Eine gewöhnliche Pause zwischen zwei weihnachtlichen Theateraufführungen auf der Berliner Friedrichstraße. Früher Abend ausgefüllt mit der Suche nach kulinarischer Erbauung, die sich vom faden, unfreundlichen und häufig zu Magenunruhen veranlassenden Kantinenessen in Europas größtem Revuetheater unterscheidet. Die Straße ist voll von Menschen, die nach Kultur lechzen, aus schicken Läden stolzieren, Tüten schleppen, Taxis rufen oder aus diesen aussteigen. Hotelgäste, Theaterbesucher, vorweihnachtliche Schlenderer, Lafayettepilgerer. Ein Gemisch aus europäischen Sprachen durchölt die Luft. Reisegruppen aus Fernost quaken an mir vorbei. Mir ist nach etwas leichtem leckeren auf Fleischbasis. Rostbratwurst für einen Euro vom Grillwalker hatte ich die Woche schon. Die kleine Bar mit den Supersuppen und der Cola mit dem dreifachen Koffeeingehalt ist leider schon in den Feierabend gegangen. Vor dem Dönerstand muss ich noch ein kleiner Zeitungshändler überwinden, der den Kurier in der Auslage hat. Der neueste Gammelfleischskandal wird annonciert. "Razzia auf dem Weihnachtsmarkt - Alle Wurst schlecht." Ich denke Krakauer wird mit Glühwein gerade so durchgehen. Vielleicht sollte ich der Welt etwas Gutes tun und sie von einer weiteren gammeligen Wurst befreien.
Die Friedrichstraße ist zu einer Prachtmeile geworden. Weihnachtslichter leuchten. Die Baustellen sind bis auf die an der Ecke Unter den Linden überschaubar. Das Angebot an Essen und Trinken nicht. Vom billigsten Schnellimbis zum teuersten Restaurant kann man hier alles zu sich nehmen. An hinter Fenstern aufgebauten Tischen sitzen Businessmenschen, digitale Bohemians und Touristen. Manche schauen heraus, wenn ich hineinschaue und zwinkern oder schauen durch mich hindurch. Herangewachsene krakelen vor McDonalds. Beim Thai-Imbiss tagt eine Weihnachtsfeier und aus der kleinen arabischen Falafelbude dröselt viel zu laut schmusiges Jazzradio.
Ein zwei Meter großer Mann mit einer Plastetüte fragt mich nach Geld. Ich ignoriere ihn und er brüllt mir hinterher, was für ein Arschloch ich doch wäre. "Nur arrogante reiche Schweine", brüllt er. Ein Motzverkäufer hält mir eine Zeitung vor die Nase, die ich dankend ablehne. Er wünscht mir trotzdem noch einen schönen Abend und frohe Weihnachten. Neben dem Eingang zum Bahnhof fleht mich ein Zeitungsverkäufer an, ihm ein Abonnement für die Süddeutsche Zeitung abzunehmen. Ich würde wahlweise auch noch eine Uhr oder ein Buch dazu bekommen. Im Moment fehlt mir die Zeit für lange Lektüre. Ich bin schon mit dem Berliner Satireblatt "Kurier" überfordert. Der Punkpulk am Tränenpalast möchte gern eine Unterstützung, wahlweise für den Hund oder für das dringend benötigte Bier. Ich schaue in die teure Straßenbeleuchtung der Vorweihnachtszeit und wünsche mir was zu Essen und eine Möglichkeit einfach nur still die Straße lang zu schlendern ohne im Zickzack Bittstellern ausweichen zu müssen. Ein südländischer Jungmann will mir ein Zettel in die Hand drücken. "Lass mich in Ruhe" sag ich. Aus dem Augenwinkel erkenne ich die Speisekarte eines kleinen serboitalienische Griechtürken mit Billigangeboten.
Eine große verwöhnte Frau guckt von einem Werbeplakat eines großen Schmuckdesigners auf mich herab und bettelt auf sehr sinnliche Weise darum noch mehr verwöhnt zu werden. Meine Laune befindet sich auf Tauchgang. "Fick dich selber" telepatiere ich ihr zu.
