ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 22.10.2013 um 10:33 Uhr |
Ob der Leser zum Erstling „Schau heimwärts, Engel“ oder dem posthumen „Es führt kein Weg zurück“ greift, er wird sich bald fragen, in welchem Umfang der ausgebreitete Stoff autobiographisch ist. Dass authentisches Material verarbeitet wurde, kann man aus Vielem schließen: der Überfülle geradezu fotografisch anmutender Details, dem Umkreisen einzelner Figuren, an deren Seelenzergliederung der Autor sich förmlich abarbeitet, und, nach Kenntnis auch nur eines bescheidenen Lexikonartikels über Wolfe, an den offensichtlichen Parallelen im Lebenslauf der beiden Helden Eugene Gant und George Webber zur Vita ihres Schöpfers: Südstaatenherkunft, Schriftstellerexistenz, Europareisen, Wohnung in Brooklyn, Bruch mit dem bisherigen Verlag usw. Man würde gern einen Blick auf die übrigen Vorbilder und ihre Wege werfen, gerade auch aus Interesse am Autor selbst und seiner Arbeitsweise. Vielleicht erfährt man dann etwas darüber, warum der frühe Roman verdientermaßen ein so großer Erfolg wurde und der nachgelassene so viel schwächer wirkt. Gab es einen Wechsel in der Methode?
Beginnt man einen Auswahlband seiner Briefe zu lesen, etwa „Eine nicht gefundne Tür“, verdichtet sich bald der frühere Eindruck. Man stößt auf die familiäre Konstellation, die einem aus dem ersten Roman bereits vertraut ist. Die Vorbilder der Figuren sind kenntlich, zumal die Mutter, die Geschwister. Zwei schon tote Brüder tragen als Romanfiguren sogar ihre wahren Namen: Ben und Grover. Jahre vor Niederschrift des Werks beschreibt er seiner Mutter eine Szene, die sich nach Bens Tod beim Leichenbestatter abgespielt hat und die er für erinnerungs- und gestaltenswert hält. Er hat die Episode später eins zu eins in den Romantext übernommen.
„Look Homeward, Angel“, 1929 erschienen, war sogleich eine literarische Sensation und verkaufte sich, selbst im Ausland, hervorragend. Man las das Buch natürlich auch in Asheville, North Carolina, und erkannte sich und die Kleinstadtgesellschaft wieder. Wolfe hatte dem vergeblich mit klug ausweichender Vorrede vorzubeugen versucht, der Kritiker einer örtlichen Zeitung sah darin nur „geschickte Phraseologie“. Verstimmt reagierten auch langjährige Freunde wie etwa Margaret Roberts, deren Gatte die von Wolfe besuchte Privatschule betrieb. Von nun an begleiten ihn bis zu seinem frühen Tod 1938 der Argwohn, der Vorwurf, sich beim Schreiben seiner Romane allzu eng ans reale Leben angelehnt zu haben. Wolfe wird in Prozesse verwickelt, eine frühere Zimmerwirtin erstreitet sich in einem Vergleich eine kleine Summe.
Wolfe verteidigt sich immer wieder, streitet ab, stellt – aus seiner Sicht – richtig, widerspricht sich gelegentlich und erkennt den Sachverhalt in Briefen an seine Lektoren doch bis zu einem gewissen Grad an. Im Kern handelt es sich um zwei verschiedene Perspektiven, auf der einen Seite die des einzelnen Lesers, der sich ohne sein Einverständnis dargestellt findet, und zwar nicht genügend wohlwollend, und der sich an Abweichungen und Übertreibungen reibt – und auf der anderen die des Autors, für den alles Erlebte und Gesehene nur Rohstoff ist, den er formen kann. Das ist der Grundkonflikt zwischen Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit. Er ist nicht aufzulösen, nur zu begrenzen. Wolfe jedoch versucht in seinen weiteren Büchern einen Ausweg ins große Ganze, ins Allgemeingültige. Nicht mehr Asheville oder New York allein, nein, das große, weite Amerika oder gleich die ganze Welt, alles will er in Zukunft in seinem Werk widerspiegeln und erklären. Der universale Kunstanspruch soll also den lokalen kleinkarierten, persönlich gemeinten Einspruch verstummen lassen.
