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Literaturforum: Zur Aktualität von Alois Brandstetters DIE ABTEI


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 Thema: Zur Aktualität von Alois Brandstetters DIE ABTEI
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 02.04.2020 um 17:16 Uhr

Bücher haben ihre Schicksale, und dasselbe gilt für Leser. Wer nach Jahrzehnten erneut zum selben Werk greift, bekommt einen Prüfstein in die Hand: Beurteile ich das Buch noch wie damals? Und falls nicht: Liegt es an mir, bin ich ein anderer geworden in der seither vergangenen Zeit? Um 1985 besuchte ich auf Reisen durch Süddeutschland, Österreich und die Schweiz viele Klöster, noch existierende wie längst aufgehobene. Zur Vertiefung las ich den 1977 erschienenen Roman Alois Brandstetters „Die Abtei“ und ärgerte mich, dass mein Kloster-Kunsttourismus beim Ich-Erzähler keine Gnade fand: „Das Klosterbesuchen, das Stifteanschauen und Kirchenbegaffen ist letztlich der Ausdruck einer großen Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit, das Denkmälerbestaunen ist ein Zeichen und Indiz des Indifferentismus, einer inneren Öde und Leere der Menschen …“ Ich revanchierte mich nach der Lektüre mit diesem Fazit:

„Erstaunlich, dass das Buch keine Langeweile erzeugt - damit ist schon alles Positive gesagt. Das Weltbild in ihm ist von äußerster Schlichtheit. Nicht zufällig fällt der Begriff von den zwei Lagern. Da schlägt sich einer in die Schanze für die ecclesia militans – und hat vielleicht gar keinen Begriff davon, was eine christliche Kirche sein kann. Für ihn ist es ein Schutz- und Trutzbündnis Gleichgesinnter, wobei der Inhalt der Gesinnung sich dem Wagenburgcharakter unterzuordnen scheint. Alles, was der Kirche heute Autorität verschaffen kann, wird wütend angegriffen. Im Übrigen wird krass überzeichnet. Das Stiftspersonal scheint fast nur aus Alkoholikern oder feigen Trotteln zu bestehen. Nichts dergleichen ist mir jemals unter die Augen gekommen. Was mir dort unangenehm auffiel, war eine gewisse Verdrießlichkeit, vor allem der Laien. Einige Mönche und Chorherren beeindruckten mich dagegen durch Ausstrahlung von Milde, Humanität und geistiger Entschiedenheit. Brandstetters Erzähler vergreift sich fortwährend im Ton. Von den Predigern, die er besonders aufs Korn nimmt, sagt er, er höre ihnen meistens gar nicht mehr zu. Im Übrigen liegt er fortwährend auf der Kalauer, scheut auch das plumpste Wortspiel nicht.“

Nun erneuter Versuch. Der Roman stellt eine Art Denkschrift des oberösterreichischen Polizeiinspektors Dr. Einberger dar, gerichtet an den Abt des Benediktinerklosters Freimünster. Einberger hatte den Diebstahl eines wertvollen Kelchs zu untersuchen, der Fall scheint von ihm aufgeklärt; es wird nur angedeutet. Der Inspektor erörtert stattdessen breit, was er für Fehlentwicklungen im Kloster wie im ganzen Land hält. Sein Text folgt dabei zunehmend der Tradition barocker Bußprediger. Ein Kunstgriff besteht darin, dass Einberger dem Abt häufig von seinen Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten im Wiener Bundeskriminalamt berichtet, so das Personal des Romans erweiternd. All das ist sprachlich eindrucksvoll, oft mitreißend und zeugt inhaltlich von breiter Bildung und fundiertem Fachwissen. Man wird den Germanisten und Historiker Brandstetter nicht vollkommen gleichsetzen dürfen mit dem eifernden Inspektor. Dass die zwei sich recht nahe stehen, geht allerdings schon aus dem Umstand hervor, dass beide Söhne von Müllern in Oberösterreich sind. Nur scheint Brandstetter dem Einberger nicht resolut genug zu sein – auch jener habe, moniert er, zum Einsturz der Wiener Reichsbrücke 1976 geschwiegen.