Ich habe noch Kleingeld in der Jacke, trotzdem gehen ich an den Geldautomat. Ich bemerke, wie eine Gruppe Pupertisten auf meine Finger glotzt. Sie sehen nicht so aus, als könnten sie sich vier aufeinanderfolgende Zahlen merken, trotzdem breche ich den Geschäftsvorgang lieber ab. "Hab sowie so nichts auf dem Konto" teile ich den enttäuschten Kindern mit. "Ey was Alter" rülpst einer, als ich mich an ihnen vorbeidrängele.
Aus dem Seifenfachmarkt "Lush" duftet es nach frisch gewaschen. Seife in allen Farben und Duftformen, mit Rosen-, Lavendel- und anderen Blütenblätter gefüllte Badekugeln, die blubbern, wie ein Whirlpool, wenn man sie mit in die Badewanne nimmt. Luxuriöser Badespaß. Nicht gerade die Hygieneartikel für den Hartz-IV-Empfänger vor der Jobsuche. Die beratungsaktiven Verkäuferin tragen Engelsflügel auf den nackten Schultern. Es ist eng im Laden und ständig bekommt man die Federn in die Nase.
Zwischen Bahnhof und Kulturkaufhaus Dussmann liegt das Paradies der Klemmbrettträger. Direkt vor Opel, das seine schönsten und teuersten Autos ausstellt, der Aussicht bei Dussmann gleich viel Geld für Kultur auszugeben und unter dem sich in den beleuchteten Abendhimmel streckenden Hochhaus des internationalen Handelszentrums winken die ausgebildeten Finger der internationalen Betroffenheitsvereinigungen. Weltrettung bei Unterschrift, Apokalypse bei Ignoranz. "Lieben Sie Tiere?", "Sie wollen doch auch nicht, dass es Kindern schlecht geht, oder" sowie die Chance mit seiner Unterschrift und einer gewissen Spende die sofortige Abschaffung der Todesstrafe in den USA herbeizuführen, gehören nur zu den gängigsten Straßenbarrieren. Am Tierversuchsgegner kann ich vorbei gehen und auf seine Frage, wie es denn mit meiner Tierliebe steht, empört "Perversling" rufen. Dass ich nur ein weiteres blödes Berliner Arschloch bin, stört mich in diesem Fall nicht.
Die Kinderliebhaber sind auch keine Hürde mehr. Ich hatte mich mal zu einer Spende beknien lassen für die Aktion "Kinder in Not". Auf dem Alex erweckten sie mein Mitleid. Als ich nach einem halben Jahr versuchte mit der Organisation, die auf der Quittung ausgewiesen war, Kontakt aufzunehmen, liefen alle Versuche ins Leere. Mir fiel ein, dass die Person, die mir für ein nicht unerhebliches Handgeld den Titel "Guter Mensch" verkaufte, auch noch nicht sehr alt war. Ob ich dem Kind dabei aus der Not half, weiß ich nicht.
"Sie wollen doch auch nicht, dass es Kindern schlecht geht, weil sie keine Bildungschancen haben und das man sie von der Straße holt," heult mich ein betroffen glotzendes Mädchen an. Ihre Augen erinnern mich an den Gestiefelten Kater im zweiten Teil des Zeichentrickfilms "Shrek". "Wir sammeln für ein Projekt, das auf die schiefe Bahn geratene Jugendliche unterstützt..." Ich nehme sie kurz in den Arm und drehe sie zum Bahnhof, mit direktem Blick zum Geldautomaten. "Sehen Sie die Jungs da? Auch noch Kinder. Wahrscheinlich auch irgendwie in Not. Die besorgen sich ihr Geld schon selbst. Außerdem sehen die so aus, als hätten sie keine Bildungschancen, selbst wenn sie es versuchen würden. Die einzigen, die die von der Straße holen können, tragen Uniform." Ihre erlernte Argumentationskette hat einen Knoten. Ich nutze die Agitationspause zur Flucht. Meine Laune ist nicht besser geworden und Hunger habe ich immer noch.
