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Nwena
Autor: Volker Alzey · Rubrik:
Erzählungen



Nwena

„Die äußerste Wildnis hat ihn eingeschlossen – all das geheimnisvolle Leben der Wildnis, das sich im Wald regt, im Dschungel, im Herzen wilder Männer. Geheimnisse, in die es keine Einweihung gibt.“
Joseph Conrad, Herz der Finsternis


Was wird kommen, wenn ich die schwankenden Bohlen des Hochseedampfers eingetauscht haben werde gegen das mir vertraute wie gleichgültige Pflaster Antwerpens? Im Handelshaus wird man mich mit Nichtachtung strafen. Im Club werden meine Freunde mich nötigen, eine Geschichte zum Besten zu geben, die den Glanz des heldenmütigen Abenteuers versprüht. Ich habe beschlossen, zu schweigen! Ich werde schweigen, weil die verwirrende Wahrheit ihnen wie eine Legende anmuten würde. Ich werde schweigen, obwohl mir ihre sprachlose Bewunderung sicher wäre.
Es ist nun sechs Monate her, dass ich mit jenem Dampfer, der mich gerade unabwendbar meiner Vergangenheit und Zukunft wieder näher bringt, am Quai von Martadi anlegte, wo mich Jacque Rodhain erwartete, ein aufgeschwemmter, rotgesichtiger, verschlagener Prokurist im Dienste meiner Firma, über den es kaum lohnte, ein Wort zu verlieren, hätte ich nicht von ihm das erste Mal den Namen »Nwena« gehört. Wir saßen auf der von Palmen umstandenen Veranda seines Wohnhauses und nippten Likör. Es war ihm sichtlich anzumerken, dass er sich darin gefiel, über das steigende Handelsaufkommen unserer Firma, über die kürzlich fertig gestellte Eisenbahnlinie in den Dschungel hinein und über die Verlogenheit der Neger zu reden. Er musste wissen, dass er kein Talent zum Erzählen besaß, denn er sprach kaum einen Satz, der nicht von einem gekünstelten Lachen begleitet wurde, das seinen Worten jenen Witz verleihen sollte, an denen es ihnen gebrach.
„Ich gebe Ihnen einen Rat mit auf den Weg. Stellen Sie sich bloß gut mit den Kapitänen. Keiner kennt den Fluss besser als sie. Einige von denen sind fragwürdige Gestalten, vor allem dieser Nwena.“ Er stieß ein Lachen der Geringschätzung aus und nippte an seinem Gläschen Likör.
„Sie kennen den Mann?“, fragte ich neugierig.
„Ich habe nicht das Bedürfnis, ihn kennen zu lernen, nach all dem, was ich bisher von ihm gehört habe.“
„Das müssen ja scheußliche Dinge sein.“
„Wenn es für Sie eine scheußliche Sache ist, dass ein Kapitän absichtlich seinen Dampfer auf eine Sandbank setzt, um einer Gruppe von Kaufleuten damit zu verstehen zu geben, dass sie in seiner Hand sind?“
„Aber wenn er ein Pirat ist, wieso geht man dann nicht gegen ihn vor?“
Erneut ertönte ein herablassendes Lachen, das ohne Zweifel meiner Empörung galt.
„Herr Doucas, wir sind hier nicht in Belgien, wo jeder Taschendieb seine gerechte Strafe bekommt. Außerdem wäre ich sehr vorsichtig damit, Kapitän Nwena einen Piraten zu schimpfen. Solch böswillige Unterstellung könnte für sie von Nachteil sein.“
„Inwiefern?“
„Insofern, dass sie irgendwann dem Beschimpften begegnen könnten.“
Die Ankunft der Tanaro in der Stanley Falls Station drei Monate später rief mir Rodhains Warnung wieder ins Gedächtnis. Ich kann nicht sagen, an welchem Tag genau er mich aus meinem trostlosen Alltag im Dschungel herausriss, in den mich die Langeweile und die Sinnleere des Waldes sinken lassen hatten. Ich weiß aber, dass es an einem glühenden Nachmittag war, als der Dampfer »Tanaro« das Kanu rammte, das am Ufer lag. Das Bersten von Holz weckte mich jäh aus dem Schreiben meiner Listen. Durch die Ritzen der Stationshütte sah ich den weißen Anstrich eines Flussdampfers. Einige schwarze Arbeiter und Pilger rannten schimpfend über den Platz zum Ufer und drohten dem Dampfer mit ihren Fäusten. Die gellende Schiffspfeife erschallte, was die am Ufer stehenden zurückschrecken ließ. Ich schaute auf meinen Plan und sah zu meiner Verwunderung, dass das nächste Schiff frühestens in einer Woche zu erwarten war. Als ich über den Platz ging, hatte sich bereits die gesamte Station am Ufer versammelt. Die Maschinen hörten auf zu keuchen, aus dem Schornstein rußte nur noch wenig schwarzer Rauch. Der Anker wurde geworfen und eine Bohle zum Ufer ausgefahren.
