ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 19.10.2011 um 11:42 Uhr |
Pavese (1908 – 1950) gilt als der führende italienische Neorealist im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts. Seine Romane und Erzählungen werden – auch außerhalb Italiens – bis heute viel gelesen. Die Sekundärliteratur nimmt an Umfang noch immer zu. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Einordnung seiner Werke in größere Zusammenhänge, mit dem Einfluss der amerikanischen Literatur auf Pavese, seiner Darstellung der italienischen Gesellschaft der Dreißiger und Vierziger, mit dem Gegensatz Stadt – Land, nicht zuletzt mit der Rolle mythischer Bilder und Vorstellungen bei der Gestaltung von Figuren und Erzählsträngen. Es scheint, Pavese war ein stark auf die Gemeinschaft und ihre Fragen bezogener Autor. Dabei gerät die andere Seite ein wenig aus dem Blickfeld: das Unverwechselbare, individuell Persönliche seiner Gestalten, insbesondere seiner Ich-Erzähler.
„Unter Bauern“, erschienen 1939, ist Paveses erster Roman. Er wird bis heute vor allem als soziale Milieuschilderung verstanden, in der die Individualpsychologie nur eine untergeordnete Rolle spielt. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, den Vorrang des individuellen Dramas herauszuarbeiten, für welches das soziale Milieu wenig mehr als eine brauchbare Kulisse bedeutet.
Der Klappentext von Rowohlt zur Taschenbuchausgabe von 1983 ist ein vielsagendes Beispiel für die tradierte Überinterpretation. Er beginnt schon mit einem krassen sachlichen Fehler: „In dem … Roman ‚Unter Bauern’ fixiert Cesare Pavese einige noch heutzutage antreffbare archaische Sozialstrukturen in abgelegenen Dörfern der Piemonteser Alpen.“ Tatsächlich spielt der Roman in der Langhe, Paveses Heimat, einem fruchtbaren Hügelland im Südosten des Piemont, ca. 100 Kilometer vom Rand der Alpen entfernt. Im Zeitgeistjargon von damals fährt der Klappentexter fort: „ … interessiert sich Pavese mehr noch als für die eigentliche Romanhandlung für die politischen Hintergründe, vor denen die Handlung abläuft.“ Das ist eine Behauptung, die durch den Text nirgendwo gestützt wird, Pavese berührt den politischen Rahmen der Mussolini-Zeit nicht einmal. Und weiter: „Pavese legt die Wurzeln des ‚ganz gewöhnlichen Faschismus’ bloß und deutet vorwegnehmend die kriegerischen Ereignisse der folgenden Jahre …“ Abgesehen davon, dass an die Stelle der „archaischen Sozialstrukturen“ hier auf einmal die Wurzeln des modernen Faschismus treten, ist es einfach grotesk, anzunehmen, Pavese habe mit seinem kleinen Vorkriegsroman bereits Verlauf und Ergebnis des 2. Weltkriegs mitverarbeiten können. Sein fatales Notizheft aus den Kriegsjahren, erst 1990 publiziert, zeigt bekanntlich einen Pavese, dem Mussolini nicht vollkommen unsympathisch ist und der dessen Endsieg durchaus für möglich hält. Dieser Pavese wurde dann von seinen Verteidigern auf die in solchen Fällen übliche Weise als eine im Grunde unpolitische Persönlichkeit erklärt. - Versuchen wir uns an einer neuinterpretierenden Nacherzählung von „Unter Bauern“.
1. Tag
Zwei junge Männer haben zwei Wochen lang eine Gefängniszelle in Turin geteilt und werden zusammen entlassen. Man hat dem Bauernburschen Talino die Brandstiftung nicht nachweisen können, ebenso ist Bertos Verwicklung in einen Einbruch unaufgeklärt geblieben. Berto, der Ich-Erzähler, ist Turiner. Bereits mit seinem ersten Satz stellt er klar, wer hier Handelnder und wer Objekt ist: „Noch an der Tür fing er an, mich einzuwickeln.“ Berto meint, „ein Mann wie er müsse auch diese Erfahrung (vordergründig: die Gefängnisentlassung) machen“ und erntet verschmitztes Lachen, „als seien wir Mann und Frau auf einer Wiese … und klammerte sich an mich … Da begann Talino wieder zu lachen, als steckten wir unter einer Decke.“ Diese Assoziationen müssen einem erst einmal kommen, damit man sie zurückweisen kann. Talino will ihn mit aufs Dorf nehmen, da er selbst sich angeblich vor seinem Vater fürchtet und Berto als Mechaniker die Dreschmaschine bedienen könnte. Berto scheint es darauf anzulegen, Talino loszuwerden: Er gibt ihm Geld für einen Bordellbesuch und stellt nur vage in Aussicht, abends am Bahnhof zu sein.