Doch jetzt stolpere ich fast über eine kleine Frau mit schwarzem Kopftuch und Agitationsmappe im Arm, die mich auf englisch anspricht. Sie erzählt mir anschaulich von den Steinigungen im Iran, ihre Augen sehen traurig aus. Es fängt jetzt auch noch an zu regnen. Amnestie International kann im Iran nicht arbeiten. Die Angehörigen von Verurteilten müssen sich im Ausland organisieren um mit Spendengeldern juristischen Beistand für die in Haft sitzenden Iranis zu finanzieren. Spendenquittungen werden gezeigt, Fotos von halb eingegrabenen Frauen, um die herum Menschen mit Steinen stehen, das Bild von Ahmadine Dingsbums, dem Iranischen Staatsoberhaupt. Ein unsympathischer kleiner Geiferer, dem der Kurier aufdringlich, aber erfolglos den Titel "Mullahhitler" anhängt. Ein Titel, der mehr Urteil als Fachwissen aufweist und der Situation im Moment noch nicht unbedingt gerecht wird, aber der Kurier will diesmal vorsorgen, da die dortigen Fachjournalisten das Anhängen des Hiltlerprädikats bei Sadam Hussein irgendwie verpasst hatten. Das im Iran mehr als nur das juristische Denken im Mittelalter geblieben ist, wird weltweit zurecht angeprangert. Die kleine Iranerin zeigt mir eine Finanzaufstellung, nach der ich mit einer nur 1200 Euro teuren Spende in der Lage wäre, eine vom Tode bedrohte Person zu retten. Sie kann es mir allerdings nicht garantieren. Das Geld geht, so wie ich es verstehe in die juristische Betreuung der Todeskanditaten, also in die Hälse der Anwälte, die sie rausboxen sollen. Ich kann mir nicht vorstellen, das man in einer fundamentalistischen Umwelt mit 1200 Euro einen Deal über Leben und Tod eines Menschen aushandeln kann. Dann wäre Korruption ja doch irgendwie sinnvoll. Die Frau scheint das zu glauben und es klingt nicht so, als wolle sie mir einen Bären aufbinden. Eine zweite Frau tritt dazu und argumentiert mit. Eine halbe Stunde höre ich mir die Leidensgeschichte des iranischen Volkes an. Meine schlechte Laune schlägt zusehends in Traurigkeit um. Fünf Meter weiter packt ein Bettler seine Bettelutensilien ein, streckt sich und schließt seine Kasse. Eine Mutter zerrt ein ningelndes Kind über die Ampel, bei Opel dreht sich eine teure Karosse, ein Krankenwagen lalüt und ein Weihnachtsmann trottet den U-Bahnschacht hinab. Ich stehe im Schein der Weihnachtszeit und schaue in die erwartungsvollen Augen der beiden Muslime. Langsam schüttle ich den Kopf. "I´m so sorry" sage ich und trotte den Weg zurück, den ich gekommen bin.
Die weihnachtliche Vorfreude und Besinnlichkeit, die sich irgendwo unter der Hektik der durch die Einkaufspassagen hetzenden Großeinkäufer versteckt, wird zunehmend eingeengt durch die Vermarktung des schlechten Gewissens. Der Satz "Spenden Sie und Sie retten einen Menschen" souffliert im Subtext "Spenden Sie nicht, dann Morden Sie".
Wie viele Leben habe ich also täglich auf dem Gewissen, wenn ich an Spendenbittende vorbei gehe, die Unicef-Weihnachtskarten wegen ihrer kitschigen Motive nicht kaufe, die Zeitungsbeipackspendenaufrufe mit der sonstigen Werbung in den Papiermüll schmeiße? An einem einzigen Abend gelingt es mir mühelos an der Hinrichtung ganzer Familien in der Dritten Welt meinen Anteil zu haben, weil ich nicht jedem Spendenaufruf folge, nicht alles unterschreibe, was ich auf der Straße vor die Nase gehalten bekomme und nicht meinen Dispokredit auslote, damit ein fundamentalistischer Rechtsanwalt im Iran überlegt, ob er wegen der nach erwiesenem Ehebruch zum Tode verurteilten Frau seine guten Beziehungen zum Ortsmullah auf Spiel setzen soll oder nicht.
