ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 20.10.2012 um 21:27 Uhr |
Der schmale Auswahlband in der edition suhrkamp verfolgte nach Angaben des Verlages folgendes Ziel: „Die suhrkamp texte sind Studienausgaben, die es vor allem jüngeren Lesern leicht machen sollen, einen Autor durch charakteristische Arbeiten kennenzulernen und über sie Zugang zu seinem Gesamtwerk zu finden …“ Seit der mir vorliegenden Ausgabe von 1963 ist der Ruhm des Autors noch beträchtlich gewachsen. Benjamin gilt allgemein seit Jahrzehnten als einer der Koryphäen des 20. Jahrhunderts in Bezug auf Kunsttheorie wie Geschichtsphilosophie, dazu als ein tiefsinniger schreibender Flaneur. Ist er auch im 21. Jahrhundert noch ein mit Gewinn lesbarer Autor? Ich studiere die Aufsätze nach so vielen Jahren noch einmal …
Den Anfang macht ein längerer Text über Moskau. Benjamin ist im Winter 1926/1927 dort gewesen. Lenin war schon tot, Stalin im unaufhaltsamen Aufstieg begriffen, Trotzki noch in Moskau. Ein historisch besonders folgenreicher Abschnitt der Geschichte der UdSSR – die neue Gesellschaft hatte sich nicht nur etabliert, sondern infolge der Neuen Ökonomischen Politik auch relativ stabilisiert, bevor Zwangskollektivierung, Hungersnöte und forcierter Ausbau der Schwerindustrie neue Krisen und Umwälzungen über das Riesenland brachten. Wie viel hat Benjamin von all dem erfasst, das sich an der Oberfläche dem Besucherblick darbot oder etwas tiefer erst vorbereitete? Er macht dem Leser gleich zu Beginn Folgendes klar: „Mag man Russland auch noch so wenig kennen – was man lernt, ist, Europa mit dem bewussten Wissen von dem, was sich in Russland abspielt, zu beobachten und zu beurteilen. Das fällt dem einsichtsvollen Europäer als erstes in Russland zu. Darum ist andererseits der Aufenthalt für Fremde ein so sehr genauer Prüfstein. Jeden nötigt er, seinen Standpunkt zu wählen. Im Grunde freilich ist die einzige Gewähr der rechten Einsicht, Stellung gewählt zu haben, ehe man kommt. Sehen kann gerade in Russland nur der Entschiedene … Nur wer ‚an Hand der Fakten’ sich entscheiden will, dem werden diese Fakten ihre Hand nicht bieten …“
Das ist ein Plädoyer für Voreingenommenheit, Parteilichkeit. Skeptisch liest man weiter und findet, zunehmend erstaunt, eine Art ewiges Moskau beschrieben – oder das, was Benjamin dafür hielt. Dieses traditionelle Russland wird sehr anschaulich dargestellt: die Winterkälte und ihre Konsequenzen, der Kleinhandel auf den Straßenmärkten, Bettler, Schlittenfahrten, Weihnachtsbräuche, Holzspielsachen, altertümliche Firmenschilder … Aktuelle Bezüge tauchen nur am Rand auf, interessieren vor allem unter ästhetischem Blickwinkel. Die „Wohnungsnot“ führt dazu, dass abends „beinahe jedes Fenster hell erleuchtet“ ist. Und weiter: „Wäre der Lichtschein, der von ihnen ausgeht, nicht so ungleichmäßig, man glaubte, eine Illumination vor sich zu haben.“ Eine detailliertere Darstellung mit aktuellen Bezügen gibt Benjamin zur Lage der orthodoxen Kirche in der Stadt und hier erweist sich in der Tat, welchen Standpunkt er mitgebracht hat, einen betont kirchenfeindlichen. „Die Kirchen sind fast verstummt. Die Stadt ist so gut wie befreit von dem Glockengeläut, das sonntags über unsere großen Städte eine so tiefe Traurigkeit verbreitet …“ In diesen Kirchen wurde bis vor kurzem „noch mit fanatischer Inbrunst gebetet.“ Ja, dort wurde, „wenn es sich trifft, auch über Pogrome beraten.“ Tatsächlich kam der russische Antisemitismus, wie bekannt, bald ganz ohne Kirchen aus.