Anscheinend wusste nahezu jeder in der Station, wer der weiße, hagere Mann war, der sicher über die Bohle schritt, denn prompt mit seinem Erscheinen verhallten die Flüche und an ihre Stelle trat ein ehrfürchtiges Flüstern, dem ich mehrmals den Namen »Kapitän Nwena« entnahm. Ich konnte nicht umhin, ihn anzustarren, so wie all die anderen es taten, die ihn offenbar mit düsteren Legenden in Verbindung brachten, denn aus ihren Augen sprach nicht nur Ehrfurcht, sondern funkelte auch Angst; eine Angst, die eine ungewisse Gefahr witterte, ausgehend von einer Macht, die, unberechenbar und dunkel, sich grundlos gegen einen wenden konnte. Sein Gesicht war alles andere als undurchschaubar, und er gab sich auch keine Mühe, die Züge von Abscheu und Hochmut vor der Menge zu verbergen. Das Haupt war rund und rot, lohweißes Harr, ausgebleicht von der Hitze und Feuchte der Tropen, bedeckte in dünnen Strähnen seinen Hinterkopf. Ich fragte mich, wie oft der tropische Regen es schon durchnässt hatte. Er schaute mich kurz listig lächelnd an. Mir kam der absurde Gedanke, er würde bereits alles über mich wissen. In dem blauen, stechenden Blick lag Herausforderung, als hätte dieser Kapitän Nwena aus geheimnisvollen Gründen mich zu seinem Gegner in einem gefährlichen Spiel auserkoren, in dem er Meister war, da er es jeden Tag aufs Neue unermüdlich spielte, als treibe ihn eine Sucht oder die Langeweile dazu an. Obwohl aus jeder seiner Gebärden Herablassung sprach, meinte ich eine heillose Kränklichkeit an seinem Körper zu entdecken. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Röte seiner Haut natürlich war. Sie erinnerte mich an das weinrote Gesicht eines alten Clubmitgliedes, der seit Jahren den Schmerz über eine unerwiderte Liebe in Likör ertränkte. Die oberen Knöpfe seines Leinenhemdes, das einst weiß geleuchtet haben musste, nun aber, von Regen und Schweiß ausgewaschen, grau und nass an seinem Körper klebte, waren geöffnet, sodass man die bleichen Haare sehen konnte, die sich über seine schmale Brust kräuselten. Überhaupt war sein Körper schmal, und ich frage mich bis heute, was an ihm jene gebieterische Würde ausstrahlte, die eine aufgebrachte Menge von Eingeborenen und Pilgern zum Schweigen bringen konnte. Ich weiß mir diese Frage nicht anders zu beantworten als mit den finsteren Legenden, die sich um ihn ranken und die der Urwald sich auf immer neue Weise erzählt, als sei er sich selbst nicht Geheimnis genug. So fand Jacque Rodhains Geschichte von den Kaufleuten auf der Sandbank ihre obskure Fortsetzung, als mir ein Eingeborener im Flüsterton erzählte, der Kapitän habe sie zu Raubfischen verzaubert, die im Kongo und seinen unzähligen Armen mit Elfenbein beladene Dampfer versenkten und die Händler verschlängen. Ich will an solche Märchen nicht glauben, deren Mittelpunkt ein Magier namens Kapitän Nwena ist, aber ich verstehe heute allzu gut, warum die Eingeborenen des Regenwaldes in einer plötzlich auftauchenden Lichtung, oder in einem schwer sich auf den Fluss legenden Nebel den unaussprechlichen Willen einer höheren Macht sehen. Der Wald ist undurchschaubar in seiner dunklen Tiefe. Er tritt einem Mann aus Antwerpen, London oder Paris als ein schweigsames, finsteres Ungetüm entgegen, dessen Existenz er nicht begreift. Er versucht es zu begreifen, indem er seine Oberfläche erforscht, sie in Regionen einteilt, denen er Namen gibt, die in ihm das beruhigende Gefühl der Vertrautheit wecken. Ohne je die wasserreichen Kaskaden gesehen zu haben, versetzt der Name der Livingstonfälle ihn in eine anheimelnde Stimmung, und es ist für ihn fast so, als stürze das Wasser irgendwo in England einen Berg hinab. Aber trotz der vertrauten Namen spricht er voller Abscheu von ihm. Denn die Gleichgültigkeit, die in dem Wesen ist wie in manchen von uns die Schwermut, macht ihn krank und treibt ihn mitunter in den Wahnsinn. Bei all seiner Stumpfheit spürt er, dass die in den Dschungel hinein gerodeten Städte, Häfen und Hütten eine bedrohte Welt darstellen. Insgeheim fühlt er, dass der Wald seine vorübergehende Anwesenheit geduldig erträgt. Er ahnt, dass jeder Fluss und jeder Baum für ihn finster und fremd bleiben werden. Dieser störrischen Haltung bald überdrüssig, wird er, den nur Klarheit und Unterwerfung zufrieden stellt, von dem Ungetüm ablassen, undankbar und seiner müde.
Ein Blick auf Kapitän Nwena genügte mir, um zu erkennen, dass er nicht solch ein Mann aus Antwerpen, London oder Paris war, oder wenn doch, während der Jahre im Dschungel eine tiefgreifende Wandlung erfahren hatte. Keiner, weder die Pilger noch der Stationsvorsteher, kannte mehr seinen bürgerlichen Namen, woraus ich schloss, dass er bereits seit etlichen Jahren sein legendenbehaftetes Leben im Kongo führte. Es war selbstverständlich, das jeder ihn Nwena rief, ein Name, den ihm, so erzählt es der Wald, ein kriegerischer Stamm verlieh für einen weißen Zauber.
