Von Wörtern und Worten
Ich hatte neulich Besuch von einer alten Freundin.
Sie hatte ihre Tochter mit zu Besuch. Leonie ist inzwischen schon sieben Jahre alt und geht in die zweite Klasse. Sie saß in ein Schulbuch vertieft neben ihrer Mutter und wurde immer ärgerlicher.
„Ach, so ein Scheiß!“, fluchte sie, schlug das Buch zu und knallte es auf den Tisch.
„Na!“, raunte ihre Mutter ihr entgegen. „Solch schmutzige Worte benutzt man nicht!“
„Das heißt Wörter!“, verteidigte sich Leonie und verschränkte die Arme.
„Nein, die Mehrzahl von Wort ist Worte.“
„Stimmt doch gar nicht! Das sind Wörter!“
„Worte!“
„Wörter!“
Ich grinste vor mich hin und erfreute mich an dem Mutter-Tochter-Streit. Ich wiegte mich in Sicherheit, aber das siebenjährige Kind ist meiner Meinung nach für ihr alter viel zu schlau.
„Stefan?“, holte Leonie mich ins Boot. „Du hast doch Ballistik studiert. Du musst das doch wissen, dass das Wörter heißt!“
„Ja, Stefan“, fing ihre Mutter auch gleich an. Erstaunlich, wie schnell sich die beiden Streithähne gegen einen zusammen taten.
„Du hast Bel-le-tris-tik“ - Sie sprach es langsam und deutlich für ihre Tochter aus. - „studiert. Zeig uns, dass die zwei Jahre nicht umsonst waren“ Sie grinste mich mit bitterböser Schadenfreude an.
„Na ja“, begann ich und nahm einen Schluck Kaffee um Zeit zu gewinnen. „Es ist beides richtig.“
„Ach komm!“, stichelte sie mich weiter an. „Erkläre Leonie ruhig, dass es Worte heißt.“
„Okay, es ist beides Richtig“, begann ich. Wenn sie Krieg haben will, soll sie ihn bekommen.
„Es gibt in unserer Sprache Worte und Wörter. Wörter sind klein und unbedeutend und treten meistens in großer Stückzahl auf. Worte sind dagegen wichtig und Worte werden noch in hundert Jahren zitiert. Wörter sind schon nach zehn Sekunden wieder vergessen.“
Ich überlegte und sah Leonie dabei an.
„Wenn deine Mutter zum Beispiel mal wieder mit ihrer Freundin Quatscht benutzt sie Wörter. Viel zu viele, meistens ohne tieferen Sinn und absolut unwichtig. Aua!“
Ich erntete für diese Aussage unter dem Tisch einen Tritt gegen mein Schienbein.
„Wenn die Augen bei deiner Mama mal wieder direkt mit dem Mund verbunden sind, ohne lästigen Umweg über das Gehirn. Aua! Jetzt hör doch mal auf, mich zu treten!“
Hör nicht auf den Mann, Schätzchen“, tadelte sie ihre Tochter.
Doch zu spät, ich kam gerade erst in Fahrt.
„Ja, du musst dir Wörter und Worte wie Menschen vorstellen. Wörter haben keinen Hauptschulabschluß, wohnen in Ghettos, leben von Hartz vier und Waschen sich viel zu selten. Dafür vermehren sie sich wie die Fliegen.“
Es kam wieder ein Tritt, aber dieses Mal war ich darauf vorbereitet und zog mein Bein weg. Die Mutter schleuderte mir Giftblitze mit ihrem Blick entgegen und zischte.
Leonie dagegen hörte mir mit offenen Mund und weit aufgerissenen Augen zu.
„Worte dagegen haben einen Schulabschluß, Haupt- oder Realschule, vielleicht auch Abitur, führen ein ordentliches, geregeltes Leben, haben einen Job und wohnen in einer ordentlichen Wohnung. Natürlich haben Worte auch Sex, aber sie kennen sich mit Verhütung aus.“
Das Tischbein bekam einen ordentlichen Tritt und Leonies Mutter machte ein schmerzverzerrtes Gesicht. Sie begann leise zu fluchen. Bevor mich Leonie fragen konnte, was ich denn mit dem letzten Satz gemeint habe, fuhr ich fort.