Zu Weihnachten also, wenn ich unter der leuchtenden Dekoration der Friedrichstraße spazieren gehe und zwischen Glühweinständen und Auslagen erzgebirgische Laubsägearbeiten herumtolle, "Oh du fröhliche" ins Ohr gesäuselt bekomme und die Frohe Botschaft von der Erlösung der Welt durch den Sohn Gottes eine gigantische weltumspannende Geburtstagsparty rechtfertigt, laufe ich als schlechtes Beispiel an Not und Elend in der Welt vorbei, ohne die Welt zu retten. Ich trotte zurück in´s Theater um ein paar Menschen mit Glanz und Glamour zu illusionieren, während auf dem Weihnachtsmarkt sich ein einfacher Mitmensch den Magen ruiniert, weil ich es nicht geschafft habe da zu sein und die Gammelfleischwurst vor seiner Nase wegessen konnte. Meine Opferbereitschaft lässt sehr zu wünschen übrig.
Weihnachten bin ich immer ein besonders schlechter Mensch.
Die Friedrichstraße ist zu einer Prachtmeile geworden. Weihnachtslichter leuchten. Die Baustellen sind bis auf die an der Ecke Unter den Linden überschaubar. Das Angebot an Essen und Trinken nicht. Vom billigsten Schnellimbis zum teuersten Restaurant kann man hier alles zu sich nehmen. An hinter Fenstern aufgebauten Tischen sitzen Businessmenschen, digitale Bohemians und Touristen. Manche schauen heraus, wenn ich hineinschaue und zwinkern oder schauen durch mich hindurch. Herangewachsene krakelen vor McDonalds. Beim Thai-Imbiss tagt eine Weihnachtsfeier und aus der kleinen arabischen Falafelbude dröselt viel zu laut schmusiges Jazzradio.
Ein zwei Meter großer Mann mit einer Plastetüte fragt mich nach Geld. Ich ignoriere ihn und er brüllt mir hinterher, was für ein Arschloch ich doch wäre. "Nur arrogante reiche Schweine", brüllt er. Ein Motzverkäufer hält mir eine Zeitung vor die Nase, die ich dankend ablehne. Er wünscht mir trotzdem noch einen schönen Abend und frohe Weihnachten. Neben dem Eingang zum Bahnhof fleht mich ein Zeitungsverkäufer an, ihm ein Abonnement für die Süddeutsche Zeitung abzunehmen. Ich würde wahlweise auch noch eine Uhr oder ein Buch dazu bekommen. Im Moment fehlt mir die Zeit für lange Lektüre. Ich bin schon mit dem Berliner Satireblatt "Kurier" überfordert. Der Punkpulk am Tränenpalast möchte gern eine Unterstützung, wahlweise für den Hund oder für das dringend benötigte Bier. Ich schaue in die teure Straßenbeleuchtung der Vorweihnachtszeit und wünsche mir was zu Essen und eine Möglichkeit einfach nur still die Straße lang zu schlendern ohne im Zickzack Bittstellern ausweichen zu müssen. Ein südländischer Jungmann will mir ein Zettel in die Hand drücken. "Lass mich in Ruhe" sag ich. Aus dem Augenwinkel erkenne ich die Speisekarte eines kleinen serboitalienische Griechtürken mit Billigangeboten.
Eine große verwöhnte Frau guckt von einem Werbeplakat eines großen Schmuckdesigners auf mich herab und bettelt auf sehr sinnliche Weise darum noch mehr verwöhnt zu werden. Meine Laune befindet sich auf Tauchgang. "Fick dich selber" telepatiere ich ihr zu.
Ich habe noch Kleingeld in der Jacke, trotzdem gehen ich an den Geldautomat. Ich bemerke, wie eine Gruppe Pupertisten auf meine Finger glotzt. Sie sehen nicht so aus, als könnten sie sich vier aufeinanderfolgende Zahlen merken, trotzdem breche ich den Geschäftsvorgang lieber ab. "Hab sowie so nichts auf dem Konto" teile ich den enttäuschten Kindern mit. "Ey was Alter" rülpst einer, als ich mich an ihnen vorbeidrängele.
Aus dem Seifenfachmarkt "Lush" duftet es nach frisch gewaschen. Seife in allen Farben und Duftformen, mit Rosen-, Lavendel- und anderen Blütenblätter gefüllte Badekugeln, die blubbern, wie ein Whirlpool, wenn man sie mit in die Badewanne nimmt. Luxuriöser Badespaß. Nicht gerade die Hygieneartikel für den Hartz-IV-Empfänger vor der Jobsuche. Die beratungsaktiven Verkäuferin tragen Engelsflügel auf den nackten Schultern. Es ist eng im Laden und ständig bekommt man die Federn in die Nase.