Hier eine kleine Auswahl von Wolfes Äußerungen über seine späteren Absichten:
„Ich nehme an, Du verstehst jetzt, dass mein Streben, stets nur über das zu schreiben, was ich kenne, seine Wurzeln darin hat, dass niemand über etwas Besseres als hierüber zu schreiben vermag; und: dass man, wenn man die Hintergründe des eigenen Lebens sorgfältig genug erforscht und mit allem, was man erlebt, verglichen hat, eines Tages vielleicht herausfindet, wie es um die ganze Welt steht.“ ( An die Mutter, 31.8.1934)
„ … es ist bei weitem das objektivste Buch, das ich je geschrieben habe, dabei aber natürlich wie alle Bücher, die etwas taugen, aus meinem Erleben heraus geschrieben, aus den Erfahrungen und Entdeckungen, die ich im Lauf meines Lebens gemacht habe.“ (Über ein weiteres Romanprojekt an den deutschen Verleger Ledig-Rowohlt, 10.6.1936)
„Ich beabsichtige, meine Erfahrungen restlos auszunützen – sie in dieses Buch zu verströmen, sie bis aufs letzte auszupressen und herauszuholen, was des Herausholens wert ist. Es soll mein objektivstes und zugleich – gerade deswegen – mein autobiographischstes Buch werden.“ (An seinen letzten Lektor Edward C. Aswell über „You can’t go home again“, 14.2.1938. Am Ende dieses Briefes formuliert er sein großes Ziel klar: „Sichtbarmachung des allgemein und ewig Gültigen“.)
Im diesem – übrigens nicht abgeschickten - Brief an Aswell ist ferner die Rede von einer Fabel, die er konstruiert habe. Wie er im Einzelnen vorging, erläutert er an folgendem Beispiel: Aus seiner eigenen Erfahrung eines überlangen Menschen, der auf andere zunächst erschreckend wirke, habe er seinen Helden stattdessen mit anderen Merkwürdigkeiten ausgestattet, die ihn körperlich einem Affen ähnlich machten und ihn zugleich die von Wolfe erlebte Distanz zu den Normalgestalten fühlen ließen. Er wollte unbedingt vermeiden, dass Kritiker mit einem riesenwüchsigen George Webber den tatsächlich 1,95 m langen Autor Thomas Wolfe identifizierten. So ausgestattet mag Webber also in Brooklyn wohnen, in den heimatlichen Südstaat reisen oder, wie Wolfe selbst 1936 zur Olympiade, nach Hitlerdeutschland – eine fast schon naiv anmutende Maskerade.
Kommen wir zurück auf „Sichtbarmachung des allgemein und ewig Gültigen“. In seinem außerordentlich lebendig geschriebenen Erstling ist das noch längst nicht das Ziel. Hier wird sehr prägnant eine konfliktreiche Kleinstadtgesellschaft des amerikanischen Südens während jahrzehntelanger stürmischer Entwicklung beschrieben, mitten darin eine Familie, die es in sich hat, die geradezu explodiert vor Vitalität, und an ihrem Rand dieser heranwachsende scharfe Beobachter, der sich aus ihr erst herausarbeiten muss. Das Ganze ist, dem Lebensgefühl eines jungen Menschen angepasst, gefühlvoll romantisch, sogar weltschmerzlich – doch Anspruch auf „allgemein und ewig Gültiges“ kann es im Wesentlichen nicht erheben. Nach seinem großen Anfangserfolg und verfolgt von den Anwürfen bezüglich des Autobiographischen, besorgt um ein mindestens ebenso großes zweites Werk, versucht sich Wolfe nun ins Große, Weite, Universale zu retten. Er will wiederholen, was ihm mit Asheville und der eigenen Familie so gut gelungen ist, indem er viel reist, viel sieht, vielen Menschen begegnet, alles festhält und dann gestalten will. Das funktioniert nur sehr bedingt.