Berto sucht nun seinen Kumpan und Zimmergenossen Pieretto und trifft stattdessen Pierettos Geliebte Michela. Er schläft mit ihr und verlässt sie unmittelbar danach, obwohl er den Platz des einsitzenden Freundes auf Dauer einnehmen könnte. Michela glaubt, ihn zu gewinnen, indem sie wiederholt sagt: „Wenn Pieretto das wüsste!“ Aber Berto sieht darin desillusioniert nur den Verrat: „Selbst ihr Geruch war mir widerlich.“ Wir haben hier bereits das für Pavese typische und an Dostojewski erinnernde Trio aus einer Frau und zwei Männern, von denen einer aus Solidarität mit dem anderen sich zurückzieht. Berto geht also zum Bahnhof, „ohne mir dessen recht bewusst zu werden“.
2. Tag
Während der Nachtfahrt hält Berto sich vor Augen, „dass ich meine Jacke nur über die von Pieretto hätte hängen müssen.“ Er hat es nicht getan, stellt sich nun Michela allein in ihrem Bett vor und blendet unmittelbar über zum Reisegenossen: „Talino hatte den Kopf zum Schlafen auf sein Bündel gelegt …“ Er vergleicht den Bauernburschen mit einem Kalb – „aber in manchen Augenblicken dachte ich, es seien ihrer sogar zwei.“ Berto, der sich in Turin in wenig glänzenden Verhältnissen befand, hält sich immer wieder seine städtische Herkunft zugute, doch diese ländliche Idylle verlockt ihn auch ein wenig.
In Bra müssen sie anderntags umsteigen, und der Turiner Ablauf wiederholt sich leicht variiert. Talino geht in den Puff, Berto wartet in einem Café. Er flirtet mit der Kellnerin und macht die Bekanntschaft eines jungen Mannes, der ihn beim Billard schlägt. Nachher ist der Zug aufs Dorf weg, sie treffen auf dem Markt einen von Talinos Bekannten. Dieser Eisenwarenhändler heißt auch Berto und wird vom Ich-Erzähler mit respektvoller Sympathie geschildert. Der Händler geht mit ihnen essen und bespricht mit Talino die Folgen der Brandstiftung.
Vom Lokalzug aus blicken sie, kurz vor Talinos Dorf, auf „eine mächtige Kuppe … rund wie die Brust einer Frau.“ Der Zug verschwindet in einem Tunnel, im Abteil wird es dunkel, Berto spricht „versehentlich“ einen mitfahrenden Milizionär an und bekommt zur Antwort: „Ich bin nicht Talino … Bleibt bloß auf eurem Platz sitzen.“ Es wird hell, Berto sieht am Fenster Talino, der „wie eine Frau mit beiden Händen winkte.“ Bei der Darstellung des Fußmarsches vom Bahnhof geht es noch wiederholt um den einer Frauenbrust ähnelnden Berg. Er erscheint abwechselnd groß und klein, wie die Vorwegnahme der Desillusionierung, die für Berto an dem Schauplatz erfolgen wird, den er nun betritt. Beim Eintreffen auf dem väterlichen Hof die nächste Anspielung auf – problematische – Sexualität: Vinverra „kratzte sich unter der Hose.“
Im Verlauf des ersten Abends auf dem Hof konstituiert sich das nächste Trio: Talino – Berto – Gisella (eine von Talinos Schwestern.). Berto interessiert sich gleich für Gisella, die ihrerseits mit Talino zankt. Die beiden jungen Männer schlafen auf dem Heuboden. Berto macht sich klar, dass er hier nicht nur der Maschinist ist, sondern vor allem Talinos Leibwächter: Alle Familienmitglieder fürchten die Rache des Brandgeschädigten.
3. Tag
Berto bereitet sich aufs Korndreschen vor und setzt die Dreschmaschine instand. Weit mehr Raum nimmt im Text seine Annäherung an Gisella ein. Sie ist die Herrin über die Äpfel, er trifft sie am Brunnen, ist voller Verlangen nach ihr – und zeigt schon wieder erste ambivalente Regungen. Sie hat, findet er, ein „Mondgesicht“, ganz wie Talino, der ihm die ältere Schwester Pina schmackhaft machen will. Jetzt ist erstmals die Rede von Ernesto: „Gisella hatte was mit Ernesto …“ Das ist ein junger Bauer aus der Umgebung, ebenfalls Maschinist und eigentlich fürs Dreschen am Ort zuständig – doppelte Konkurrenz.
