ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 02.11.2014 um 19:03 Uhr |
Seit Tagen gehe ich wieder meinen Band mit Schnitzlers Erzählungen durch. Ich habe sie sehr lange nicht mehr in der Hand gehabt, sie überhaupt nur einmal gelesen. Die besten von ihnen, wie "Leutnant Gustl" und "Fräulein Else", waren mir im Kern präsent geblieben. Dennoch staune ich nun: Das ist eine Welt von großer Geschlossenheit und Morbidität. So wenige Themen, wie besessen immer aufs Neue umkreist: die Ambivalenz der Gefühle, verwünschte, verhexte Paarungen, der Tod, insbesondere der von eigener Hand. Allein die Novelle vom blinden Geronimo fällt aus diesem Rahmen von Dekadenz und Ende. Sie scheint um den beglückenden Bruderkuss des Endes herumkonstruiert. Geronimo küsste ihn auf die Lippen, so heißt es. Und Leutnant Gustl brachte sich am Ende doch nicht um, das Weiterleben fiel ihm zu wie ein unverdientes Geschenk. Ein sehr gemischter Charakter, dieser Gustl: schwach und stark, dumm und hellsehend, brutal und zartfühlend. Und welchen Inhalt hatte jener Brief eines Mannes an ihn, den er vor seinem geplanten Selbstmord noch vernichten wollte? Er hätte den Absender schwer kompromittiert, wäre er gefunden worden … Auch diese Überlegung beweist: Der Leutnant war gar nicht so hohl, wie ihn manche Leser fanden. Man kann in dieser sympathischen Regung auch den Wunsch erkennen, sich noch nicht von allem zu lösen. Hierin berührten sich im Übrigen der Leutnant und Else, die ja, wie ein findiger Kopf herausfand, wohl mit Absicht nicht so viel Veronal geschluckt hatte, als dass sie daran hätte sterben können.
Bei Schnitzler fehlt die sonst so häufige Opulenz der Äußerlichkeiten, der Landschaft, des Wetters, der Großstadt, der Ausstattung der Wohnungen oder der Kleidung. Hier gibt es nur die notwendigen technischen Details, damit die Seelenlandschaft sich ausbreiten, der Seelenroman abrollen kann. Es ist zwar die Welt der vorletzten Jahrhundertwende mit ihrer Ahnung tiefer innerer und äußerer Krisen, und nun ist die nächstfolgende auch schon vorbei. Doch unsere Gegenwart ist nicht so grundverschieden von jener Vergangenheit. Sie weist vielmehr erstaunlich und bedrohlich viele und große Übereinstimmungen mit ihr auf. In beiden Fällen, zu beiden Zeiten rasanter technischer und materieller Fortschritt bei innerer Öde und Verzweiflung. Grassierender Luxus und grassierende Verelendung. Mächte, die alles durchdringen wollen. Ein gespaltenes kollektives Weltbild, in dem sich Omnipotenzphantasien mit apokalyptischen Visionen durchkreuzen.
"Die Städte kennen nur das ihre und reißen alles mit in ihren Lauf …" Auch Rilke zum Beispiel ist durchaus nicht von gestern.
Also wieder Reformismus, Vegetarismus, Nudismus und Rechtschreibreform, wieder neue Balkan- und Orientkriege und Rettung der Welt durch Radfahren. Wieder eine Handvoll Großmächte, die der ganzen Welt ihre Regeln aufzwingen und selbst doch nur die Oberfläche sehr partikulärer Interessen sind. Zwischendurch und schon wieder vorbei die Vorstellung vom ewigen Frieden, vom Ende der Geschichte, wenn nicht bei Königgrätz, dann 1989. Noch einmal das absolute Primat des Wirtschaftens, der ökonomischen Rationalität, bei deren Anwendung dann allerdings schwerste Fehler unterlaufen. Man muss nur wenige Namen und Begriffe auswechseln: für England Amerika, für Japan China, für Pfund Dollar, für Zivilisation Menschenrechte. Die Geschichte wiederholt sich in einer Spirale, die eher abwärts oder seitwärts als aufwärts führt, vom verkrusteten Klassen- oder Ständestaat über Emanzipationen zur Demokratie oder einer Chimäre in dieser Art, dann durch Krisen zu autoritären Systemen und nach Kriegen zu Restaurationen und neuer Prosperität, und alles endet vorerst noch nicht in diesem grell geschminkten Neoimperialismus von heute: sondern vielleicht erst in künftigen, nun doch alles auslöschenden Kriegen. Auch das würde eine Art Ende der Geschichte sein - und es macht besorgt, dass die Vorstellung der selbst verschuldeten Apokalypse heute weniger aufzuwühlen scheint als noch vor dreißig Jahren.
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