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M 29
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Autor
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Thema: M 29
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 17.09.2011 um 09:55 Uhr |
- Ganz vorn auf dem Oberdeck: Berlin kommt mir entgegen -
Die richtige Bushaltestelle zu finden, ist nicht einfach – am Hermannplatz gibt es so viele. Es ist die an der rückwärtigen Schmalseite von Karstadt, am Anfang der Urbanstraße. Die Linie M 29 fängt hier an. Kommt der Doppeldecker aus der Wartestellung, heißt es: möglichst als Erster hinauf und nach vorn auf einen der Logenplätze. Ich ergattere den idealen, den über dem Fahrersitz. Von hier hat man den besten Blick in den Straßenraum vor einem.
Hinter mir drängt eine Mutti mit zwei Buben nach. Die Kleinen nehmen die Doppelbank rechts vorn, die Mutter schräg dahinter. Sie palavern über alles Mögliche, auch über den Verein, wo die beiden Fußball spielen. „Wie feuert ihr eure Mannschaft immer an?“ fragt Mutti etwas unbedacht. Bald braust der Schlachtruf wie Donnerhall durchs Oberdeck, immer wieder. Zum Glück steigen sie bald aus.
Die erste Viertelstunde ist schon die eindrucksvollste. Der Bus fährt drei Blocks die Neuköllner Sonnenallee hinunter, biegt dann links ab und überquert den Landwehrkanal, fährt in Kreuzberg weiter, unter der Hochbahn durch und die von so vielen Restaurants gesäumte Oranienstraße entlang. Es ist ein bisschen wie 3D-Kino, das einen ins frühe 20. Jahrhundert zurückversetzt. Geschlossene Altbaufronten mit vier, fünf Stockwerken kommen permanent auf einen zu, ein Bild, wie es sich nur an wenigen Punkten in Europa so noch bietet. Dabei ist es eher die schiere Masse, die einen beeindruckt, weniger die Schönheit der Fassaden. Das hier waren die meiste Zeit Kleine-Leute-Viertel gewesen, auch wenn der Reuterkiez vor dem Landwehrkanal durch Zuzug gerade sozial aufsteigt. Immerhin ist es bunt geworden nach der Wende. Als die Mauer fiel, waren auch die Tage des Ost- wie Westberliner Einheitsgraus gezählt.
Gleich hinter dem Moritzplatz wandelt sich das Bild grundlegend. Das westliche Kreuzberg war im Krieg stark zerstört und ist durch Jahrzehnte in wechselnden Stilen wieder aufgebaut worden. So wirkt es wie eine Architekturausstellung, die weiträumig viel Mittelmäßiges zeigt, so mittelmäßig wie unsere Epoche. Gewiss kann man auch da wohnen, z.B. in der Otto-Suhr-Siedlung mit dem Waldeck-Park gleich daneben. Dann kommt die massige Bundesdruckerei ins Blickfeld. Es erscheinen mehr und mehr Bürobauten, beinahe schon beherrschend das Springerhaus rechts an der Rudi-Dutschke-Straße. Ob ihm das gefallen hätte, sein Name für eine Straße zu Füßen des konservativen Verlagshauses? Ich war Jahrzehnte nicht mehr hier und sehe staunend, dass das Haus sich mindestens verdoppelt hat. Quer zu der mir von früher bekannten goldenen Hochhausscheibe steht jetzt eine silberne und auf der anderen Seite ein mehrstöckiger Neubau - noch ein Einkaufszentrum?
Anhalter Bahnhof. Hier ist so viel gebaut worden, dass ich das alte Wohnhochhaus beinahe nicht entdecke. Da oben habe ich mal Kaffee getrunken – und jetzt sehe ich wieder hinunter auf die Ruine, das Portal des alten Fernbahnhofs. Er ist nicht wiedergekommen, den Nahverkehr wickelt man heute unterirdisch ab. Wo früher die großen Züge nach Süden abfuhren, wird nun Fußball gespielt.