Er holte aus einer der Hosentaschen ein braunes Ledersäckchen hervor, öffnete es, griff hinein und warf die Glasperlen und Muscheln, die sich darin befanden, in die Menge. Tumult brach aus. Die Eingeborenen und Pilger warfen sich auf den schlammigen Boden und sammelten fieberhaft das Geld auf. Wir Weißen standen daneben und sahen dem Schauspiel ungläubig zu. Der Kapitän bahnte sich mit Fußtritten einen Weg durch die im Schlamm knienden, ging, ohne dem Stationsvorsteher oder mir Beachtung zu schenken, über den Platz und verschwand in der Stationshütte. Ungerührt von dem Auftritt, folgte ihm der Vorsteher trägen Schrittes. Sein Name war Reynhard. Er war ein junger, entmutigter Mann, dessen anfängliche Abenteuerlust innerhalb weniger Monate einer beunruhigenden, fast krankhaften Gleichgültigkeit dem eigenen Leben gegenüber gewichen war, die er mit der Einförmigkeit seiner hiesigen Aufgabe zu erklären versuchte. An den Wald dachte er dabei nicht. Jene Teilnahmslosigkeit war mit jedem Monat gewachsen und hatte vor einer Woche den Gouverneur dazu veranlasst, ihn seiner Stellung zu entheben. Ich ging hinter ihm her. Als wir in die Hütte eintraten, sahen wir Nwena am Schreibtisch sitzen.
„Na, Reynhard, man munkelt, Sie müssen uns bald schon verlassen. Wie schade, ich fing an, mich an Sie zu gewöhnen“, sagte er, holte eine Pfeife hervor und begann sie zu stopfen. Reynhard schaute ihn teilnahmslos an.
„Darf ich erfahren, woher Sie das wissen?“
„Ist das wichtig?“
„Nein. Aber sagen Sie, warum haben Sie das Kanu gerammt?“
„Warum stellen Sie mir nicht erst einmal Ihren neuen Prokuristen vor?“
Reynhard nannte ihm meinen Namen.
„Sie sind also Henry Doucas. Freut mich, Sie willkommen heißen zu dürfen in meinem bescheidenen Reich.“ Grinsend breitete er die Arme aus. Anscheinend haftete er der Meinung an, der Kongo gehöre ihm und nicht dem König von Belgien. Sprachlos von soviel Anmaßung, schaute ich ihn stumm an. Reynhard schloss zum Zeichen seines Überdrusses für einen Augenblick seine müden Augen, drehte sich dann um und verließ die Hütte.
Nwena zündete sich seine Pfeife an. Der stechende Qualm verschleierte sein hässliches Antlitz, was mein Unbehagen ihm gegenüber nur noch vergrößerte, wirkte doch dadurch alles, was er sagte, noch spöttischer und hintertriebener.
„Der gute Reynhard. Sein Weggang ist wirklich ein harter Verlust für die Station. Finden Sie nicht auch, Doucas?“
„Ganz gewiss ist er das, aber sagen Sie, warum sind Sie hier?“
Ich konnte das schelmische Lächeln hinter dem Qualm nur erahnen, als er sagte: „Mein Kahn ist ziemlich zerbeult. Die Maschine rattert nicht mehr so, wie sie soll. S’war eine Quälerei hier herauf. Ich bleib erstmal n’ paar Tage hier und bring die alte Dame wieder in Schuss.“
Ich konnte meinen Schreck darüber nicht verbergen und rief: „Ein paar Tage?“
„Ganz recht. Ich seh’ das übrigens nicht so verbissen. Diese kleine Unterbrechung gibt mir die Gelegenheit, Sie näher kennen zu lernen. Kommen Sie doch morgen früh mit zu den Kupferminen.“
Der beißende Gestank des Qualms erstickte meine Antwort. Dieser unangenehm bittere, dicke Geruch, der in der Nase brannte und einem die Kehle zuschnürte, passte zu diesem Mann, der keine Zurückhaltung und keinen Respekt kannte. Die bloße Anwesenheit seines alles beherrschenden Wesens vermittelte mir das Gefühl, ein Niemand zu sein. In seinen Augen war ich ein Zeitvertreib oder ein Werkzeug, wenn sich dafür die Gelegenheit bot. Mit keinem Wort hatte er mich beleidigt, und dennoch fühlte ich mich herabgesetzt. Keine seiner herablassenden Gesten hatte mir im Besonderen gegolten, und dennoch hatte ich sie auf mich bezogen. So trug nicht zuerst er die Schuld an den Ereignissen des nächsten Tages, sondern mein Verlangen, zu erfahren, wer dieser Mann war, der sich hinter einem ruhmvollen Namen und magischen Legenden versteckte.