Zwischen Bahnhof und Kulturkaufhaus Dussmann liegt das Paradies der Klemmbrettträger. Direkt vor Opel, das seine schönsten und teuersten Autos ausstellt, der Aussicht bei Dussmann gleich viel Geld für Kultur auszugeben und unter dem sich in den beleuchteten Abendhimmel streckenden Hochhaus des internationalen Handelszentrums winken die ausgebildeten Finger der internationalen Betroffenheitsvereinigungen. Weltrettung bei Unterschrift, Apokalypse bei Ignoranz. "Lieben Sie Tiere?", "Sie wollen doch auch nicht, dass es Kindern schlecht geht, oder" sowie die Chance mit seiner Unterschrift und einer gewissen Spende die sofortige Abschaffung der Todesstrafe in den USA herbeizuführen, gehören nur zu den gängigsten Straßenbarrieren. Am Tierversuchsgegner kann ich vorbei gehen und auf seine Frage, wie es denn mit meiner Tierliebe steht, empört "Perversling" rufen. Dass ich nur ein weiteres blödes Berliner Arschloch bin, stört mich in diesem Fall nicht.
Die Kinderliebhaber sind auch keine Hürde mehr. Ich hatte mich mal zu einer Spende beknien lassen für die Aktion "Kinder in Not". Auf dem Alex erweckten sie mein Mitleid. Als ich nach einem halben Jahr versuchte mit der Organisation, die auf der Quittung ausgewiesen war, Kontakt aufzunehmen, liefen alle Versuche ins Leere. Mir fiel ein, dass die Person, die mir für ein nicht unerhebliches Handgeld den Titel "Guter Mensch" verkaufte, auch noch nicht sehr alt war. Ob ich dem Kind dabei aus der Not half, weiß ich nicht.
"Sie wollen doch auch nicht, dass es Kindern schlecht geht, weil sie keine Bildungschancen haben und das man sie von der Straße holt," heult mich ein betroffen glotzendes Mädchen an. Ihre Augen erinnern mich an den Gestiefelten Kater im zweiten Teil des Zeichentrickfilms "Shrek". "Wir sammeln für ein Projekt, das auf die schiefe Bahn geratene Jugendliche unterstützt..." Ich nehme sie kurz in den Arm und drehe sie zum Bahnhof, mit direktem Blick zum Geldautomaten. "Sehen Sie die Jungs da? Auch noch Kinder. Wahrscheinlich auch irgendwie in Not. Die besorgen sich ihr Geld schon selbst. Außerdem sehen die so aus, als hätten sie keine Bildungschancen, selbst wenn sie es versuchen würden. Die einzigen, die die von der Straße holen können, tragen Uniform." Ihre erlernte Argumentationskette hat einen Knoten. Ich nutze die Agitationspause zur Flucht. Meine Laune ist nicht besser geworden und Hunger habe ich immer noch.
