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Literaturforum: Sittenbild der DDR


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Forum > Aesthetik > Sittenbild der DDR
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 Thema: Sittenbild der DDR
Jasmin
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 26.03.2006 um 19:37 Uhr

Wolf Biermann über den Stasi-Film des jungen westdeutschen Regisseurs Florian Henckel von Donnersmarck:

"Das Leben der Anderen"

Zitat:

Vor zwei Monaten saß ich am Ostberliner Kollwitz-Platz im Prenzlauer Berg mit fünf Freunden zusammen. Marianne Birthler zeigte uns eine Voraus-DVD mit einem Film von einem unbekannten jungen Regisseur über die DDR: "Das Leben der Anderen". Wir, die wir uns am Fernseher den neuen Film anschauten, waren oppositionelle DDR-Bürger, manche von uns schmerzgeprüfte Knastkenner des Regimes. Als ich den Namen des jungen Regisseurs las, fiel mir ein, daß dieser Florian Henckel von Donnersmarck mir vor vielleicht zwei Jahren seinen Entwurf für einen Film über die DDR-Staatssicherheit geschickt hatte. Ich durchblätterte damals genervt das Filmskript. Ich wollte mit solch einem Projekt nichts zu tun haben. Ich war mir sicher, daß dieser Anfänger, dieser naive Knabe mit der Gnade einer späten Hochwohlgeborenheit im Westen nie und nimmer solch einen DDR-Stoff bewältigen kann, weder politisch noch künstlerisch.

[...]

Aber zurück zu unserem Film "Das Leben der Anderen". Das ist die Story: Ein professioneller Menschen-Zersetzer, ein verbohrter "Kämpfer an der unsichtbaren Front" wird selber zersetzt. Der MfS-Hauptmann Gerd Wiesler ist ein harter Knochen, aber er wird weich. Er belauscht über Abhörwanzen die Liebenden und schleicht dann nach Dienstschluß in den realsozialistischen Kachelsarg seiner Neubauwohnung und kriecht in sein leeres Bett. Ein anderes Mal verrichtet er in seinem sterilen Wohnzimmer mit einer 15-Minuten-Miet-Dame des MfS-Sex-Service seine Notdurft. Dieser Mann ist mindestens so einsam wie seine Opfer in der Einzelzelle und unvergleichlich schlechter dran als die Schauspielerin und ihr Schriftsteller, die er mit seinen Untergebenen rund um die Uhr abhören und beschatten muß.


Auf dem Dachboden über der verwanzten Wohnung zeichnet er wochenlang Wort für Wort die Diskussionen wie auch das Schweigen der operativ zu bearbeitenden Intellektuellen auf. Und er wird dabei mehr und mehr verführt von deren Lebendigkeit. Am Ende der Geschichte ist er verdorben für diesen miesen Job als Menschen-Zersetzer. Er geht im allerschönsten Sinn kaputt beim professionellen Kaputtmachen, und das ist die märchenhafte Variation einer deformation professionelle.

[...]

Mir konnte dieser Film etwas vermitteln, was ich mir niemals "in echt" hatte vorstellen können.

In den Zehntausenden Seiten meiner Stasi-Akten fanden sich etwa 215 (in Worten: zweihundertundfünfzehn) Decknamen dieser und jener Inoffiziellen Mitarbeiter, vulgo: Spitzel, viele dieser Gesichter kenne ich natürlich. In den Dokumenten finden sich aber auch die bürgerlichen Klar-Namen etlicher offizieller Mitarbeiter, alles Offiziere, also höhere Schreibtischtäter, etwa die der Genossen Reuter und Lohr, also Gestalten wie in dem Film. Solch gesichtslosen Kanaillen leiht das Kunstwerk die Gesichtszüge der Schauspieler aus, in denen ich nun lesen kann. Lohr und Reuter waren jahrelang im Zentralen Operativen Vorgang (ZOV) "Lyriker" damit beschäftigt, mich - so chemisch klingt der terminus technicus im Stasijargon - systematisch zu "zersetzen". Zwei von den etwa 20 Maßnahmen stehen so da, mit beiden Stasi-Zeigefingern auf der Dienstschreibmaschine in die lange Liste getippt: "Zerstörung aller Liebes- und Freundschaftsbeziehungen". Eine andere: "Falsche medizinische Behandlung".




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LX.C
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 26.03.2006 um 23:47 Uhr

Warum nennst du deinen Beitrag "Sittenbild der DDR"?


.
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Jasmin
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.03.2006 um 00:01 Uhr

Dieser Ausdruck kommt in der Filmbesprechung von Wolf Biermann vor und ich habe ihn übernommen. Biermann bezeichnet den Film, um den es hier geht, an einer Stelle im zitierten Artikel so. Vielleicht hätte ich besser den Titel des Films nehmen sollen.

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LX.C
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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.03.2006 um 00:19 Uhr

Das hättest du, denn so gut dieser Film vielleicht auch sein mag, wird er mit Sicherheit kein Sittenbild der DDR vermitteln.


