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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 07.05.2006 um 09:42 Uhr |
„Hallo Alter“, rief Müller junior, „wusstest du, dass Johann Sebastian Bach 1685 geboren wurde?“ Der Junge war soeben vom Klavierunterricht nach Hause gekommen.
„Tatsächlich?“, staunte der Vater. „Und mir ist, als wäre es erst neulich gewesen. Wie die Zeit verfliegt!“
„Du mit deinen Witzen“, erwiderte der Junior. „aber die werden dir bald vergehen!“
„Oh, willst du etwas wieder zwanzig Mal die Tonleiter üben?“ lachte der Senior.
Das Spiel von Tonleitern ist eine seit Jahrhunderten bewährte Methode, eine Familie zur Verzweiflung zu bringen. Ein absolut sicheres Mittel, es sich mit allen Nachbarn zu verderben und die Hausgemeinschaft zu zerrütten, ist das stundenlange Üben von Etüden. Andererseits kann man feststellen, dass manche Zeitgenossen sehr wenig Verständnis für eine konzentrierte künstlerische Betätigung aufbringen.
„Seit vier Wochen klimpert Ihr Sohn immerzu das selbe Stück“, beschwerte sich neulich ein Nachbar bei Herrn Müller.
„Das ist für Elise“, sagte dieser stolz.
„Naja“, nickte der Nachbar, „aber kann sich diese Elise nicht einmal etwas anderes wünschen?“
Mit diesem Ersuchen konfrontiert, sagte der Junge zum Vater: „Ab heute übe ich ein ‚Kleines Präludium’. Und damit du nicht gleich wieder jammerst, du müsstest ein Vermögen für Notenhefte ausgeben, hat es mir der Klavierlehrer aufgeschrieben.“
Zum Beweis legte er das ‚Kleine Präludium’ auf den Balkontisch.
Von Südwest kam ein leichter Windstoß. Er hob das Notenblatt sanft hoch, trug es über das Balkongeländer und ließ es fallen.
„Mein ‚Kleines Präludium’!“ Müller junior sah seinen Vater an, als hätte er den Wind gemacht.
„Das kriegen wir wieder“, versprach Müller senior, „das ist kulturelles Erbe, so etwas geht bei uns nicht verloren!“
Beide beugten sich über die Balkonbrüstung. Das ‚Kleine Präludium’ blieb verschwunden.
„Wenn das ein Lustspielfilm wäre, wohin würde der Wind das Notenblatt wohl wehen? Auf den Balkon unter uns!“
„Weil da das hübsche Fräulein Vera wohnt“, fügte Müller senior hinzu, jedoch bloß in Gedanken.
So klingelten Vater und Sohn bei der hübschen Vera.
„Hallo“, flötete sie, „was für eine Überraschung, Herr Müller. Ich kann Ihnen leider nicht die Hand geben, ohne mein Handtuch fallen zu lassen. Ich habe auf dem Balkon soeben ein Sonnenbad genommen.“
„Wunderbar!“ Müller senior zeigte ihr sein breitestes Lächeln.
„Da können Sie mir vielleicht helfen. Ich suche nämlich ein ‚Kleines Präludium’“
„Das haben Sie aber schön gesagt“, flüsterte sie mit verheißungsvollem Unterton. „Es muss ja nicht beim Präludium bleiben, oder? Wir haben ja noch den ganzen Nachmittag vor uns!“
Da entdeckte die hübsche Vera den Jungen, der neben der Tür stand und mit großen Augen zuhörte.
„Was denn“, sagte sie mit nunmehr scharfer Stimme, „Sie bringen Ihr Kind mit? Schämen Sie sich denn nicht? Aber nicht bei und mit mir!“
Bums, und die Tür war zu.
„Was meinte sie damit, es muss ja nicht beim kleinen Präludium bleiben?“, fragte Müller junior.
„Das lernst du alles noch in der Schule, später, in den höheren Klassen“, antwortete der Vater.
Der Hausmeister kam mit seinem Werkzeugkasten die Treppe herauf.
„Guten Tag Herr Swoboda!“ rief ihm der Junge entgegen. „Wir suchen ein ‚Kleines Präludium“!
Der Hausmeister strich ihm übers Haar und sah Vater Müller gerührt an.
„Was für ein liebes Kind. Glaubt noch an Wunder! Wenn das Leben so einfach wäre, mein Junge! Ersatzteile! Je kleiner sie sind, desto schwerer sind sie zu bekommen!“
Er klopfte dem Buben auf die Schulter, sagte: „Nur nicht den Mut verlieren!“ und ging zu Fräulein Vera einen Haken einschlagen.
Vater und Sohn Müller kombinierten, dass die Noten auch noch einen Balkon tiefer gefallen sein könnten, und klingelten beim Ehepaar Platzer.
Frau Platzer öffnete. Durch die Glastür sahen sie Herrn Platzer mit einem Blatt Papier in der Hand auf dem Balkon.
„Nur eine Frage, Frau Platzer“, sagte Müller senior höflich. „Hat Ihr Mann ein ‚Kleines Präludium’?“
Die Frau warf ihm einen Blick zu, dessen Spuren bestimmt heute noch im Stiegenhaus zu sehen sind, da wo der Verputz abbröckelt.
„Was geht das denn Sie an? Machen Sie etwa eine von diesen unanständigen Umfragen? Wir kommen mit unseren Problemen allein zurecht!“
Vor der Haustür trafen Vater und Sohn Müller einen Polizisten.
„Haben Sie vielleicht ein ‚Kleines Präludium’ gesehen?“ fragte der Vater. Der Wind hätte das Notenblatt ja auch bis auf die Straßen wehen können.
Der Polizist zog ein Notizbuch hervor.
„Größe? Haarfarbe? Besondere Kennzeichen? Staatsangehörigkeit?“
Der Junior durchsuchte die Fliederbüsche im Vorgarten. Dabei rief er: „Hallo! ‚Kleines Präludium’, wo bist du?“
„Du musst das Tierchen mit Futter locken“, sagte eine Frau mit Einkaufstasche. „Hier, ich gebe dir ein Stück Brot.“
Vor der Tür des Antiquitätenladens stand der Besitzer. Von ihm erzählen die Leute, er sei so in seinen Beruf vernarrt, dass er nur eine Frau heiraten wolle, die Alt singt.
Auf seinen fragenden Blick hin sagte Müller senior: „Wir suchen ein ‚Kleines Präludium’!“
„Ich werde sehen, was ich tun kann“, entgegnete der Händler zuvorkommend. „Möchten Sie es in Barock oder Rokoko?“
„Dein Präludium ist unser Untergang“, stöhnte der Vater. Worauf der Knabe völlig unmotiviert erklärte: „Ich will jetzt ein Eis!“
„Wenn ich etwas ganz Besonderes empfehlen darf“, sagte die Blondine im Café, „probieren Sie doch unseren Spezial-Eisbecher ‚Kleines Präludium’!“
Die Serviererin sah etwas verwirrt drein, als Müller senior und junior schweigend ihre Köpfe schüttelten und rasch das Freie suchten…
H. W. Grössinger
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