Talino geht mit Berto ins Dorf. Dort lernt er den Stellmacher kennen, der ist blond, eine bei Pavese gelegentlich vorkommende erotische Signalhaarfarbe. Wieder auf dem Hof angelangt, kommen Berto und Talino dessen Mutter „wie Brüder“ vor. Beim Abendessen mustert Berto Gisellas Schwestern und stellt bei sich wenig galante Vergleiche an. Pina erinnert ihn an ein „Stierkalb … wäre sie nicht eine Frau gewesen.“ Und bei einer Umarmung Miliotas würde er einen Armbruch riskieren. Alles läuft für ihn auf Gisella zu, die dann aber zum verabredeten Treffen nicht erscheint. Berto sagt sich: „Jetzt wärest du über jeden froh, der käme.“ Als er danach Talino im Heu betrachtet: „Das sollte Gisella sein.“
4. Tag
Berto vergleicht am Morgen Gisella mit ihrer älteren Schwester Adele und sagt sich: „Nach dem ersten Kind ist es mit ihnen vorbei.“ Er findet an allen Töchtern Vinverras „Vierschrötigkeit“, nur bei Gisella nicht, und sie ist „die weißeste“ von ihnen. Andererseits hat er am Vorabend den schlafenden Talino betrachtet und „seine widerliche weiße Haut“ festgestellt. Später am Tag wird er Pina sagen: „Es ist gar nicht so schön, wenn Frauen eine weiße Haut haben. Ein bisschen braun müssen sie sein.“
Gisella geht zu Pans Stunde mit ihm in den Wald, „mitten zwischen den zwei runden Brüsten … nur Bäume und der heiße Himmel waren zu sehen, die beiden Hügel waren nicht hoch genug dazu.“ Fraglich, ob es zur sexuellen Vereinigung kommt. „Ich stürzte mich über sie, und wir rangen miteinander … sie redete wie verrückt, und kaum ließ ich sie los, legte sie ein Bein über das andere.“ Erst später entkleidet sie sich auf seinen Wunsch. „Und sie ließ sich betrachten. Ihre Haut war so weiß und fest, dass es eine Lust war.“ Dann aber bemerkt er im Genitalbereich eine auffallende Narbe. Er fragt, ob sie schon ein Kind hatte, und das ist der Beginn einer heftigen Auseinandersetzung. Sie versichert immer wieder, sie sei mit vierzehn in einen Rechen gefallen. Dann lässt sie ihn allein am Bach zurück, mit seinen Unlust- und Schuldgefühlen: „… ich … überlegte mir, dass ich irgendwen hintergangen hatte. In solch einem Augenblick vergeht einem der Spaß an den Frauen.“ Er will sie nicht sitzen lassen wie Michela, „wahrscheinlich, weil sie natürlicher war und … sich wie ein Mann bewegte und auch so schaute.“ Nach dem Baden verirrt er sich – man möchte fast sagen: zielbewusst - und kommt bei einem Hof heraus, den er sogleich für den seines Konkurrenten Ernesto hält: „Ernesto musste in Ordnung sein, wenn er Maschinist war und Gisella ihm gefiel.“ Tatsächlich ist es ein anderes Gehöft. Auf dem Weiterweg wägt er erneut ab, will zurück nach Turin. Gisellas Aktien notieren jetzt tiefer, denn „auch sie war letzten Endes zu ungeschliffen.“ Immerhin nimmt er sich vor (und spielt dabei mit den zwei Bedeutungen): „Ich sollte dem Alten sagen, dass er mich mit ihr anstatt mit Talino schlafen lässt.“
Früher hat er zu Talino gesagt: „Drei sind kein Paar.“ Aber er kann sich nicht denken, ohne sich zugleich zu zweien in Beziehung zu setzen. Am Abend meint er über Gisella, „wir waren wie füreinander geschaffen.“ Und kurz darauf betrachtet er wieder Talino, „und es wollte mir nicht in den Kopf, dass er, wenn auch nur ganz wenig, Gisella glich.“ Dann begleitet er den Bruder auf einem nächtlichen Ausflug – Talino verheimlicht, dass er den von ihm eingeäscherten Hof besichtigen will – und Berto versteht sich selbst wieder einmal nicht – „ich wusste selbst nicht, warum ich ihm folgte.“
Spät in der Nacht heimgekehrt, träumt Berto einen Angsttraum, der eigentlich der von Gisella sein müsste: Er fällt in einen Brunnen und fürchtet, in Rechen zu fallen. Ist es die Penetrationsfurcht eines passiven Charakters?