Kurz nach Sonnenaufgang brachen wir zu den Minen auf, die, wie ich am Abend zuvor einer Karte entnommen hatte, zwei Stunden Fußmarschs von der Station entfernt lagen. Während ich hinter dem Kapitän durch das dichte Unterholz ging, den Blick gesenkt auf den Negerpfad, der sich schmal durch den Urwald schlängelte, tauchten Bilder meines bisherigen Lebens vor meinem inneren Auge auf, Bilder, die auf dem ersten Blick ein sorgenfreies Leben, bei näherer Betrachtung aber eine gähnende Langeweile erzählten, die drückender war als die schwere Luft des Kongo, die an den Nachmittagen das Leben bis zum Stillstand erlahmen lässt. Ich sah mich und meine Mutter in verschiedenen Salons steif auf hart gepolsterten Sofas sitzen und Tee aus den Kolonien trinken. Ich sah die dunklen, verqualmten Räume des Clubs und deren schwere, lederne Sessel, in denen selbstgenügsame, träge Männer saßen, die meinen Freundeskreis bildeten. Ich sah die vor Elefantenköpfen überbordende Fassade des Geschäftshauses meiner Firma, in dessen ersten Stockwerk ich mir ein kleines Zimmer mit einem krankhaft neidischen Menschen teilte, der keine Gelegenheit ausließ, mich daran zu erinnern, dass wenig Hoffnung für mich bestand, in naher Zukunft aufzusteigen. All diese Bilder erschienen vor mir wie verblasste, eingestaubte Gemälde. Nichts an ihnen war von Bedeutung, nichts an ihnen war betrachtenswert. Auch hielten die Farben keinen bestimmten, in seiner Einzigartigkeit wertvollen Augenblick fest. Vielmehr verschwammen tausende Tage ineinander zu einem bedeutungslosen Moment, der irgendwie sie alle widerspiegelte. Die Vorstellung, meine Zukunft würde diese Tage nur noch vermehren, ließ Gleichgültigkeit in mir aufkommen.
Der Schrei eines Ibis riss mich aus der Erinnerung an mein Missgeschick. Ich blickte auf und sah den Kapitän, der geschmeidig sich durch das Gestrüpp schlich. Sein tiefer, gleichmäßiger Atem war im Einklang mit der Stille, die uns einschloss. Ich keuchte schwer, das Blut pochte in meinen Schläfen und Moskitos zerstachen meinen Hals und meine Arme. Wir waren eine gute Stunde marschiert, als ich ihm nicht mehr folgen konnte und mich erschöpft auf eine Wurzel setzte. Er blieb vor mir stehen.
„Sie fühlen sich wie ein Ausgestoßener in einer feindlichen Welt, nicht wahr?
„Es ist nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis sie besiegt sein wird.“
Er lachte laut auf.
„Besiegt? Von wem?“
„Von uns!“
„Und wer seid ihr?“
„Der König von Belgien und meine Firma.“
Wieder lachte er laut auf, doch diesmal verstummte das Lachen nicht, sondern artete aus in einen Lachanfall, der völlig Besitz von ihm ergriff. Er stemmte die Arme in die Hüften, legte den Kopf in den Nacken und lachte gen Himmel, der ein dichtes, grünes Blattwerk war. Angewidert schaute ich in seinen fauligen Mund. Mir war unbegreiflich, wie dieser verachtenswerte, von der Wildnis verrohte Mensch über die Mannschaft eines Dampfers gebieten und sich ungestraft das Recht rausnehmen konnte, den Kongo sein eigen zu nennen. Es schien mir, als habe der Wald diesen Mann um den Preis seiner Geschichte in sich aufgenommen. Vielleicht aber hatte zwischen ihnen beiden nicht von Anfang an ein Einvernehmen bestanden. Vielleicht hatte der Wald ihn samt seiner Geschichte verschlungen. Vielleicht war dieser Nwena, wie so viele vor ihm, nur ein Opfer jener finsteren Gewalt, deren gefährlichste Waffe die Finsternis ist.
Ich hörte Nwenas grässliches Lachen und ahnte dass es das Lachen des Urwaldes war, dem es gefiel, mich wild zu machen. Ich hatte ein Messer in der Tasche, mit dem ich ihm die Kehle durchschneiden wollte, um dem Gelächter ein Ende zu machen. Neben mir lagen Steine, die ich nur gegen seinen Kopf zu schmettern brauchte, um sein hässliches Antlitz auszutilgen. Meine mörderische Absicht entsetzte meine Moral, doch zugleich – erniedrigend es zu gestehen – befriedigte sie einen barbarischen Drang, der für mich die Gerechtigkeit war.
Wie schnell sich dieser Drang verflüchtigte, als ich sehen musste, dass der Kapitän sich mit seinem Lachen entfernte. Farnblätter schlossen sich hinter ihm wie Türen. Binnen eines Augenblicks verschluckte ihn der Wald. Noch war sein Gelächter nah, aber mit jeder Sekunde, die ich länger zögerte, ihm nachzulaufen, wurde es leiser bis es ganz verstummte. Ich schaute mich verzweifelt um und spannte meine Sinne an. Ich suchte nach einem verräterisch schwankenden Blatt in der Windstille, ich wartete darauf, das nahe Knacken eines Zweiges zu hören. Aber alles, was ich sah, war ein finsteres Grün, alles, was ich hörte, war ein finsteres Schweigen. Wie erniedrigt ich mich fühlte, als ich aufsprang, in das Schweigen rannte und es durchbrach mit dem Schrei: „Nwena! Warten Sie! Nwena!“
Nach einer Weile drehte ich um, auf der Suche nach dem Weg, den ich gekommen war, doch scheiterte ich an der endlosen Wiederholung von sich gleichenden Stämmen, Zweigen und Blättern. Mir gewiss, dem Wald ausgeliefert zu sein, wich die Anspannung meines Geistes einer schweren Müdigkeit meines Körpers. Ich sank nieder auf die Knie wie ein Besiegter, der um Gnade bittet. Ich fühlte mich in der Hand einer Gottheit, dem das Erbarmen meines Gottes zuwider ist.