Weltanschaulich trennen mich, den Agnostiker mit pantheistischen Tendenzen, noch immer Welten von Brandstetter und Einberger. Dennoch machte mich die Lektüre im Verlauf jetzt nachdenklich. Mich überraschte, wie aktuell die im Detail geäußerte Kritik noch immer oder nun erst recht ist. Dies nicht in dem Sinne, dass sie stets überzeugend wäre, sondern dadurch, dass Einberger 1977 meist dieselben Themen aufgreift wie Fundamentalkritiker in der jetzt laufenden Dekade und in der gesamten Zeit dazwischen. Das Buch spiegelt so ein für einen langen Zeitabschnitt konstitutives Krisenbewusstsein. Darin liegt die Aktualität des Werks: aufzuzeigen, wo der Schuh wirklich drückt, seit langem und noch immer, sei es bezogen auf die Gesellschaft insgesamt oder beträchtliche Teile von ihr.

Es überrascht nicht, dass Einberger eine Theologie ohne Gott moniert. Satirisch nimmt er die seltsamen Bräuche bei Wallfahrten aufs Korn. Und er kreidet es Geistlichen an, wenn sie sich für weltoffen halten oder so geben. Weltoffen? Dieses Wort hat seitdem richtig Karriere gemacht, gehört längst zum argumentativen Kleingeld auch in politischer Debatte. Tatsächlich ist der Begriff seinem Inhalt nach neutral. Offenheit ist weder Wert noch Makel an sich.

Sonderbar, dass meine Ablehnung des Werks seinerzeit sich nur aufs Kirchliche, Klösterliche bezog, die säkularen Themen im Roman ausblendete. Allgemeine Gesellschaftskritik nimmt doch bei Einberger mehr Raum ein als Kirchen- und Klosterschelte. So schließt er sich bereits der jungen ökologischen Bewegung an, wettert gegen Energieverschwendung und Plastikmüll. Wenn er sich gegen Brutalismus in der Architektur wendet oder gegen hohe Opernsubventionen, wenn er Akademikerschwemme und Mangel in Alltagsberufen beklagt, die Vergötzung von Sportidolen geißelt – es ist immer volkstümlich kritisch, bewegt sich in einem oszillierendem Spektrum von konservativ bis progressiv - oder pseudofortschrittlich. Er stellt „Hochmächtige“ bei ihren Stiftsbesuchen bloß und wettert gegen den „kriminellen Schwachsinn der Kriege“. Seine Einstellung gegenüber den USA und deren Außenpolitik ist ausgesprochen negativ, ohne dass das Wort Vietnam fällt. Das ist nach weiteren Kriegen im Orient bis heute in großen Teilen der Bevölkerung anschlussfähig. Russland dagegen, dessen damaligen Staatsnamen er vermeidet, erregt eine gewisse Bewunderung in ihm. Den Einmarsch in Afghanistan 1979 und die fatalen Folgen hat er offenbar nicht vorausgesehen.

Schule und Erziehung, das ist ein weiteres Angriffsfeld für Einberger. Mal geht es ihm um die Rolle des Lehrers oder er kritisiert den Deutschunterricht als hohe Schule des Heuchelns. Er thematisiert auch schon den Dualismus Gedächtnis als Informationsspeicher versus Kompetenz im Nachschlagen, inzwischen hat sich die Problematik infolge der Digitalisierung noch verschärft. Noch präsenter als jener in der Pädagogik ist ein weiterer Gegensatz, der nicht nur Österreich bis heute viel zu schaffen macht, der zwischen Kapitale und Provinz. Einberger arbeitet sich immer aufs Neue ab an seinem Wien-Hass. Oberösterreich ist stets das Opfer. Bruckner und Stifter werden als Kronzeugen zitiert, ihnen an die Seite gestellt Gregor Mendel und Abraham a Sancta Clara, alle nicht aus Wien, doch langjährig dort in aufreibende Kämpfe mit potenten Ignoranten verwickelt.

Fürs Allgemeine fühlt sich Einberger auch zuständig, tadelt Kritik der Urteilsschwäche, redet vom Fluch der guten Tat und gibt sich auch mal taoistisch: „Nicht zu handeln kann die angebrachteste Handlung sein.“

Mein Fazit nun, fünfunddreißig Jahre später: Ich nehme alles zurück und behaupte dennoch nicht durchgehend das Gegenteil. Brandstetters seltsamer Roman, eine Jeremiade als Kunst des Klagens, ist amüsant und provokant, ihn zu lesen bereichernd, wenn man zu differenzieren versteht. Was möglicherweise nicht die Absicht des Autors und gewiss nicht die seines Dr. Einberger war. Bücher haben auch ihre Schicksale …

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