Man soll Benjamin, der selbst ein so beklagenswertes Schicksal gehabt hat, aus solchen naiven Sätzen nicht nachträglich einen Strick drehen wollen. Er war kein Gide, kein Dos Passos, und er war früher als jene Autoren in Stalins Moskau, konnte sich leichter täuschen. Bedenklicher ist jedoch, wie er im Vergleich zu einem idealen Moskau sein heimatliches Berlin sehen wollte: „Berlin ist eine menschenleere Stadt … die Breite der Bürgersteige ist fürstlich … Fürstlich vereinsamt, fürstlich verödet sind die Berliner Straßen … wie ausgestorben und leer ist Berlin … Verglichen mit den Moskauer (Straßen) sind sie wie eine frisch gefegte leere Rennbahn, auf der ein Feld von Sechstagefahrern trostlos voranhastet.“ Diese Sätze wurden etwa zur gleichen Zeit wie Döblins „Berlin Alexanderplatz“ geschrieben! Bei Benjamin äußert sich hier eine feuilletonistisch aufgeplusterte Sehnsucht nach Gemeinschaftserlebnissen. Sie verkennt, wie notwendig zum Ausgleich für die Enge der Berliner Mietskasernen die von James Hobrecht vorgegebene großzügige Struktur des öffentlichen Raums war. Benjamin kommt auch nicht auf den Gedanken, dass die Fülle auf den Moskauer Trottoirs und der auf ihnen von unzähligen Landbewohnern emsig betriebene Handel Symptome einer ökonomischen Krise sein könnten. Tatsächlich waren in Russland seit dem Krieg die Handelsbeziehungen zwischen Stadt und Land schwer gestört. Agrarische Überbevölkerung, zu niedrige Preise für Landprodukte und mangelnde Versorgung mit Industriewaren bildeten den Hintergrund für das malerische Bild, an dem Benjamin sich in Moskau erfreute.
Nicht nur Berlin, auch Marseille kommt im Vergleich mit Moskau schlecht weg. Benjamin betrachtet das Lumpenproletariat dieser kapitalistischen Hafenstadt so: „Das Hafenvolk ist eine Bazillenkultur; Lastträger und Huren menschenähnliche Fäulnisprodukte.“ Starker Tobak für einen Marxisten! Doch der Ästhet in ihm kommt noch auf seine Kosten: „ … immer hat der südliche Händler den Bettlermantel so um sich geschlagen, dass mit tausend Augen das Schicksal uns daraus ansieht.“ Auf dieses etwas süßliche Lob folgt eine herabsetzende Bemerkung über die heimischen Bettler, die statt seelenvoller Augen „Senkel und Dosen mit Stiefelwichse“ feilhalten.