„Die andauernde Einsamkeit, mein lieber Doucas, diese tief empfundene Bedrückung, wirft einen für Wochen, in die Erinnerung zurück. Man ist unfähig mit Gedanken, die dem Augenblick verhaftet sind, dagegen zu steuern. Ein Haumesser schwenkend, schlägt man sich durch das Dickicht, aber man vermag der schneidenden Klinge keine Aufmerksamkeit zu schenken, weil währenddessen das eigene dürftige Leben in wenigen Bildern an einem vorüberzieht. Man wäre gern von Bewunderung durchdrungen, so wie man überwältigt sein kann von einem prächtigen Bild, dessen Farbspiel und Ausdruck, einmal gesehen, man zu einem Teil seines eigenen Lebens machen will, weil das darin Erzählte ein Gefühl anspricht, das man nur sich selbst wagt anzuvertrauen. Statt Bewunderung jedoch durchfährt einen der nüchterne Gedanke, dass all die Kraft, die man aufgebracht hat, um seine innigsten Wünsche mit dem Streben nach Ansehen in Einklang zu bringen, vergeudet war. Oh, wie die Einsicht gleichgültig macht, dass der unbeirrbare Wille, der einen Jahre lang antrieb zu außerordentlichen und manchmal anrüchigen Taten, der Selbstsucht entsprang, die man nun, da man gefangen ist in einem endlosen Wald, ohne Hoffnung auf Befreiung, als beschämend empfindet. Die Erinnerung, die man einst so gern beschworen hat, offenbart in diesen trüben Tagen ein das ganze Leben einschließendes Missgeschick. Sie bringt uns zu der Erkenntnis, dass sämtlichen Dingen, die man tut, eine unabänderliche Nutzlosigkeit zugrunde liegt. Manchmal suchen auch mich noch Bilder einer Vergangenheit heim, die irgendwie dem trostlosen Leben eines Toten angehören. Wie im Nebel sehe ich dann fernöstliche Häfen, deren grelle Farbenpracht verblasst ist und ineinander verschwimmt; schlammige Gezeitenbuchten und die Gischt am Kiel; das Meer stiert mich als ein dunkelblaues Auge an, aber es rührt mich nicht mehr; am Horizont tauchen die Masten eines Windjammers auf, die Schoten gefiert, im Halben Wind das Wasser durchpflügend, in dessen Bug und Heck, in dessen Segeln und Planken ich jedes Schiff wieder erkenne, auf dem ich einst diente und das ich einst lenkte: Die Dalecarlia, die Orontes und die Kyanite; oder kleinere Barken und Klipper, die ich durch unvermessene Gegenden der Südsee steuerte. Auch ich tat nichts aus Bequemlichkeit, wie Sie, der so einfältig ist, zu glauben, hier jenes Abenteuer zu finden, das ihm zu Hause versagt bleibt.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Es ist eine leichte Übung, zu sehen, wer sich aus Gier und wer sich aus Sehnsucht den Kongo hinaufwagt. Ich rate Ihnen zur Vorsicht! Von den Gierigen und den Sehnsüchtigen leben die letzteren hier ein gefährlicheres Leben.“
„Und was trieb Sie hierher?“
Für einen Augenblick blieb der Wald stumm.
„Die Gier natürlich, was sonst! Woher hätte ich wissen sollen, dass ich hier noch etwas anderes finden würde als Elfenbein.“
„Und was?“ Die Legende von der Verzauberung der Kaufleute schoss mir durch den Kopf.