Wir erreichen wieder den Landwehrkanal, bleiben noch diesseits. Rechts vor mir jetzt die Neue Nationalgalerie, für mich eines der schönsten Gebäude Berlins, und ich nehme mir vor, bald einmal das Mies van der Rohe–Haus in Hohenschönhausen zu besuchen. Kurz darauf noch ein aufregendes Gebäude, das Shell-Haus, um 1930 gebaut. Für Meinhard von Gerkan, den Architekten des Hauptbahnhofs, ist dieses nun das schönste der Stadt. Dann kommt noch der Glaspalast der CDU, aber wir biegen vorher links ab und sind schon am anderen Ufer.
Seit einiger Zeit sitzen neben mir ein älterer Mann und seine junge Verwandte. Vom Kontrastmittel reden sie, er ist geröntgt worden und hat vielleicht einen Eingriff vor sich. Nun zeigt er ihr während der Fahrt seine Stadt, er vergewissert sich ihrer auf diese Weise. Ich tue dasselbe still für mich, denn es war auch mal meine Stadt. In einer der Parallelstraßen habe ich jahrelang gewohnt, zuerst am einen, später am anderen Ende. Das eine Haus steht schon nicht mehr.
Ich schaue über einen griechischen Tempel – U-Bahnhof Wittenbergplatz - auf die Fassade des KaDeWe, die vor allem nach viel Umsatz aussieht – Stein gewordene Kaufkraft. Der Tauentzien wird gerade umgebaut, wie die ganze City West entschieden den Konkurrenzkampf aufnimmt, gegen den Alex und die Friedrichstraße. Hier im Westen wohnt die Mehrheit der Berliner, es ist natürlich, dass da auch das größte Geschäftszentrum liegt. Doch muss es so klotzig aussehen, wenn man klotzen will? Der Breitscheidplatz, die Ecke Joachimstaler, da ist es noch voller als früher, noch höher bebaut, aber ist es auch urbaner geworden? Ein so hässliches Wort wie Aufenthaltsqualität kommt mir in den Sinn – das ist es, was ich hier vermisse. Ich erhasche einen Blick auf den bald fertigen neuen Hotelwolkenkratzer und sehe vor ihm ein kleines Hochhaus, das ich noch nicht kenne – ach, es ist der Turm der alten Gedächtniskirche, eingerüstet und mit Platten abgedeckt, die eine Fassade nur simulieren.
Das Kranzler-Eck steht auch noch da, leicht verändert. Das Café jetzt in die Dachrotunde verbannt und nur noch mit Lift zu erreichen - unten soll man Waren einkaufen … Und wo sind die Kinos, sag mir, wo die Kinos sind … Jedenfalls nicht mehr am Kudamm, bis auf das Cinéma Paris an der Ecke Uhlandstraße – die Immobilie gehört dem kulturbeflissenen französischen Staat. Auch in der Uhlandstraße habe ich mal gewohnt, und zu jeder Nebenstraße fallen mir jetzt Geschichten ein. Am Lehniner Platz konnte man früher billig Pizza essen oder griechisch oder sonst was. Und heute? Ist da ein Spielsalon, und das gleich neben der Schaubühne. (Psst, hier in der Nähe, habe ich gehört, hat ein neulich abservierter Parteivorsitzender seine Berliner Wohnung.)
Die Stadt feiert gerade 125 Jahre Kudamm. Ich habe nach einer Dreiviertelstunde Fahrt schon genug und steige in Halensee aus. Wundere mich, wie schlecht die Luft da ist und dass Mieten und Immobilienpreise in dieser Gegend trotzdem rasant steigen. Ich gehe zur Ringbahn hinunter und fahre mit der S-Bahn zum Wedding. Ohne mich rollt der M 29 weiter zum Roseneck, ins Villenviertel Grunewald, dahin wo die wirklich feinen Leute wohnen.
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