5. Tag
Es ist Sonntag. Berto begegnet früh Gisella in der Küche und sieht ein bisschen zu genau hin: „Da tritt sie dicht an mich heran, um sich umarmen zu lassen, und schaut mich dabei so durchdringend an, als sei ihr Gesicht nicht das ihre und sie wolle sehen, wieso ich es überhaupt küssen mochte. In solchen Augenblicken tun mir die Frauen leid. Ich weiß nicht warum, aber sie tun mir eben leid.“
Wie die anderen geht er ins Dorf, bleibt aber der Messe fern - außerhalb der Kirche blüht die Geselligkeit. Berto geht ins Wirtshaus, lässt sich vom Anblick der Wirtin, einer Witwe, faszinieren und hört aus ihrem Mund, was es mit Gisellas Narbe auf sich hat: Talino hat sie brutal vergewaltigt. Unmittelbar danach lernt Berto auf der Straße Ernesto kennen, die einzige im Roman rein positiv dargestellte Figur, fast schon zu positiv und im Vergleich zu Talino eher blass. (Er hat Vorläufer – der Billardspieler und der Eisenwarenhändler in Bra, der Stellmacher im Dorf.) Die beiden verstehen sich auf Anhieb gut, nur dass Bertos Gedanken von ihm zu Gisella und zurück zu Ernesto gehen: „ … als ich ihn anschaute, sah ich Gisella vor mir … Wir schauten uns an … und ich dachte an Gisella.“
Zurück auf dem Hof wähnt Berto sich mit dem Wissen um den Ursprung der Narbe erstmals Herr der Lage, eine Fehleinschätzung, denn es kommt rasch zum Streit, als er Gisella auf den Sachverhalt anspricht. Kurz darauf nimmt die Katastrophe ihren Lauf, die beiden Dreiecksbeziehungen, in die Berto sich hineingestellt hat, ergänzen sich zu einem höchst instabilen Viereck.
Ernesto kommt mit dem Korn, das am Montag gedroschen werden soll. Berto gefällt die Vorstellung, „Ernesto sei der Bruder der Mädchen, und nicht Talino.“ Die beiden Maschinisten rauchen noch miteinander, lachen miteinander, dann wird von der ganzen Hof- und Dreschgemeinschaft wie im Fieber abgeladen. Drei durstige Männer werden nacheinander von Gisella am Brunnen mit frischem Wasser versorgt. Berto schmeichelt sich später damit, ihn habe Gisella noch etwas freundlicher behandelt als Ernesto. Mit Talino gerät sie dagegen wieder in Streit, sie „riss den Eimer zurück und schrie: ‚Doch nicht so, du machst ja das ganze Wasser schmutzig.’“ In einem Anfall unbeherrschbaren Jähzorns stößt er ihr die Heugabel in den Hals.
Es ist bald klar, dass Gisella verbluten muss, auch wenn sie im Haus noch länger versorgt wird. Im Folgenden erweist sich Berto merkwürdig passiv. Pavese hat bis dahin die im Ich-Erzähler divergierenden Gefühle gewissermaßen externalisiert, indem er ihn die positiven Ernesto, die negativen Talino zuordnen ließ. Der Preis dieser Passivität ist der schließliche Triumph des Bösen. Bertos Rolle ist damit ausgespielt, Ernesto ist es, der die tödlich Verwundete auf ihr Zimmer trägt. Bertos Schuldbewusstsein regt sich schon, als die Carabinieri eintreffen: „Bei ihrem Anblick klapperten mir die Zähne, als sei ich Talino …“ Dann sucht er vor sich selbst eine weniger belastende Erklärung.