„Natürlich wollen Sie das wissen. Sie sind in dem Glauben groß geworden, dass eine Erklärung das Unverständliche verständlicher macht. Und dieser törichte, weit verbreitete Glaube ermutigt Sie zu der Anmaßung, eine jede Gefahr auf ein Mindestmaß verringern zu können, denn eine Gefahr, sagen Sie, um dessen Tücke und Größe man weiß, ist wie ein Tiger im Käfig. Aber dahingehend muss ich Sie leider enttäuschen, denn hier lebt etwas, das älter ist als der Mensch und sich seinem Erklärungswahn entzieht. Es lässt sich nicht einsperren. Falls Sie einer der wenigen sind, deren empfindsame Seele die Trennung von Liebe und Hass genauso wenig billigen kann wie die Unterscheidung von Helle und Finsternis, werden Sie mir zustimmen müssen, dass Zukunft und Vergangenheit trügerische Vorstellungen sind.“
„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„Natürlich verstehen Sie mich nicht. Wie könnte es auch anders sein, wenn ich Ihnen eine Sache auseinandersetze, für deren durchdringendes Verständnis die Kraft des Verstandes nicht ausreicht.“
Der Wald hielt für einen Augenblick inne. Es schien, als wolle er mir Zeit geben, um über seine dunklen Worte und seine erhabene Stimme nachzudenken. Sie schien aus seiner finsteren Tiefe zu kommen. Ihr unheimlicher Klang weckte in mir das Gefühl, eine dunkle Drohung zu empfangen, die ich trotz ihrer Vagheit ernst zu nehmen hatte, weil die unerschütterliche Ruhe, die von ihr ausging, keinen Zweifel daran ließ, dass das Wissen des Redners umfassend und gültig war. Die Stimme hatte mich in ihren Bann gezogen. In ihr lag etwas Edles, das an eine vergangene, längst abgelegte Vornehmheit erinnerte. Die in jenes schwarze, vornehme Kleid gehüllten Worte waren mit Bedacht gewählt. Ihre Bedeutungskraft und Schönheit verlieh ihnen die Schwere und den Glanz einer Wahrheit. Doch konnte ich kaum glauben, dass es die Lippen des spöttischen, hintertriebenen Kapitäns gewesen waren, die das Wort »Liebe« geformt hatten. In meine Furcht und Anspannung mischte sich jener Stolz, den man empfindet, wenn einem ein Vorrecht zuteil wird. Ich bildete mir ein, allein meine Erscheinung habe Nwena dazu gebracht, sich mir zu öffnen. Warum sonst hätte er mir Erinnerungen anvertrauen sollen, die er vor allen anderen als ein Geheimnis hütete? Mein Stolz wuchs und gab mir Selbstvertrauen. Aus den Erinnerungsfetzen wob ich eine Lebensgeschichte, die mein Mitleid erregte. Die den Rumpf großer Segelschiffe umspülende Gischt verwies auf ein eintöniges Leben auf See, die Fahrten durch unvermessene Gewässer auf waghalsige Reisen. Abwechslung brachten Landgänge, die in schmutzigen und zwielichtigen Gassen endeten. Diese Geschichte eines einsamen und entbehrungsreichen Lebens auf See, auf das Zehntausende sich bereits vor ihm eingelassen hatten, nahm Kapitän Nwena, der tatsächlich Henry Walay oder Charles Marlot heißen mochte, die Anziehungskraft des Geheimnisvollen. Dennoch wollte ich wissen, warum er das Meer gegen den Urwald eingetauscht hatte. Die Vorstellung, einzig die Gier nach schnellem Geld habe ihn hierher gelockt, war zu allgemein und einfach für meinen Geist, der ein Rätsel lösen wollte.
Plötzlich trat Nwena trat aus der Wand der Farnblätter hervor. Noch mehr als zuvor zeichnete die Boshaftigkeit die Züge seines Gesichtes. Ich konnte nicht verstehen, wie die schwarze, vornehme Stimme, die so aufrichtig zu mir gesprochen hatte, einem Mann gehören konnte, dessen Erscheinung nur Böses ausstrahlte. Mir war, als wären all die Worte, die sich um Wahrhaftigkeit bemüht hatten, nichts anderes als die Tarnung eines Raubtieres gewesen, das sie aufgibt, um im selben Augenblick seine Beute zu erlegen. Er kam auf mich zu, blieb vor mir stehen und schaute auf mich herab.
„Wissen Sie, Doucas, ich schätze Sie.“
„Ich weiß nicht, ob mich das ehrt.“
„Gewiss tut es das. Denn trotz ihrer aufdringlichen Neugier haben Sie noch immer die Sanftmut und die Unschuld eines Kindes an sich, zwei bewahrenswerte Dinge, will ich meinen. Ich frage mich nur, wie das möglich ist, dass ein Mann ihres Alters und ihrer Profession diese Tugenden noch in sich tragen kann. Sie müssen bisher ein äußerst bequemes Leben geführt, jedoch keinen Genuss daran gefunden haben. Sonst knieten Sie wohl kaum hier vor mir im Dreck.“
„Ich wüsste nicht, was meine jetzige Lage mit Genuss zu tun haben soll!“ Ich stand auf und blickte ihm herausfordernd in die Augen.