.
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Kenon
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4. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.03.2006 um 00:24 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 00:26:32 am 27.03.2006 editiert

Zitat:

Das hättest du, denn so gut dieser Film vielleicht auch sein mag, wird er mit Sicherheit kein Sittenbild der DDR vermitteln.

Und wie wäre "Ein Sittenbild aus der DDR, nachgespielt" gewesen?

Den Biermann-Artikel finde ich übrigens fürchterlich, Beispiel:

Zitat:

Diese betrügerische Bankrotterklärung hört man immer öfter. Aber solch eine lumpenhafte Bescheidenheit ist nichts als die feige Flucht in das, was Immanuel Kant eine "selbstverschuldete Unmündigkeit" nennt.

Was fürn Papa. Den hab´ ich satt.

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Jasmin
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5. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.03.2006 um 00:41 Uhr

Zitat:

Das hättest du, denn so gut dieser Film vielleicht auch sein mag, wird er mit Sicherheit kein Sittenbild der DDR vermitteln.

Der Film soll sehr authentisch sein, sagt sein Regisseur in einem aktuellen

Interview .

Wenn der Titel anstößig sein sollte, dann kann man ihn ja vielleicht ändern.

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Jasmin
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6. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.03.2006 um 01:15 Uhr

Zitat:

Neben enthusiastischer Zustimmung erfährt der Film "Das Leben der Anderen" auch empörte Ablehnung. Opfer des Staatssicherheitsdienstes melden sich zu Wort und werfen dem jungen Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck vor, er beschönige das DDR-Regime durch die Figur eines Stasi-Hauptmanns, der geläutert werde. Von anderer Seite wird behauptet, die Stasi sei längst nicht so finster gewesen wie im Film dargestellt. Die entgegengesetzten Urteile haben gemeinsam, daß sie dem Film vorwerfen, er erzähle, gemessen an der jeweils erinnerten Wirklichkeit, nicht die Wahrheit. Beides sind kunstfremde Urteile, welche die eigene bezwingende Wahrheit der in dem Film erzählten Geschichte nicht berühren, einer Geschichte, die erst durch die "unrealistische" Figur des Hauptmanns Wiesler mehr ist als die Abschilderung einer Abhör- und Zersetzungsaktion - und gerade dadurch ans Licht bringt, "wie es eigentlich gewesen ist".

Das Leben ist anders

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LX.C
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7. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.03.2006 um 02:15 Uhr

[Quote]Der Film soll sehr authentisch sein[/Quote]
Die gewissenlosen und unmoralischen Methoden des ehemaligen MfS sind inzwischen aus sachlichen Reportagen hinlänglich bekannt, damit kann der Film nicht mehr überraschen.
Vielleicht vermittelt er das Sittenbild einer Behörde. Das ist dann aber auch schon großzügig gesprochen.


.
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Kenon
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8. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.03.2006 um 02:21 Uhr

Historische Spielfilme verwässern immer das Geschichtsbild. Deswegen wohl auch die Aufregung der Betroffenen. (Erzählt mir jemand, er habe den "Untergang" gesehen und "so war es also damals wirklich!".)

PS: Zu diesem Thema hier wird ja lustige amazon-Werbung angezeigt...

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Kroni
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145 Forenbeiträge
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9. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 12.09.2006 um 15:31 Uhr

Die DDR ist für mich stets ein Thema. Seit 1996, seit 10 Jahren also lebe ich auf ihrem ehemaligen Hoheitsgebiet, unter und mit den "gelernten DDR-Bürgern".

Ich selbst habe die DDR nur zweimal persönlich intensiver erlebt, auf von der Uni Saarbrücken organisierten "Exkursionen" anlässlich der Leipziger Messe, gegen Ende der Achziger Jahre - und gegen Ende der DDR.

Ich habe hier viel zu tun mit Leben und "Karrieren", die zu einem erheblichen Teil in der DDR stattfanden, mit Persönlichkeiten und Charakteren, die in ihr geprägt worden sind.

Opfer und Täter, Aufrechte und Verbogene - sie alle erlebe ich.

Mich zu orientieren helfen mir noch heute folgende Bücher:

"Die Spur der Steine", deren Autor mir peinlicherweise nicht präsent ist - vor allem aber der hierauf beruhende, grandiose Film.

"Die Aula" von Hermann Kant, die in einer Rahmenhandlung erzählten Biographien von von einigen frühen Absolventen der Arbeiter- und Bauernfakultäten.

"Der Erste" von Landolf Scherzer, der lustigerweise auch noch bei mir um die Ecke wohnt: die vierwöchige Teilnahme des durchaus "regimefreundlichen" Journalisten und Schriftstellers Scherzer am Arbeitsalltag des Ersten Sekretärs der Kreisorganisation der SED Bad Salzungen, die aus Ankämpfen gegen Resignation, Idealismus und Drückebergerei, Rückständigkeit und einem fast verzweifelten Willen nach Fortschritt und nicht zuletzt: aus einer gehörigen Portion Alkoholismus bestand.

Gerade dieses letzte Buch, daß aus verständlichen Gründen das Thema "MfS" komplett ausblendete, hat mir bei dem schwierigen Versuch, die Menschen um mich herum wenigstens etwas zu verstehen, sehr geholfen.

P.K.

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