Die Geschichte ist mit der einsetzenden Agonie Gisellas im Grunde zu Ende, Pavese führt sie als Neorealist nur sozusagen der guten Ordnung halber bis an ihr definitives Ende fort. Berto rationalisiert währenddessen seine Schuldgefühle noch eine Weile mit unlogischen Zuweisungen. So ist er böse „auf alle die anderen, die das im voraus gewusst, und mir nichts davon gesagt hatten.“ Oder sagt umgekehrt auf Vinverras Äußerung, Talino wäre besser im Gefängnis geblieben: „Besser wäre ich im Gefängnis geblieben.“
6. Tag
Nicht Berto, Ernesto war bei Gisella in ihrer Agonie. Berto findet ihn am anderen Morgen bei der Toten und tritt seine Arbeit als Maschinist an ihn ab. Bevor er den Hof verlässt, schläft und träumt er noch einmal auf dem Heuboden. Plötzlich ist der zwischenzeitlich flüchtige Talino wieder da – Berto: „Noch heute weiß ich nicht, warum ich mich nicht auf ihn gestürzt und zu ihn zu Boden geworfen habe.“ Aufgrund dieser Hemmung kann Talino noch einmal entkommen. Berto, fertig zum Weggehen, sieht vom Hof aus nur noch Adele herunterschauen. „Dass sie es meinetwegen tat, glaube ich aber nicht.“ Es gibt keine Verbindung mehr zwischen diesen Bauern und ihm, dem isolierten modernen Großstädter. Berto ist ausgeschlossen worden, er ist endlich ganz frei.
Wer ist dieser Berto? Er ist einer voll ambivalenter Gefühle. Er pendelt bindungsunfähig zwischen den Geschlechtern. So wie es bei Freud denjenigen gibt, der am Erfolg scheitert, kann man von Berto sagen, er sei der Typ, der sich durch Scheitern erst verwirklicht. Berto ist außerdem der für das Werk Paveses typische Held. Ihm sehr ähnliche Figuren sind z.B. die Ich-Erzähler aus den Erzählungen „Die Selbstmörder“ und „Hochzeitsreise“. In dem kleinen Roman „Am Strand“ spaltet er sich in mehrere Figuren auf, die den gleichen Part abwechselnd übernehmen. Auch Corradino in „Die Familie“ ist ihm nahe verwandt. Die Reihe könnte durch viele Erzählungen und die meisten seiner Romane fortgesetzt werden. In „Die einsamen Frauen“ hat diese zentrale Figur das Geschlecht gewechselt. Hier ist es die Ich-Erzählerin Clelia, die sich sonderbar unberührt durch die bessere Turiner Gesellschaft treiben lässt. Sie spielt, wie Berto mit Gisella, mit dem Polier Becuccio, der seinerseits auf Distanz geht. Das diskret Homoerotische aus „Unter Bauern“ verwandelt sich in „Die einsamen Frauen“ in öfter und offen thematisierte lesbische Beziehungen. In beiden Romanen wird am Schluss ein Menschenopfer gebracht, in „Die einsamen Frauen“ stirbt Rosetta von eigener Hand, ganz ähnlich wie der Autor Pavese bald nach Erscheinen des Buches.
Dass man den Ich-Erzähler nicht mit dem Schriftsteller gleichsetzen darf, ist eine Binsenweisheit. Gleichwohl ist die Nähe des Menschen Pavese zu seinen Hauptfiguren unverkennbar. Die stärksten Belege dafür findet der Leser in seinem posthum veröffentlichten Tagebuch „Das Handwerk des Lebens“. Hier zum Abschluss einige Zitate daraus aus den Jahren 1936 - 1939, die eine vor allem individualpsychologische Deutung seiner Werke unterstützen:
Es liegt im Unrecht-Erleiden – genau wie in einem Wintermorgen – eine Trostlosigkeit, die uns merkwürdig belebt.
… eine Frau, die das vernunftbegabteste Tier ist, das es gibt …
Das Einzige, was klar ist, ist, dass die Toten verwesen. Mit all diesem Gift im Leibe.
Die Kunst des Lebens besteht darin, dass man den liebsten Menschen die eigene Freude am Zusammensein verbirgt; sonst verliert man sie.
… dass Verliebtsein eine persönliche Tatsache ist, die das geliebte Objekt nichts angeht.
Versuch einmal, jemandem Gutes zu tun. Nach einer Weile wirst du sehen, wie du dieses ebenso bedrückte wie strahlende Gesicht hassen wirst.
Dass wir nie mehr eine Frau erobern werden (auch keinen Mann), ist klar …
Meine Geschichten sind immer nur Liebesgeschichten oder solche der Einsamkeit.
… die einzig wahre Erkenntnis findet statt durch Liebes-Identifikation …
Da man eine Frau ja doch früher oder später sitzen lassen muss, kann man sie genauso gut sofort sitzen lassen.
(Die Zitate folgen in „Unter Bauern“ der Übersetzung von Arianna Giachi, in „Das Handwerk des Lebens“ der von Charlotte Birnbaum.)
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