„Sie sind nicht nur sanftmütig und unschuldig, sondern obendrein auch noch ahnungslos. Einfach herrlich! Aber lassen Sie uns später weiterplaudern. Wir haben eine Verabredung, die wir keinesfalls versäumen sollten.“
Auf meine Frage hin, wen wir treffen würden, antwortete er, den Aufseher der Minen, eine offenkundige Lüge, die ich als solche aber erst entlarvte, als ich nach einer weiteren Stunde Fußmarschs plötzlich tiefe Trommeln hörte, die mit jedem Schritt lauter und grimmiger wurden und bald so nah waren, dass ich Nwena aufgebracht zuraunte, ob wir noch auf dem Weg zu den Minen seien, worauf er sich zu mir umdrehte, mich mit seinen gelben Zähnen angrinste und sagte: „Natürlich nicht.“ Seine Antwort betäubte mich. Ich glaubte, vor Entsetzen und Schwäche zusammenzubrechen. Und vielleicht wäre ich auf den sumpfigen Boden gesunken, wäre Nwena nicht weitergegangen. Meine Furcht, noch einmal mich zu verirren, trieb mich an. Nwenas Schritte wurden so raumgreifend, dass ich ihm kaum noch folgen konnte. Im schnellen Takt der Trommelschläge arbeitete er sich durch den Sumpf, als spielte die Angst einflößende Musik nur zu dem Zweck, seine Schritte zu beschleunigen. Das Trommeln war ein ungeduldiges Rufen, das erst mit Nwenas Ankunft enden würde. Eine bleierne Erschöpfung ergriff Besitz von meinen Armen und Beinen. Die Befürchtung, Nwena nicht mehr folgen zu können, wuchs zur Panik an. Plötzlich blendete mich das weiße Licht der Sonne. Eine kleine, von Menschen in den Wald hinein gerodete Lichtung öffnete sich vor uns. Sie war nichts weiter als eine haarlose Pore im dichten Fell eines riesigen Raubtieres. Ich erblickte eine große Schar Eingeborener, bewaffnet mit Speeren und Pfeil und Bogen. Als wir auf die Lichtung traten, verstummten augenblicklich die Trommeln und ein markerschütternder Jubel brach aus. Die Schar lief auf uns zu und umkreiste uns. Als Nwena die Hand hob und ein ehrerbietiges Schweigen den Jubel ablöste, begriff ich, dass er ihr Häuptling war.
Die Wilden blickten ihn an, als stände vor ihnen kein Mensch, sondern ein sich selbst offenbarender Gott. Nwena zündete sich seine Pfeife an, blies den ätzenden Rauch in alle Richtungen, als sei dieser Qualm unerlässlich zur Eröffnung einer Zeremonie, und sprach dann in einer mir fremden Sprache zu den kriegerischen Männern, deren Haupt eine eiserne Krone und deren Hals eine Kette aus Affenzähnen schmückte. Ihre großen, runden Augen waren allesamt ehrfürchtig auf die weiße Gestalt in ihrer Mitte geheftet, deren Stimme immer eindringlicher wurde bis sie sich zu einem Brüllen erhob, das wilde Gebärden der Hände begleiteten. Die Pfeife tobte durch die Luft und wirkte wie eine unberechenbare Waffe, deren unscheinbares Äußeres über ihre magische Zerstörungskraft hinwegtäuschen soll.
Plötzlich stimmte der Kreis in Nwenas Brüllen ein. Der Ruf eines Horns ließ mich zusammenfahren. Erneut setzten die Trommeln ein. Als der Kreis sich öffnete, gewahrte ich eine niedrige, schiefe Holzhütte am anderen Ende der Lichtung. Nwena sagte mir, ich solle vorangehen. Wir waren noch einige Schritte von der Tür entfernt, als ich neben der Hütte ein Dutzend schwarze und weiße Köpfe erblickte, die in einer Reihe auf Speeren aufgespießt waren. Schieres Entsetzen packte mich. Ich wollte mich abwenden, doch etwas in mir, das meine Moral noch verbietet, näher zu beschreiben, labte sich an dem Grauen und zwang die Augen, weiter hinzusehen. Unzweifelhaft war die Lichtung dem Tod geweiht und ich sollte das nächste Opfer eines fanatischen Kultes zur Besänftigung einer blutrünstigen Gottheit sein. Im Lärm der Trommeln hörte ich über meine Schulter jene Stimme zu mir sprechen, die vor einer Stunde aus dem Dunkel des Waldes zu mir gesprochen hatte:
„Ich weiß, ich sinke gerade ein wenig in ihrer Meinung. Wie anders als mit Verachtung sollte man auch einer Verderbtheit begegnen können, die es selbst an einem Mindestmaß an Moral missen lässt. Sie müssen mich für unverschämt halten, dass ich Ihnen den eigentlichen Beweggrund unseres kleinen Ausflugs verschwiegen habe, aber ich glaube, Sie hätten es vorgezogen, über ihren Listen zu brüten statt mich zu einer Lichtung voller Kannibalen zu begleiten.“
Ich schwieg und wünschte, von Nwenas nach Tabak stinkendem Atem erlöst zu werden.