„Manchmal gehen Worte auch zur Universität und studieren. Dann werden sie zu Fachbegriffen. Fachbegriffe sind aber sehr speziell und außer für das entsprechende Studium zu nichts zu gebrauchen. Vernachlässigen wir die also.“
„Haben die auch Sex?“, fragte Leonie mich.
Leonies Mutter hatte resigniert.
Sie stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch, starrte auf die Tischplatte und verdeckte mit ihren Händen das Gesicht. Sie schüttelte leicht den Kopf.
„Bestimmt“, antwortete ich. „Aber es gibt ja nicht nur deutsche Wörter und Worte. Es gibt ja auch ausländische. Worte in einer anderen Sprache nennt man Vokabeln.“
„So, wie sächsisch?“, fragte mich Leonie.
„Äh, nee. Eher so, wie Englisch. Ausländische Worte sind Vokabeln. Ausländische Wörter heißen Slang.“
„Aber sächsisch verstehe ich auch nicht!“ Leonie beharrte auf ihrem Standpunkt, dass es eine ausländische Sprache sei.
„Das erklärt dir deine Mama bestimmt mal, was es damit auf sich hat“, sagte ich und sah wieder einen Todesblick zwischen den Fingern ihrer Mutter hindurch schießen.
„Ja, im Auto. Wir müssen jetzt eh los, Papa kommt bald nach Hause und dann wollen wir ja noch einkaufen.“
Sie zogen sich die Jacken an und ich begleitete die beiden noch zur Haustür.
„Schön, dass ihr da wart“, verabschiedete ich mich. „Können wir ja mal wiederholen.“
Wir drückten uns kurz zum Abschied.
„Erst, wenn ich Leonie aufgeklärt hab, mein Lieber.“
„Mama, ich weiß, was Sex ist.“
Dieses Mal entglitten uns beide die Gesichtszüge.
„Was?“, fragte ihre Mutter entsetzt. „Woher?“
Sie stiegen ins Auto ein. Woher Leonie das wusste, konnte ich nicht mehr verstehen.
Am Abend saß ich vor dem Fernseher und überlegte, ob es wirklich einen Unterschied zwischen Worten und Wörtern gibt. Gefunden hab ich dazu jedenfalls noch nichts.
Ich hatte neulich Besuch von einer alten Freundin.
Sie hatte ihre Tochter mit zu Besuch. Leonie ist inzwischen schon sieben Jahre alt und geht in die zweite Klasse. Sie saß in ein Schulbuch vertieft neben ihrer Mutter und wurde immer ärgerlicher.
„Ach, so ein Scheiß!“, fluchte sie, schlug das Buch zu und knallte es auf den Tisch.
„Na!“, raunte ihre Mutter ihr entgegen. „Solch schmutzige Worte benutzt man nicht!“
„Das heißt Wörter!“, verteidigte sich Leonie und verschränkte die Arme.
„Nein, die Mehrzahl von Wort ist Worte.“
„Stimmt doch gar nicht! Das sind Wörter!“
„Worte!“
„Wörter!“
Ich grinste vor mich hin und erfreute mich an dem Mutter-Tochter-Streit. Ich wiegte mich in Sicherheit, aber das siebenjährige Kind ist meiner Meinung nach für ihr alter viel zu schlau.
„Stefan?“, holte Leonie mich ins Boot. „Du hast doch Ballistik studiert. Du musst das doch wissen, dass das Wörter heißt!“
„Ja, Stefan“, fing ihre Mutter auch gleich an. Erstaunlich, wie schnell sich die beiden Streithähne gegen einen zusammen taten.
„Du hast Bel-le-tris-tik“ - Sie sprach es langsam und deutlich für ihre Tochter aus. - „studiert. Zeig uns, dass die zwei Jahre nicht umsonst waren“ Sie grinste mich mit bitterböser Schadenfreude an.
„Na ja“, begann ich und nahm einen Schluck Kaffee um Zeit zu gewinnen. „Es ist beides richtig.“
„Ach komm!“, stichelte sie mich weiter an. „Erkläre Leonie ruhig, dass es Worte heißt.“
„Okay, es ist beides Richtig“, begann ich. Wenn sie Krieg haben will, soll sie ihn bekommen.
