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Literaturforum: Prousts Spur in Andrew Hollerans NÄCHTE AUF ARUBA


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 Thema: Prousts Spur in Andrew Hollerans NÄCHTE AUF ARUBA
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 28.11.2014 um 11:32 Uhr

Marcel Proust beginnt seinen großen Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" mit der Darstellung von Schlafgewohnheiten und deren Wandel und Störungen: "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen …" Andrew Holleran nimmt das Thema zu Beginn seiner Einleitung so auf: "Während meiner ersten Zeit in New York versuchte ich möglichst, die Sonntage im Winter durchzuschlafen …" Was zuerst wie ein zufälliger Anklang erscheint, stellt sich bei näherer Lektüre als wohl bewusstes Anknüpfen heraus. Schon auf der ersten Seite werden uns Gegenstände präsentiert, die ein "früherer Liebhaber" in der Wohnung zurückgelassen hat, wie eine "Albertine disparue". Nur eine Seite weiter taucht bereits das Proustsche Motiv der Zeitvergeudung auf: "... das Zimmer …, in dem … ich eine weitere Nacht meiner Jugend verschwendete …" Wenig später folgt die Erinnerung an den Gute-Nacht-Segen der Mutter auf Aruba, analog einem ähnlichen Ritual in der "Recherche". An Proust erinnern bald auch der oft komplizierte Satzbau und die schweifende Struktur der Erzählweise, regiert vom Bewusstseinsstrom, der hier wie da rasch wechselnde Schauplätze aufsucht. Wir finden bei Hollerans Ich-Erzähler wie bei jenem von Proust die gleichen Ansätze zur Persönlichkeitsspaltung, mitsamt selbstkritischer Analyse. Am Ende dieser Ouvertüre erfahren wir die Absicht hinter dem Werk: die Problematik der Gegenwart verstehen, sie vielleicht mildern, indem ihr Bezug zur Vergangenheit aufgedeckt wird. Da ist wieder einer auf der Suche nach der verlorenen Zeit …

In Hollerans Roman wird Marcel Proust genau zweimal namentlich erwähnt, nicht vom Erzähler selbst, sondern nacheinander von zwei Freunden von ihm, die literarisch gebildet sind. Mr. Friel, Ex-College-Professor, sagt: "Früher habe ich in der U-Bahn Proust gelesen …" Und "die Muschel", Anführer einer Clique schwuler GIs in Heidelberg, weist Stone von den "Schrecklichen Zwillingen" so zurecht: "Im EM-Club diskutieren wir ja auch nicht gerade jeden Abend Proust, oder, Trinchen?"

In Kapitel 1 – auf der karibischen Insel Aruba wie in einem neuen Combray spielend - wird die stilistische Verwandtschaft noch deutlicher: Detailreichtum und –genauigkeit à la Proust, Fülle an Personen, Blick für die Eigenart der Landschaft wie des sozialen Gefüges, charakteristische Szenen aus einer Kinderwelt (wie die Episode mit der Wasserwanze). Ordnung und Chaos sind die großen Gegensätze und katholische Religiosität ein Orientierungsrahmen. Mit dem damals noch religiös überspannten Knaben Wheatworth taucht der Erste der späteren Gefährten auf. Dann wird der Erzähler zur Ausbildung nach Neuengland geschickt, und die Eltern siedeln sich als Rentner in der Kleinstadt Jasper, Florida, an. Wenn er sie dort besucht, ist von einem vielversprechenden jungen Mann die Rede, wie von einem neuen Saint Loup: Vittorino. Der Erzähler vermutet inzwischen, er selbst sei schwul.

Der Vietnamkrieg dauert noch an, als der Held in Kapitel 3 seinen Wehrdienst in Heidelberg ableisten muss (gewissermaßen ein modernes Doncières). Dort gehören Vittorino und Wheatworth schon zum Gefolge der "Muschel", ebenso die "Schrecklichen Zwillinge". Die Clique erinnert von fern an den Kreis der Verdurins bei Proust, doch ist die bizarre "Muschel" weniger eine Madame Verdurin als ein Baron Charlus, und aus dem Pianisten Morel ist ein bisexueller Koch in den Patton Barracks geworden. Es gibt hier wie dort einen Skandal, und bei seiner Rückkehr in die Staaten ist der Held nicht mehr jungfräulich, hat sein Coming-out nun hinter sich.

Die Kapitel 4 und 5 entsprechen so gesehen "Sodom und Gomorra" in der "Recherche". Der Zusammenhalt der Clique lockert sich, jeder macht – post Stonewall – seine eigenen Erfahrungen im erotisch aufgeheizten New York der siebziger Jahre, in den Bars, Diskotheken, Saunen, Parks und auf den Straßen auch. Den wesentlich älteren Mr. Friel lernen sie kennen, als sie eine Zeitlang zu einer Drückerkolonne für Enzyklopädien gehören. Die meisten von ihnen leben dann lange im damals immer mehr verfallenden East Village. Die Gegenwelt dazu ist die ihrer bürgerlichen Eltern außerhalb von Manhattan, oft in weit entfernten Bundesstaaten. Eltern zu Besuch in der Stadt, Eltern überhaupt – Dissonanzen, nicht auflösbar. Vittorio sagt: "Du kannst die zwei Welten nicht vereinen" – und der Erzähler registriert schon die "Banalität der Freundespaare". Das Phänomen Zeit gerät allmählich ins Blickfeld, zuerst nur negativ formuliert: "In der Sauna gab es kein Wetter, keine Geschichte, keine Zeit …" Das erscheint als Vorteil, denn von einem beliebigen Liebhaber sagt der Erzähler, er sei "umfangen von elastischen Häuten, die sich unendlich über Zeit und Raum ausdehnen und ihm nur eine kurze Frist gewähren."