Weimar ist eine weitere Station. Benjamin schwelgt dort in der unkritischen Goetheseligkeit seiner Zeit. Er besucht Goethes sehr schlichtes Arbeitszimmer und stellt sogleich einen Vergleich mit den Räumen seiner eigenen Zeitgenossen an: „Hier hat der Greis mit der Sorge, der Schuld, der Not die ungeheuren Nächte gefeiert, ehe das höllische Frührot des bürgerlichen Komforts zum Fenster hineinschien …“ Die unfreiwillige Komik solcher Formulierungen ist so evident, dass man gern weiterliest …
… und somit zur berühmten „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ gelangt. Hier versucht sich der Proust-Übersetzer Benjamin offenkundig in der Nachfolge des Franzosen. Proust hat ja seinen großen Roman als ein optisches Werkzeug bezeichnet, mit dessen Hilfe der Leser die eigene Existenz deutlicher in den Blick bekommt. Benjamin ahmt ihn dabei nun bis in den Satzbau nach. Wie bei Proust sind für Benjamin die Namen als Stellvertreter der Realitäten ein bedeutender Stoff. Er gebraucht ebenfalls eine Überfülle von Metaphern, nur dass der Unterschied in deren Anwendung durch die beiden Autoren rasch ins Auge fällt. Wo Proust die Metaphern meist geschickt in kleine Handlungsabläufe einbettet, finden wir bei Benjamin gewöhnlich nur auf die Dauer ermüdende Stillleben. Aus der Laterna magica im großen Roman wird im Berliner Westen ein Gartenpavillon mit bunten Fenstern und ähnlichen Effekten. Die Tante Léonie aus der „Recherche“ wird durch eine Berliner „Tante Lehmann“ ersetzt, der guten Franҫoise entspricht zwangsläufig eine „alte Dienerin“. Benjamin würde dieser gern ähnliches Gewicht verleihen wie Proust jener, doch es bleibt bei der bloßen abschließenden Versicherung seines Gefühls, Vestibül und Dienerin hätten ihm wohl mehr zu sagen gehabt als Salon und Tante – nachdem der vorangegangene Text sich fast ausschließlich mit der Tante beschäftigt hat. Der beabsichtigte marxistische Effekt will sich so nicht einstellen. Durchaus nicht im Prouststil ist es allerdings, wenn der Autor Benjamin das Lächeln des Kindes, das er einmal war und jetzt deutlich vor Augen haben will, analysiert. Das wirkt konstruiert, unglaubwürdig.
Das gescheite Nachwort von Peter Szondi kann die Mängel der Texte nicht ausbügeln. Ja, es kommt mir selbst nicht vollkommen aufrichtig vor. Wenn er Benjamin bescheinigt, dieser schätze im Süden ein „Kollektivleben, das sich seinem Ursprung noch nicht entfremdet hat“, und dabei auch den Marseille-Text als Beleg anführt, übersieht er geflissentlich, dass gerade die französische Hafenstadt wie ihre Bewohner durchgehend abschätzig dargestellt werden. Benjamin spricht z. B. von „den monotonen Wohnvierteln, die etwas von der Traurigkeit von Marseille wissen.“
In den Text über Moskau interpretiert Szondi etwas Systemkritisches hinein, das der Wortlaut bei Benjamin kaum hergibt. Szondi führt als Beleg für Benjamins angebliche Abneigung gegen den beginnenden Leninkult folgenden Satz an: „Da der Verkaufszweig der Ikonen zum Papier- und Bilderhandel rechnet, so kommen diese Buden mit Heiligenbildern neben die Stände mit Papierwaren zu stehen, so dass sie überall von Lenin-Bildern flankiert sind, wie ein Verhafteter von zwei Gendarmen.“ Wie wir oben gesehen haben, ist Benjamin jedoch Sympathie mit der russisch-orthodoxen Kirche durchaus fremd. Hier warnt er also nicht zwischen den Zeilen vor den Folgen des Leninkults, er billigt im Gegenteil die missliche Situation des alten Glaubens in der Gegenwart. Sollte Szondi sich darüber getäuscht haben? Der Stelle mit den Leninbildern entspricht ja einige Seiten weiter eine andere: „Der Untertan des Zaren war in dieser Stadt von mehr als vierhundert Kapellen und Kirchen, will sagen von zweitausend Kuppeln rings umstellt … Eine Ochrana der Architektur war um ihn.“ Also ist es nur gerechtfertigt, dass die Verhältnisse einmal vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Oder, noch einmal mit den Worten Benjamins: „Nur wer, in der Entscheidung, mit der Welt seinen dialektischen Frieden gemacht hat, der kann das Konkrete erfassen.“ Erst als der Hitler-Stalin-Pakt kam, sah sich Benjamin genötigt, seine Position zu ändern.
Bücher haben ihre – wechselvollen – Schicksale. Die Rezeption der Werke Benjamins kann im neuen Jahrhundert nicht mehr die von 1970 sein. Reizvoll und aufschlussreich sollte nun sein zu untersuchen: Wie war es möglich, dass wir nicht früher über das Seichte, das Unbegründete und den Pseudo-Tiefsinn bei Benjamin gestolpert sind?
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