem Betteln. Wenn ich dem Bettler vor dem Supermarkt Geld gebe, steht er morgen wieder dort, weil es sich für ihn lohnt. Er kann überleben, sich meinetwegen auch seinen Drogenkonsum finanzieren, aber es bringt ihn nicht voran und in eine neue Situation, in der er ein besseres Leben führen kann.
Ein Artikel der Berliner Zeitung von bereits 1994:
Betteln in der U-Bahn ist alltäglich geworden
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