Doch jetzt stolpere ich fast über eine kleine Frau mit schwarzem Kopftuch und Agitationsmappe im Arm, die mich auf englisch anspricht. Sie erzählt mir anschaulich von den Steinigungen im Iran, ihre Augen sehen traurig aus. Es fängt jetzt auch noch an zu regnen. Amnestie International kann im Iran nicht arbeiten. Die Angehörigen von Verurteilten müssen sich im Ausland organisieren um mit Spendengeldern juristischen Beistand für die in Haft sitzenden Iranis zu finanzieren. Spendenquittungen werden gezeigt, Fotos von halb eingegrabenen Frauen, um die herum Menschen mit Steinen stehen, das Bild von Ahmadine Dingsbums, dem Iranischen Staatsoberhaupt. Ein unsympathischer kleiner Geiferer, dem der Kurier aufdringlich, aber erfolglos den Titel "Mullahhitler" anhängt. Ein Titel, der mehr Urteil als Fachwissen aufweist und der Situation im Moment noch nicht unbedingt gerecht wird, aber der Kurier will diesmal vorsorgen, da die dortigen Fachjournalisten das Anhängen des Hiltlerprädikats bei Sadam Hussein irgendwie verpasst hatten. Das im Iran mehr als nur das juristische Denken im Mittelalter geblieben ist, wird weltweit zurecht angeprangert. Die kleine Iranerin zeigt mir eine Finanzaufstellung, nach der ich mit einer nur 1200 Euro teuren Spende in der Lage wäre, eine vom Tode bedrohte Person zu retten. Sie kann es mir allerdings nicht garantieren. Das Geld geht, so wie ich es verstehe in die juristische Betreuung der Todeskanditaten, also in die Hälse der Anwälte, die sie rausboxen sollen. Ich kann mir nicht vorstellen, das man in einer fundamentalistischen Umwelt mit 1200 Euro einen Deal über Leben und Tod eines Menschen aushandeln kann. Dann wäre Korruption ja doch irgendwie sinnvoll. Die Frau scheint das zu glauben und es klingt nicht so, als wolle sie mir einen Bären aufbinden. Eine zweite Frau tritt dazu und argumentiert mit. Eine halbe Stunde höre ich mir die Leidensgeschichte des iranischen Volkes an. Meine schlechte Laune schlägt zusehends in Traurigkeit um. Fünf Meter weiter packt ein Bettler seine Bettelutensilien ein, streckt sich und schließt seine Kasse. Eine Mutter zerrt ein ningelndes Kind über die Ampel, bei Opel dreht sich eine teure Karosse, ein Krankenwagen lalüt und ein Weihnachtsmann trottet den U-Bahnschacht hinab. Ich stehe im Schein der Weihnachtszeit und schaue in die erwartungsvollen Augen der beiden Muslime. Langsam schüttle ich den Kopf. "I´m so sorry" sage ich und trotte den Weg zurück, den ich gekommen bin.
Die weihnachtliche Vorfreude und Besinnlichkeit, die sich irgendwo unter der Hektik der durch die Einkaufspassagen hetzenden Großeinkäufer versteckt, wird zunehmend eingeengt durch die Vermarktung des schlechten Gewissens. Der Satz "Spenden Sie und Sie retten einen Menschen" souffliert im Subtext "Spenden Sie nicht, dann Morden Sie".
Wie viele Leben habe ich also täglich auf dem Gewissen, wenn ich an Spendenbittende vorbei gehe, die Unicef-Weihnachtskarten wegen ihrer kitschigen Motive nicht kaufe, die Zeitungsbeipackspendenaufrufe mit der sonstigen Werbung in den Papiermüll schmeiße? An einem einzigen Abend gelingt es mir mühelos an der Hinrichtung ganzer Familien in der Dritten Welt meinen Anteil zu haben, weil ich nicht jedem Spendenaufruf folge, nicht alles unterschreibe, was ich auf der Straße vor die Nase gehalten bekomme und nicht meinen Dispokredit auslote, damit ein fundamentalistischer Rechtsanwalt im Iran überlegt, ob er wegen der nach erwiesenem Ehebruch zum Tode verurteilten Frau seine guten Beziehungen zum Ortsmullah auf Spiel setzen soll oder nicht.
Zu Weihnachten also, wenn ich unter der leuchtenden Dekoration der Friedrichstraße spazieren gehe und zwischen Glühweinständen und Auslagen erzgebirgische Laubsägearbeiten herumtolle, "Oh du fröhliche" ins Ohr gesäuselt bekomme und die Frohe Botschaft von der Erlösung der Welt durch den Sohn Gottes eine gigantische weltumspannende Geburtstagsparty rechtfertigt, laufe ich als schlechtes Beispiel an Not und Elend in der Welt vorbei, ohne die Welt zu retten. Ich trotte zurück in´s Theater um ein paar Menschen mit Glanz und Glamour zu illusionieren, während auf dem Weihnachtsmarkt sich ein einfacher Mitmensch den Magen ruiniert, weil ich es nicht geschafft habe da zu sein und die Gammelfleischwurst vor seiner Nase wegessen konnte. Meine Opferbereitschaft lässt sehr zu wünschen übrig.
Weihnachten bin ich immer ein besonders schlechter Mensch.