Thema: Die Wilmersdorfer, Ausstellung Villa Oppenheim
ArnoAbendschoen
Mitglied 718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
Eröffnungsbeitrag
Abgeschickt am: 12.01.2013 um 18:33 Uhr
Das Museum Charlottenburg-Wilmersdorf zeigt bis 30. Juni 2013 eine umfassende Ausstellung über die Haupteinkaufsstraße des Bezirks, die zugleich auch eine der vier oder fünf großen Einkaufsmeilen der Hauptstadt ist. Ob es ähnliche Ausstellungen über vergleichbare Straßenzüge in anderen Städten gab oder gibt, die Hamburger Mönckebergstraße oder die Frankfurter Zeil etwa – ich weiß es nicht. Jedenfalls besticht diese hier mit ihrer außerordentlichen Fülle an Bildern und Texten. Erstaunlich, was die Ausstellungsmacher in den Archiven alles gefunden haben. Nun ist die Wilmersdorfer aber auch um die dreihundert Jahre alt …
Zuerst kaum mehr als ein Feldweg, ein unbefestigter Verbindungsweg ins Nachbardorf, dann Standort kleiner Ackerbürgerhäuser, nahm die Straße nach der Mitte des 19. Jahrhunderts sozusagen selbst Fahrt auf. Charlottenburg vervielfachte innerhalb von wenigen Jahrzehnten seine Einwohnerzahl, wurde – vor der Eingemeindung 1920 – wohlhabende Großstadt und die Wilmersdorfer – nicht der Kurfürstendamm – ihre Haupteinkaufsgegend mit Warenhäusern und zahlreichen Fachgeschäften. Und gewohnt wurde weiterhin an ihr, davon später.
Die Ausstellung informiert über alles nur Erdenkliche, die Art der Straßenbefestigung, die aufeinander folgenden Verkehrsmittel – Pferdestraßenbahn, Elektrische, Omnibus, U-Bahn -, die nacheinander eingerichteten drei Versionen einer Fußgängerzone, die Haustypen (sehr gründlich) und das Schicksal vieler einzelner Gebäude. So hat der Verfasser erfahren, in was sich das alte Neckermann-Kaufhaus der 1970er seitdem verwandelt hat – nicht leicht wiederzuerkennen.
Mit den erwähnten Einwohnern der Straße könnte man allein ein Adressbuch füllen. Beschränken wir uns auf drei. Hier hat z.B. der Scharfrichter Krauts gewohnt. Nebenbei erfährt man, dass das Henken lange nur im Nebenberuf ausgeübt wurde, und zwar von Abdeckern. Krauts war der erste hauptamtliche Rübe-ab-Meister. Seine Karriere endete unrühmlich, später wurde er der Held eines viel gelesenen Serienschauerromans. Mehr über ihn, seine „Klienten“, die von ihm erfundene Berufstracht usw., in der Ausstellung! – Dann Robert Walser. Er hat in seiner Berliner Zeit in Nr. 144 gewohnt und dort am Roman „Der Gehülfe“ geschrieben. Das Haus von damals gibt es nicht mehr, an dem von heute fehlt eine Gedenktafel, schade. (Immerhin gibt es eine an der Kaiser-Friedrich-Straße 70, da hat er vorher mit seinem Bruder Karl logiert.) – Und noch Franz Kafka - er war hier nur zu Besuch bei seiner jahrelangen Verlobten Felice Bauer, wovon Fotos und Dokumente zeugen.
Kafka und Bauer waren jüdischer Herkunft wie viele Bewohner der Wilmersdorfer und von ganz Charlottenburg bis zum Holocaust. Die Ausstellung unterschlägt deren Schicksal nicht. Wir finden u.a. eine Grundbuchkarte von Charlottenburg von 1939, auf der akribisch jedes Gebäude entsprechend jüdischer oder nichtjüdischer Bewohnerschaft wie Hauseigentümerschaft besonders markiert ist - deutscher Amtsfleiß damals. Wie viele haben an Kartenwerken wie diesem mitgearbeitet und nachher von nichts etwas gewusst? Es gibt auch eine Liste der Deportierten aus der Wilmersdorfer, 179 Menschen umfassend, ergänzt um ihr weiteres Schicksal, soweit bekannt. Kafkas Verlobte emigrierte schon 1931.
Charlottenburg war vor dem Absturz in die Barbarei eine kulturell besonders ambitionierte Gemeinde gewesen. Es besaß an der Wilmersdorfer die erste deutsche Volksbücherei überhaupt, eröffnet 1901, zerstört 1943. Über die Bombardierung der Straße finden Sie hier ebenso viel Sehenswertes wie über Wiederaufbau und mehrfachen Umbau – worüber eigentlich nicht? Hingehen und viel Zeit mitbringen! (Schlossstr. 55, 14059 Berlin. Eintritt frei.) Und nachher die fast zwei Kilometer lange Straße auf- und abbummeln.