„Der Anblick der Verwesung muss für Sie, der sich eines reinen Gewissens erfreuen darf, eine Marter sein. Doch obwohl Sie angewidert sind, können Sie den Blick nicht davon ablassen, weil ein lange unterdrückter Teil von Ihnen so sehr angezogen ist von dem namenlosen Grauen, dass Sie den Augenblick auskosten und in die Länge ziehen, in dem das Bild des Schreckens eine ungekannte Erregung in Ihnen auslöst.“
„Das ist nicht wahr!“
„Oh doch, mein lieber Doucas“, sprach er direkt in mein Ohr, „ein halb durchschautes Geheimnis lässt niemanden ungerührt. Mag dieses rohe Bild Sie noch so sehr entsetzen, Ihre Augen bleiben darauf haften, weil ein Blick in die Finsternis der menschlichen Seele eine so selten zu machende Erfahrung ist, dass Sie hoffen, in Antwerpen dafür sprachlose Bewunderung zu ernten.“
„Sie sind verrückt!“
„Einem Mann von beschränkter Erfahrung und endloser Sanftmut kann ich eine solche Beleidigung nicht übel nehmen. Nach Ihnen.“
Mit dem Blick zur Tür ahnte ich, dass die aufgespießten Schädel lediglich die Vorboten eines noch weitaus größeren und lebendigen Grauens darstellten. Ich gehorchte Nwenas Aufforderung, nicht weil er sie ausgesprochen hatte, sondern weil sie meine Aufmerksamkeit auf eine Gewalt lenkte, die wie die Sturzsee dem Seemann mir den Atem rauben würde. Ich öffnete die Tür und trat in den dämmrigen Raum ein. Der warme Gestank nach Kot, Moder und verwesendem Fleisch schnürte mir die Kehle zu. Der Anblick eines auf einem hohen Haufen aus Elfenbein gebetteten Skeletts, dessen Brustkorb sich schwach hob und senkte, warf mich zurück. Mit dem Rücken prallte ich gegen Nwenas harte Brust. Sein verruchtes Lachen beschwor in mir den mörderischen Wunsch herauf, es zu ersticken. Der Kampf war kurz und ungleich. Ein übermächtiger Arm umschloss meinen Hals und zog mich aus der Hütte. Während mir der Griff die Luft nahm, sah ich im weißen Licht einen Krieger seinen Speer vor mir heben. Die Wunde nahm mir das Bewusstsein, das ich vollkommen erst in Martadi wiedererlangte. Dazwischen lagen von Wundbrand und Fieber in einen wahnvollen Traum verwandelte Wochen auf dem Kongo, von denen mir nur die ewig grüne Aussicht eines Bullauges, das gleichmäßige Klatschen eines Heckrades und der beißende Geruch von Nwenas Tabak in Erinnerung geblieben sind.
Über Jacque Rodhain erreichte mich das Gerücht, ich würde mein Leben dem diplomatischen Geschick eines Kapitäns verdanken, der mich aus den Klauen kannibalischer Wilder befreit haben soll. So wenig ich daran zweifele, dass Nwena die Lüge in Umlauf brachte, so wenig zweifele ich daran, dass er sie erfand, um mir ein letztes zynisches Lebewohl zuzusenden.
Die Legende ist langlebiger und erzählenswerter als die Wahrheit. Ich weiß, dass er sich weidet an meinem Zwiespalt, eine Geschichte verschweigen zu müssen, die meinen Freunden zu erzählen, mich drängt. In meiner verblassenden Erinnerung nimmt das Geschehene die sagenhaften Züge einer Legende an, einzig dazu bestimmt, auf immer neue Weise erzählt zu werden. So wächst in mir der Glaube, dass Nwenas Leben eine einzige Verklärung und die Vorgeschichte die Geschichte eines Toten ist. Vielleicht ersann er seine Reisen in die Südsee nur und sah nie die schlammigen Gezeitenbuchten, die er gesehen haben wollte. Und vielleicht sind die Namen der Schiffe, auf denen er fuhr – die Dalecarlia, die Orontes und die Kyantite – nur der klangvolle Ausdruck einer von Seefahrergeschichten genährten Fantasie.
Seine Finsternis ist undurchdringlich wie der Wald, seine Widersprüchlichkeit so natürlich wie die Einfalt anderer Menschen. Die sinnlose Abgeschiedenheit, durch die sich die »Tanaro« schleppt, bleibt mir unbegreiflich wie das All, aus dessen Unermesslichkeit, so scheint es mir, der Urwald seine Weite schöpft, in der Menschen und Erinnerungen sich verlieren und schnell in ein Vergessen übergehen, das ein jedes Schicksal loslöst von der Zukunft und Vergangenheit, der ich mich, der tiefe Sehnsucht fühlen müsste, gleichgültig nähere, als schlüge nun auch in mir das Herz der Finsternis.


Einstell-Datum: 2008-01-25

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Bewertung: 4.254.254.254.254.25 (4 Stimmen)

 

Kommentare


Das ist Henry
Kommentar # 1: Nwena
Autor: Henry, 28.02.2008 um 15:24 Uhr


Der Verweis auf Conrad ist, glaube ich, nicht notwendig. Der Text ist wie bei ihm so reich an griffigen Bildern von Empfindungen und Gefühlen, die sich normalerweise schwer beschreiben lassen. Auch der Rahmen, der, wie bei Conrad, die zentrale Handlung einschließt trägt dazu bei, den Gegensatz zwischen den Welten zu spüren. Anfangs war mir nicht klar, warum Nwena seinen Gefangenen verschont, denn man meint zwischen den Zeilen zu erkennen, er selbst sei ein Opfer und somit nicht vollends schuldig. Wie auch immer: Die Tatsache, dass man darüber brütet, spricht FÜR die Erzählung und das liegt nicht nur an der Ähnlichkeit mit Conrads "H d F". Nur sehe ich gerade darin die Schwierigkeit. Conrad hat die Story in einer bestimmten Zeit geschrieben, er hat eine ganze Tradition begründet, die ihre eigene Botschaft hatte, diese Geschichte will jedoch etwas anderes sagen, oder?
Ich fand den Text mehr als gut. Ich würde mich auf Fortsetzungen freuen.



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