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Literaturforum: Herman Bang - Das graue Haus


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Forum > Rezensionen > Herman Bang - Das graue Haus
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 Thema: Herman Bang - Das graue Haus
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 01.04.2013 um 14:20 Uhr

„Das graue Haus“, erstmals veröffentlicht 1901, ist ein exemplarisches Werk der europäischen Dekadenzliteratur. Es knüpft lose an „Das weiße Haus“ von 1898 an. Wenn Bang sich dort als Meister des literarischen Impressionismus erwiesen hat, so geht er mit dem späteren Kurzroman gewissermaßen zum Pointillismus über. Für den Leser ergibt sich daraus ein Problem. Der Text erscheint allzu leicht, verführt ihn zum raschen Darüberweglesen – und dann stellt er fest, dass er Teile der Handlung nicht verstanden hat. Das liegt nicht nur an einem Stil, der vor allem mit Andeutungen und Aussparungen arbeitet, und an einem Text, der im Ganzen einen Teppich aus ineinander verwobenen Miniaturen und Fragmenten von Lebensgeschichten enthält – bereits die Fülle der Personen kann verwirren. Auf gerade hundertzwanzig Seiten treten sechsundfünfzig Gestalten auf, und dazu noch drei Tiere (Pferd, Papagei und Pudel). Zum Glück für den Leser wird jede Person auf die knappste Weise eindeutig charakterisiert.

Im grauen Haus in Kopenhagen wohnt der reiche alte Arzt Ole Hvide, dem Großvater des Autors nachgebildet. Der Leser begleitet ihn durch einen Tag, etwa zwölf Stunden lang. Zuerst bespricht er sich mit Hausgenossen, dann ist er teils privat, teils beruflich in der Stadt unterwegs, nimmt heimgekehrt an einem Empfang teil, fährt noch einmal aus, um einen Wucherer aufzusuchen, hat dann zu Hause ein Galaabendessen, wird zu einer Sterbenden weggerufen und kommt ein drittes Mal heim zu den problembeladenen Seinen.

Der alte Hvide ist die einzig stabile Persönlichkeit in diesem Mikrokosmos voller Unfrieden und Unglück. Von ihm sagt man: „Es ist doch komisch, dass keines der Kinder sein Genie geerbt hat.“ Er neigt zu bitteren Sentenzen, deren Paradoxa die anderen teils amüsieren, teils verschrecken. Hvides Blick trifft nicht nur auf familiären Verfall, er sieht auch eine ganze Gesellschaftsformation, das liberale Großbürgertum, die aufgeklärte Aristokratie, verschwinden. „Was bleibt von einem Jahrhundert übrig?“ fragt einer. Der Alte: „Die Gitter um ihre Gräber.“ Und: „ … was sie wollten, verkehrte sich ins Gegenteil, und ihre Werke sind so tot wie sie selbst.“ Die Handlung ist kurz vor 1880 angesiedelt, es gibt Anspielungen auf den Russisch-Türkischen Krieg (1877/1878). Darwin ist schon ein berühmter Mann, Weimar mit seiner Klassik eine blasse Erinnerung. Was bleibt von Goethe? „Erst ein paar Bücher, dann ein Buch …, dann ein Name und schließlich einmal nur ein paar Buchstaben, deren Form niemand mehr deuten kann.“ Bei Hvide sind zu Hause die Bronzen, Piedestale und Ehrengaben in Laken eingehüllt. Die Damen der Gesellschaft dagegen beeindrucken sich gegenseitig mit einem Kollier der Dubarry, einem Medaillon von Marie Antoinette, mit Bonapartes Trinkgläsern oder einer Brosche von Zar Nikolaus. Die Herren ihrerseits schwärmen von neu vergoldeten Altarleuchtern in einer Kirche. Aber Hvide sagt: „Es gibt keine Altäre … denn es gibt keine Götter. Wir sind die, die wir sind.“ Wenn ein Hochwürden den „Blick nach oben“ empfiehlt, entgegnet Hvide: „ … lassen Sie sie nach oben schauen. Dann werden sie nie sich selbst gewahr.“

Hvide ist der Prototyp eines karitativen Menschenfeindes. Jenseits der historischen, sozialen Vergänglichkeit bietet ihm die individuelle seiner Umgebung ein reiches Betätigungsfeld. Der eine Sohn ist ein überschuldeter Landwirt, ein Alkoholkranker, der Wechsel mit dem Namen des Vaters unterschreibt. Der andere hat Eheprobleme, die Gattin leidet unter der Leere der Beziehung und sieht sich früh sterben. Hvides alte, zärtlich umsorgte Gattin träumt zu seinem Missvergnügen anhaltend von den „schönen Prinzen in Weimar“ damals … Der apoplektische Finanzmann wuchert noch am Rand seines Grabes, und Hvide versichert den anderen wiederholt: „Ein Loch in der Erde ist so viele Gedanken nicht wert …“ Beim Souper trinken sie die letzte von einmal achtzehn Flaschen besten Tokajers.

Immerhin gibt es ein Leben vor dem Tod. Mit Lügen macht man es sich erträglich. Es heißt: „Emmely ist ausgeritten“, wenn sie todkrank im Nebenzimmer liegt. Aus dem sturzbetrunkenen Vater im Nachbarraum wird für die anderen ein x-beliebiger fremder „Patient“. Und alle sagen sich resignierend: „Warum sollten gerade sie glücklich werden?“ Womit sie die nachfolgende Generation meinen. Ihr gehört Hvides Enkel Fritz an, in dem der Autor sich wie eine kleine Stifterfigur selbst dargestellt hat. Fritz bleibt weitgehend passiv, er äußert sich kaum, tut, was man ihm sagt, und verweigert die Auskunft über seine Gedanken bei Tisch, das sei eine „Gewissensfrage“. Dafür mustern er und der Sohn einer Gräfin sich „sekundenschnell … etwa so, wie Damen vor einem Souper ihre Toiletten betrachten …“ Viel beachtet wird Fritzens junger Diener: „Was ist denn das für ein hübscher Armenier?“ Er ist der „schlanke Diener, der taillenschlanke Diener“, der die „blanken Augen zu seinem Herrn“ erhebt. Und die Livree sitzt ihm so stramm und überhaupt kommt er viel öfter im Text vor, als für den Gang der Handlung nötig. Der homosexuelle Bang, persönlich ständig in Furcht vor Sittenskandalen oder schon auf der Flucht vor ihnen, hat hier wie in anderen seiner Werke eine Aura geschaffen, an der nichts Eindeutiges auszumachen ist und dennoch alles eines Sinnes ist, sozusagen ein Bild ohne Worte: the unspeakable vice of the Greeks.

Dieser Enkel erscheint den Damen der Gesellschaft so: „Er ist schön wie ein Grabmal.“ Er sollte, meinen sie, „eigentlich eine gesenkte Fackel in der Hand halten.“ Indem die vom Erzähler selbst abgeleitete Figur hier mit Thanatos gleichgesetzt und in Beziehung zu Eros gebracht wird, erweist sich der Autor als Präfreudianer. Was Bang mit „Das graue Haus“ als Ganzem unternimmt, kann man, einen Titel von Lukács variierend, die Grablegung des alten Dänemark nennen. Dänemark, nur zum Beispiel.

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