„Es gibt in unserer Sprache Worte und Wörter. Wörter sind klein und unbedeutend und treten meistens in großer Stückzahl auf. Worte sind dagegen wichtig und Worte werden noch in hundert Jahren zitiert. Wörter sind schon nach zehn Sekunden wieder vergessen.“
Ich überlegte und sah Leonie dabei an.
„Wenn deine Mutter zum Beispiel mal wieder mit ihrer Freundin Quatscht benutzt sie Wörter. Viel zu viele, meistens ohne tieferen Sinn und absolut unwichtig. Aua!“
Ich erntete für diese Aussage unter dem Tisch einen Tritt gegen mein Schienbein.
„Wenn die Augen bei deiner Mama mal wieder direkt mit dem Mund verbunden sind, ohne lästigen Umweg über das Gehirn. Aua! Jetzt hör doch mal auf, mich zu treten!“
Hör nicht auf den Mann, Schätzchen“, tadelte sie ihre Tochter.
Doch zu spät, ich kam gerade erst in Fahrt.
„Ja, du musst dir Wörter und Worte wie Menschen vorstellen. Wörter haben keinen Hauptschulabschluß, wohnen in Ghettos, leben von Hartz vier und Waschen sich viel zu selten. Dafür vermehren sie sich wie die Fliegen.“
Es kam wieder ein Tritt, aber dieses Mal war ich darauf vorbereitet und zog mein Bein weg. Die Mutter schleuderte mir Giftblitze mit ihrem Blick entgegen und zischte.
Leonie dagegen hörte mir mit offenen Mund und weit aufgerissenen Augen zu.
„Worte dagegen haben einen Schulabschluß, Haupt- oder Realschule, vielleicht auch Abitur, führen ein ordentliches, geregeltes Leben, haben einen Job und wohnen in einer ordentlichen Wohnung. Natürlich haben Worte auch Sex, aber sie kennen sich mit Verhütung aus.“
Das Tischbein bekam einen ordentlichen Tritt und Leonies Mutter machte ein schmerzverzerrtes Gesicht. Sie begann leise zu fluchen. Bevor mich Leonie fragen konnte, was ich denn mit dem letzten Satz gemeint habe, fuhr ich fort.
„Manchmal gehen Worte auch zur Universität und studieren. Dann werden sie zu Fachbegriffen. Fachbegriffe sind aber sehr speziell und außer für das entsprechende Studium zu nichts zu gebrauchen. Vernachlässigen wir die also.“
„Haben die auch Sex?“, fragte Leonie mich.
Leonies Mutter hatte resigniert.
Sie stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch, starrte auf die Tischplatte und verdeckte mit ihren Händen das Gesicht. Sie schüttelte leicht den Kopf.
„Bestimmt“, antwortete ich. „Aber es gibt ja nicht nur deutsche Wörter und Worte. Es gibt ja auch ausländische. Worte in einer anderen Sprache nennt man Vokabeln.“
„So, wie sächsisch?“, fragte mich Leonie.
„Äh, nee. Eher so, wie Englisch. Ausländische Worte sind Vokabeln. Ausländische Wörter heißen Slang.“
„Aber sächsisch verstehe ich auch nicht!“ Leonie beharrte auf ihrem Standpunkt, dass es eine ausländische Sprache sei.
„Das erklärt dir deine Mama bestimmt mal, was es damit auf sich hat“, sagte ich und sah wieder einen Todesblick zwischen den Fingern ihrer Mutter hindurch schießen.
„Ja, im Auto. Wir müssen jetzt eh los, Papa kommt bald nach Hause und dann wollen wir ja noch einkaufen.“
Sie zogen sich die Jacken an und ich begleitete die beiden noch zur Haustür.
„Schön, dass ihr da wart“, verabschiedete ich mich. „Können wir ja mal wiederholen.“
Wir drückten uns kurz zum Abschied.
„Erst, wenn ich Leonie aufgeklärt hab, mein Lieber.“
„Mama, ich weiß, was Sex ist.“
Dieses Mal entglitten uns beide die Gesichtszüge.
„Was?“, fragte ihre Mutter entsetzt. „Woher?“
Sie stiegen ins Auto ein. Woher Leonie das wusste, konnte ich nicht mehr verstehen.
Am Abend saß ich vor dem Fernseher und überlegte, ob es wirklich einen Unterschied zwischen Worten und Wörtern gibt. Gefunden hab ich dazu jedenfalls noch nichts.