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Harry Graf Kessler - Ausstellung in Berlin
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Autor
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Thema: Harry Graf Kessler - Ausstellung in Berlin
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 26.05.2016 um 18:32 Uhr |
Den Namen hat man vielleicht einmal gelesen, doch wer kennt ihn schon näher? Diesem Mangel kann die jetzt im Liebermann-Haus am Brandenburger Tor eröffnete Ausstellung abhelfen. Vorab Lebensdaten in Kürze: Geboren 1868, Vater ein Hamburger Bankier, Mutter eine irische Baroness. Studium von Jura und Kunstgeschichte. Ab 1895 Redakteur bei der Kunstzeitschrift PAN, von 1903 – 1906 Leiter des Museums für Kunst und Kunstgewerbe in Weimar. Von 1913 – 1931 Verleger der bibliophilen Cranach-Presse. 1933 Emigration. Starb 1937 mittellos in Frankreich. Kessler war Mäzen und Kunstsammler, schrieb vor allem Aufsätze zu Kunst- und politischen Themen, ferner eine Walther-Rathenau-Biografie. Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach, darunter seine Tagebücher von 1880 – 1937. Letztere erscheinen komplett in neun Bänden seit 2004 bei Klett-Cotta.
Die Ausstellung widmet sich den verschiedenen Aspekten von Kesslers Leben und Werk auf intelligente, detailreiche und gut gegliederte Weise. Das Erdgeschoss ist vor allem dem Kunstkenner und –förderer Kessler gewidmet. Wir sehen nachgebildete Interieurs, Möbel, Bilder und Plastiken. Kesslers Anliegen war Lebensreform durch Kunst. Er war konservativ in seiner Prägung durch die Antike und zugleich progressiv, indem er der neuesten Malerei und Bildhauerei den Weg ebnete. Für ihn war das nur konsequent, kein Widerspruch. Er besaß noch ein idealisierendes Bild der Welt der alten Griechen und fand von ihnen mühelos zu van de Velde, Munch, Seurat oder Maillol. Das Sinnliche war für ihn Hauptkriterium für gelingende Kunst wie für gelingendes Leben.
Das Schwergewicht der Ausstellung liegt im Obergeschoss. Hier werden die Tagebücher vorgestellt, nicht nur die originalen Bände, sondern vor allem Textauszüge, vorgelesen in einer Reihe von separierten Bild- und Videoinstallationen. Man gewinnt so einen ersten Eindruck von jenen sagenhaften 15.000 Seiten mit ihren gut 12.000 Personen. Kessler reiste viel – quer durch Europa, Amerika und Asien - und war mit einem Großteil der damaligen kulturellen und gesellschaftlichen Elite bekannt. Seine Beobachtungen und Reflexionen zeugen von weitem Horizont, scharfem Blick und gedanklichem Tiefgang. Seine Sprache ist klar, schnörkellos. Er selbst spielt in diesen 57 Bänden nur eine Nebenrolle. Er sog alles von Außen Herantretende auf, um es in Sprache, in Erinnerung zu verwandeln. Ihn beschäftigten Zeitfragen, die auch die unseren sind: Wie kann individuell erfülltes Leben unter den Bedingungen der Moderne stattfinden? Welche Rolle spielt die permanente Dynamik der Lebensprozesse? Die Tagebücher waren nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, sondern als Materialsammlung für spätere Romane oder eine Autobiografie gedacht. Dass diese nicht geschrieben wurden, ist kaum zu bedauern, so gedanklich profund und sprachlich schön wie jene zu sein scheinen. Als kritisch analysierender Chronist einer Epoche nimmt er eine Position irgendwo zwischen Saint-Simon und Proust ein, noch viel zu wenig gewürdigt in seinem, unserem Land.
So vorzüglich die Ausstellung ist – sie macht neugierig auf bedeutend mehr. Es liegt ja bereit.
(Dauer und Ort der Ausstellung: Bis 21.8.16 täglich außer Dienstag, Pariser Platz 7, neben dem Brandenburger Tor.)
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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1. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 17.08.2016 um 10:41 Uhr |
Hinweis: Die Ausstellung wurde bis einschließlich 25. Sept. 2016 verlängert.
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Kenon
Mitglied
1482 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
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2. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 18.08.2016 um 09:21 Uhr |
HGK war sicherlich eine interessante Person. Mir ist sie zuerst in einer Johannes R. Becher-Biographie "begegnet", sie war ja zeitweilig Bechers Mäzen.
Die Webseite zur Ausstellung:
http://www.hgkberlin.de
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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3. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 18.08.2016 um 20:58 Uhr |
Mehr als interessant, Kenon. Zzt. lese ich Band 2 seiner Tagebücher (1892-1897). Was mich jetzt am meisten fasziniert, sind nicht seine zahllosen Verbindungen zu Tausenden von mehr oder weniger bedeutenden Personen, nicht seine Umtriebigkeit und Allgegenwart - es ist die persönliche Tragik. Wie konnte ein Mann mit derart glänzenden Voraussetzungen so umfassend scheitern, in fast all seinen Aktivitäten?
HGK thematisiert in seinen privaten Notizen fast nie die eigene Befindlichkeit. Die Privatperson verschwindet weitgehend in einem Nebel aus gesellschaftlichem Trubel und betont sachlichen Interessen. Um so fesselnder der Versuch, aus selten Herausbrechendem ein Charakterbild zu gewinnen. Meine Hypothese: Mäzenatentum, gesellschaftlicher Snobismus und Intellektualität, all das sind bei ihm Anzeichen eines zwangsläufig scheiternden Versuchs, sich selbst mit Hilfe von lauter Surrogaten zu verwirklichen.
Arno Abendschön
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Kenon
Mitglied
1482 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
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4. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 19.08.2016 um 00:23 Uhr |
Mich hat es auf jeden Fall überrascht, dass mir der Kessler in der Berliner U-Bahn auf einem vermutlich recht passend gewählten pinken Poster wiederbegegnet ist - erstaunlicher noch, dass die Ausstellung verlängert wurde. Auf der Webseite zur Ausstellung wird das späte Interesse an HGK so erklärt:
Zitat:
Kesslers Tagebücher lagen in Teilen über 50 Jahren unentdeckt in einem Banksafe – sicherlich auch ein Grund dafür, warum die Rezeption Kesslers relativ spät einsetzte.
@Selbstverwirklichung
Ich kenne Kessler zu wenig und kann nur allgemein sprechen:
Kunst (hier gern im weiteren Sinne) ist oft ein Ersatz für nicht gelebtes Leben. Die Zufriedenheit, die einem innerlich fehlt, wird man aber äußerlich nie erlangen; daher sind alle Menschen, die ihr Glück von einem Publikum oder auch nur dem Schaffen an sich abhängig machen, tragische Menschen. Sie werden auf dem gewählten Weg nie erreichen, was sie sich eigentlich ersehnen - höchstens kurze Betäubungen, die dann immer wieder erlangt werden müssen. Von daher ist es eigentlich egal, ob HGKs Aktivitäten / Projekte scheiterten: Sie hätten - menschlich gesehen - immer nur Scheitern sein können.
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