In den beiden folgenden Kapiteln wird der Dualismus schwules New York – provinzielle Herkunft immer weiter vertieft. Der Erzähler reist regelmäßig nach Jasper, meist für länger. Der Proust-Kenner denkt an die Reisen von Paris nach Balbec. Eine neunmonatige Zeit in Florida würde dann dem langen Sanatoriumsaufenthalt in der "Recherche" entsprechen. Der Konflikt wird nie offen ausgetragen. Von seiner Mutter einmal gefragt, ob er homosexuell sei, verneint der Held entschieden und imitiert einen Wutanfall seines Vaters. Also immer wieder Ausweichmanöver, Rollenwechsel, Rückverwandlungen. Diese Passagen weisen die größte Distanz zu Prousts Roman auf, hier sind wir nur noch im späten 20. Jahrhundert, ohne doppelten literarischen Boden. Näher am Vorbild ist dann wieder die gesellschaftliche Ernüchterung des Erzählers in New York. Er ist so desillusioniert vom schwulen New York wie sein Vorgänger vom Faubourg Saint Germain. Und nun eingeschoben die einzige intensive Liebesbeziehung des Erzählers, als Ergebnis ein nicht zu verwindender Verlust. Albertine heißt jetzt Sal, und dass er Arbeiter auf einem Flughafen ist, mag eine weitere Anspielung sein. Erinnern wir uns, dass Albertines Hauptvorbild Alfredo Agostinelli war, dessen Leidenschaft für die Aviatik ihn das Leben kostete. Deutlich wird Prousts Einfluss auf Holleran z.B. hier: "Als ob jede Erfahrung verzögerte Reaktionen nach sich zieht, fing ich an, den Winter, den ich mit ihm verbracht hatte, in jedem folgenden Jahr noch einmal zu erleben, in Erinnerungen, die durch ganz unbedeutende Dinge hervorgerufen wurden: das Rauschen von Reifen auf dem Asphalt, der Geruch von Schnee in der Luft, das Geräusch von Ästen die aneinander reiben."

Die Konflikte im Rentnerparadies bleiben also latent, und Paul, der Ich-Erzähler – auch sein Name wird nur einmal genannt –, empfindet daheim Schuldgefühle, die sich mit zunehmender Hinfälligkeit seiner Eltern verflüchtigen: Harmonie einer Koexistenz mit Greisen. (Die Eltern erinnern jetzt an den Herzog und die Herzogin von Guermantes im letzten Teil der "Recherche".) Vittorino dagegen fordert am Ende des 6. Kapitels von Paul die Rückkehr ins "Leben", denn - "die Zeit vergeht …" Genau das stellt Paul dann auch im folgenden letzten Kapitel in New York fest. Die achtziger Jahre haben begonnen, es hat ein radikaler Wechsel der Moden stattgefunden, Bärte jeder Art sind jetzt out. Der Typ Mann, den er mochte, wird nicht mehr geschätzt: "Clones Go Home" liest er auf Plakaten. Wenn Paul jetzt durch Manhattan geht, empfindet er die gleiche Melancholie wie der Erzähler am Ende von "In Swanns Welt": "… und Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre." Das Phänomen Zeit wird nun beherrschend. Die Parallelen zwischen Holleran und Proust werden auf diesen letzten Seiten überdeutlich. Die Last des Erinnerns ist sehr fühlbar geworden. Es sind "die Herzen der Menschen auf unserem Planeten völlig von ihren Erinnerungen und Sehnsüchten verhüllt" – es droht "Unwissenheit". Paul weiß, dass ihn die Erinnerungen an Aruba nie verlassen werden, aber er will jetzt in der Mitte seiner Jahre "mein eigenes Leben beginnen – das einer eigenständigen Person." An die Stelle von Prousts Projekt einer literarischen Großtat tritt bei Holleran also die nüchterne Lebenspraxis, tritt Reife, an sich kein übler Schluss.

Dieses letzte Kapitel mag einem dennoch etwas kurzatmig vorkommen im Vergleich mit den vorangegangenen und erst recht mit der "Recherche". Das kann zwei Gründe haben: Zum einen war sein Verfasser als Enddreißiger noch nicht in wirklich reifem Alter, während Proust, als er letzte Hand anlegte, mit Anfang fünfzig schon den Tod vor sich sah. Zum andern fällt die Niederschrift mit dem Zusammenbruch der sehr freizügigen und promisken Welt der siebziger Jahre zusammen. Am Ende des Romans sterben bereits viele an AIDS, ohne dass der Name der Krankheit genannt wird, er wurde erst im Juli 1982 kreiert. Als Holleran sein Buch 1983 veröffentlichte, war die Entwicklung der Epidemie nicht abzuschätzen, also auch nicht die Zukunft jener Subkultur, der er einen Spiegel vorhielt.

Ist der Roman nun epigonal? Eindeutig nein. Trotz aller Bezüge und versteckter Verweise ist er ein originelles Werk über Menschen seiner Zeit und ihre Geschichte. Man kann es mit Lust und Gewinn lesen, ohne eine Zeile von Proust zu kennen. Proust hat sein Werk mit einem optischen Gerät verglichen, das er dem Leser zur Verfügung stelle, damit der seine Existenz besser verstehe – Holleran ist genau das hervorragend gelungen. Er hat einen wichtigen Beitrag zur Conditio humana homosexualis geliefert.

(Zitiert wurde nach den Übersetzungen von Gerd-Christian von Maltzahn – Holleran - bzw. Eva Rechel-Mertens - Proust.)

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