Die Methode bleibt dieselbe, und gerade das ist das Problematische. Wolfe sammelt unaufhörlich in der Außenwelt Eindrücke, die er literarisch verwertet. Es ist jedoch ein grundlegender Unterschied, ob Familienleben und langsames Aufwachsen in einer kleinen Stadt sich einem tief einprägen, gründlich verarbeitet werden und zur literarischen Gestaltung zur Verfügung stehen – oder ob man rastlos auf zwei Kontinenten unterwegs ist und sich sehr vielen neuen, oft oberflächlichen Eindrücken meist zufälliger Art aussetzt. Von seiner letzten – todbringenden - Reise in den amerikanischen Westen berichtet er seiner Agentin Elizabeth Nowell am 3.7.1938:
„ Die Nationalparks sind natürlich phantastisch, aber für mich waren Städte, Dinge und Menschen, die ich gesehen habe, viel wertvoller – der ganze Westen mit seiner Geschichte entrollte sich in kaleidoskopartig schnellem Wechsel. Und ich habe es ebenso schnell niedergeschrieben, wenn wir sechs- bis achthundert Kilometer gefahren waren und ich eigentlich vor Müdigkeit umfiel.“
Einige Beispiele für hastiges Aufnehmen und Verarbeiten äußerer Eindrücke, wie sie sich in den Briefen finden. In Europa will Wolfe zweimal James Joyce zufällig begegnet sein, in Belgien und dann wieder in Frankfurt. Bei der ersten Begebenheit ist ihm die Identität des Iren durch einen von Joyce’ Begleitern versichert worden, bei der Schilderung der zweiten bleiben für den Leser erhebliche Zweifel daran. In München soll das Oktoberfestbier unglaubliche dreizehn Prozent Alkohol enthalten, schreibt Wolfe nach New York. (Vielleicht Verwechslung mit der Stammwürze?) Dementsprechend will er, bevor es zu der berühmt gewordenen Schlägerei kommt, bei sieben oder acht Maß „fast einen Liter Alkohol“ konsumiert haben, kaum vorstellbar. Wolfe zieht aus einer relativ banalen Kneipenszene in Paris tiefreichende Schlüsse auf den französischen Nationalcharakter in Abgrenzung zum amerikanischen – der Leser könnte sich die Szene ebenso gut im damaligen Berlin oder New York vorstellen. Um wie vieles aussagekräftiger ist dagegen jener Auftritt beim Leichenbestatter in Altamont alias Asheville … Da wird konkret ein Detail der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit, das übertriebene kosmetische Herrichten von Leichen, aufgespießt, und da stützen sich im Buch autobiographische Herkunft und ästhetische Wirkung des Textes gegenseitig.
Um es überspitzt zu formulieren: Wolfes erster Roman ähnelt einem Vulkanausbruch, sein letzter einem mäßig interessanten Tischfeuerwerk, das sich zu lang hinzieht. Das ist eine Tour d’Horizon durch weite Teile der hochproblematischen Welt um 1930. Darunter findet sich viel Anschauliches, das jeweils für eine Kurzgeschichte oder eine mittellange Erzählung geeignet gewesen wäre. Tatsächlich hat Wolfe, um Geld zu verdienen und den Markt mit Neuem zu versorgen, immer wieder Teile seiner in Entstehung begriffenen Romane im Voraus veröffentlicht, in Zeitschriften oder in kleinen Erzählsammelbänden. Nachdem er in „You can’t go home again“ derart viel Stoff aufgehäuft hat, soll der letzte „Credo“ betitelte Abschnitt die Essenz des Ganzen enthalten. (Bezeichnenderweise bilden diese gut zwei Seiten, die doch eine Art Testament sein wollen, formal nur den Schluss des Scheidungsbriefes, den Webber seinem Lektor schickt, um den Verlag zu wechseln – wie Wolfe es um diese Zeit selbst getan hat.) Er enthält eine bestenfalls blasse, wenn nicht verblasene Vision. Das schlechte Alte soll man fahren lassen, und: „Ich glaube, dass wir hier in Amerika verloren sind, aber ich glaube auch, dass wir eines Tages neu entdeckt werden …“ Dann tritt er in die Fußstapfen Walt Whitmans ( „… mächtiges unsterbliches Land … wahre Entdeckung unserer Demokratie …“), mischt etwas Antikapitalismus hinein und schließt im moralisierendem Ton evangelikaler Prediger. Auch dieser Schluss türmt nur Material auf, jetzt ideologisches, bleibt unfähig zur Synthese.
Die Briefe Wolfes lassen die ganze Tragödie eines hochbegabten Autors erkennen, der noch mehr erreichen wollte, als ihm vergönnt war. Wolfe denkt häufig an Tolstoj oder an Goethes „Wilhelm Meister“, will selbst etwas in dieser Richtung schreiben. Er entwirft immer neue riesenhafte Romankonzeptionen, an denen er sich berauscht, und überarbeitet sich beim Schreiben permanent, bleibt unzufrieden, stürzt sich in noch mehr Arbeit. Sein Tod war so gesehen kein unglücklicher Zufall, eher ein unvermeidlicher Zusammenbruch. Sein Fragment gebliebenes Gesamtwerk, ein monumentaler Torso, ist im Grunde nur ein einziger langer zusammenhängender Text – man spricht von 4000 Buchseiten -, eine gewaltige Schutthalde autobiographischen Materials in unterschiedlichem Zustand der Bearbeitung, wie ein frühzeitig zum Erliegen gekommener Turmbau zu Babel.
Am Fall Thomas Wolfe lassen sich Chancen, Bedingungen und Grenzen des autobiographischen Verfahrens gut erkennen. Was wie ein Brennglas fürs Detail gut dienen kann, versagt bei der großen Welterklärung.
(Aus den Briefen wurde zitiert nach den Übersetzungen von Ina Seidel bzw. Susanna Rademacher, die auch „You can’t go home“ übertragen hat.)
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