ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 26.01.2013 um 22:49 Uhr |
Die Filiale der Großbäckerei verkauft Brötchen für sieben Cent das Stück, in anderen Stadtteilen verlangt dieselbe Firma dafür zehn - man richtet sich nach der Kundschaft. Durch die Schaufensterscheibe sehe ich mir den Menschenstrom draußen auf der Müllerstraße an, während ich mein Stück Kuchen verzehre. Sollen sie doch Kuchen essen, wenn sie kein Brot haben - hat Marie Antoinette das wirklich mal gesagt?
Mein Blick fällt auf die gegenüberliegende hohe und fensterlose Giebelwand. Da wirbt ein Elektronikkonzern für seine nächstgelegenen Filialen. Eine ist am "Alexander Platz", zwei Wörter, kein Bindestrich und "Platz" eine Zeile tiefer mittig. Hübscher Eigenname, denke ich, und stelle mir die Reklamewand als Grabstein vor: Hier ruht ALEXANDER PLATZ …
Rechtschreibung und Zeichensetzung gehören für den Großteil der Kundschaft hier vermutlich zu den weniger bedeutenden Angelegenheiten. Zum Beispiel für die alte Frau, die jetzt an der Reihe ist - ihre Erscheinung entspricht allen gängigen Vorstellungen: rüstig, sauber, ordentlich - und eben ärmlich. Sie möchte wieder, sagt sie, einen Pfannkuchen vom Vortag für dreißig Cent. (Für die Auswärtigen: Gemeint ist das anderswo als Berliner bekannte Schmalzgebäck.) – Haben wir heute nicht, nur frische. – Was kostet einer? – Sechzig. – Sechzehn? – Nee, sechzig. – Zu teuer. – Sie gehen gemeinsam das Angebot durch, dann erwirbt die Alte einen Kameruner vom Vortag für dreißig Cent. Sie scheint zufrieden, sie hat ihr Budget nicht überzogen und verstaut Wechselgeld und Kuchenpaketchen mit Selbstverständlichkeit. Sie übertreibt es damit nicht, macht kein Getue und flüchtet sich nicht in unpassende Würde. Arm ist sie halt und weiter nüscht. Sie hat meine Sympathie, auch wenn sie davon gar nichts hat.
Einige Tage später im 247er Bus … Es ist schon dunkel, ich will vom Gesundbrunnen zum Leopoldplatz. Der Bus hat beträchtliche Verspätung und als er kommt, quetschen sich vier Elternteile mit vier Kinderwagen in den Mittelbereich. Soll das was fürs Guinness-Buch werden? Wir anderen Zugestiegenen stauen uns im Gang davor, während weiter hinten noch acht, neun Sitzplätze frei sind – kein Durchkommen. Erst an der Reinickendorfer Straße habe ich so viel Luft angehalten und mich so dünn gemacht, dass ich wie ein Schemen durch einen kleinen Spalt passe und backbords auf einen Gangplatz sinken kann.
Mein Nachbar am Fenster hält mir im Nu seine Pfote hin, begrüßt mich mit Handschlag. Aber wir kennen uns doch gar nicht? Er ist Anfang sechzig, sehr hager und nicht gerade overdressed. Nein, wir kennen uns wirklich nicht, aber er will mich gern kennenlernen und stellt mir rasch hintereinander seine Fragen: Wo willste denn hin? – Zum Leo. – Sind da Lebensmittel drin? (Er deutet auf meinen Stoffbeutel.) – Nee, nur Seifenartikel. – Und wo wohnste? – Englisches Viertel. (Meine Stimme klingt ein bisschen unsicher, das ist nämlich die bessere Gegend im Wedding.) – Haste `ne Frau? – Nee, hab ich nicht. – Biste Berliner? – Ach, ich hab immer mal wieder hier gewohnt. – Haste Geld? – Na ja, was man so dabei hat, ein paar Münzen halt … - Haste `ne Frau? – Nee, aber das haste schon mal gefragt. – Bald reicht es mir und ich sage ihm: Keine Lust mehr auf deine Fragen hier im Bus. Damit bin ich für ihn erledigt, ich muss ihn vorbeilassen, er steht den Rest der Strecke lieber.
Am Leopoldplatz steigt er vor mir aus. Er spricht draußen schnell die erstbeste junge Frau an, die auf der Bank im Wartehäuschen sitzt. Was er sagt, ist nicht zu verstehen, ihre Antwort auch nicht. Sie schüttelt energisch den Kopf – bei ihr ist nichts zu machen, bedeutet das. Und er hastet sofort weiter, erwischt noch das Grün an der Müllerstraße, verschwindet schon im Geschiebe Ecke Luxemburger, ein Hektiker ohne viel Hoffnung, den nur noch die Gewohnheit zusammenhält. Weiter, weiter, es muss doch noch was zu machen sein, im Leben noch irgendwas zu machen sein …
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