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Mein Freund DesertEagle.50
Autor: Wanderstein · Rubrik:
Kurzgeschichten

Ich saß schon seit Stunden so da. Einfach so. Vor mir auf dem Tisch die Pistole. Ich betrachtete ihre Form, wie sich das Licht in dem geölten Metall spiegelte. Ich betrachtete genau das geriffelte Muster des Griffes, die Aufschrift DesertEagle.50, betrachtete den Hahn und den Abzug. An letzterem blieb mein Blick kleben. War es nun eine Entscheidung für mich, oder gegen das Leben? Ich wusste es nicht, fand keine Antwort. Wieder einmal waren alle Dämme gebrochen, wieder einmal wusste ich nicht ein, noch aus. Wieder einmal stand ich der Welt und dem Leben hilflos gegenüber. Wieder einmal war ich nicht fähig gewesen, über mein Leben selbst zu bestimmen.
Ich lebte schon lange am Abgrund. Ich trat immer wieder daneben. Ich kam immer wieder an den Tisch zu meinem Freund DesertEagle.50 zurück, den ich einige Stunden andächtig bestaunte. Danach ging es mir meist besser, bis zum Abend oder sogar bis zum nächsten Morgen, so genau weiß ich das nicht mehr. Es hielt einige Stunden vor, dann passierte wieder etwas Schreckliches. Es flatterte eine Mahnung herein, es funktionierte etwas nicht, ich wurde mir wieder einmal meiner Einsamkeit bewusst und dergleichen mehr. Schon eine Telefonrechnung konnte mich zur Verzweiflung treiben.
Ich hatte keine Reserven mehr. Ich hatte keine Nerven mehr. Ich hatte keine Kraft mehr. Mein Freund gab mir welche. Ich wusste, ich konnte ihn jederzeit benutzen, und dieses Wissen verschaffte mir ein wenig Freiraum.
Alle luden etwas auf mir ab, bis sie mich erdrückten. Bis ich platt war. Mein Job verlangte, dass ich leistete, dass ich mich auf dem Laufenden hielt. Meine Frau verlangte, ab und an gefickt und jederzeit verstanden zu werden. Meine Kinder verlangten Kohle und Jedermann ein freundliches Lächeln. Alle bestimmten um mich herum, wie es zu sein hatte. Nur mein Freund DesertEagle.50 nicht. Er wartete geduldig darauf, dass ich bestimmte. Er war der Einzige, der auf mich hörte und nicht umgekehrt.
Wohin gehen, fragte der Weise und wusste keine Antwort. Man musste sportlich und attraktiv sein, vermögend sein, jung sein. Nicht allein sein. Wenn man nicht allein sein wollte, brauchte man Geld. Egal wohin man ging, heutzutage wollten sie alle Geld von einem. Alles war zur Ware geworden, vom Köter bis zum Kind. Sogar das Scheißen kostete Geld. Das Sterben übrigens auch.
Und was man nicht noch alles sein musste: Bürger, Ehemann, Vater, Sohn, Student, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, wie viele Hülsen hatte ein Mensch? So viele Häute, aber keine eigene. Wessen Kleider trug ich? Die meines Bosses? Die meiner Frau? Die meiner Kinder, meiner Freunde, der Werbung? Die der stinkenden Gesellschaft? Der Bourgeoisie? Des Bildungsbürgertums? All diese verlogenen Hülsen, diese Verantwortung machten mich platt.
Und diese Emotionalität. Heut zu Tage war alles emotional. Das Geld, die Liebe, der Job, das Konsumieren, alles wurde mit Gefühlen verbunden, so dass für wirkliche Gefühle keine Zeit blieb. Dass Depressionen uns plagten.
Na ja, mein Freund hatte nur ein Kleid und keine Emotionen. Stahl ist da geduldiger und ehrlicher.
War das schon immer so gewesen? War man schon immer Standards und Normen gefolgt, statt dem eigenen Herzen? Umgab man sich schon immer mit Menschen, die der Profession, der Konfession, der Konfektion entsprachen? Des Bildes der Welt über den Einzelnen?
Wir fanden uns, so schien mir, meist auf Grund von Fakten zusammen. Faktisch waren meine Frau wie ich vor einigen Jahren eine gute Partie gewesen. Emotional hatte ich höchstens einmal ihren Hintern im Auge, das war’s. War das mein Fehler? Er war es. Hätte ich es besser wissen können? Mit sehr viel Glück und einem schönen Leben vielleicht. Zur Wahrheit führte keine Sau, höchstens zum Schotter. Da blieb für das Mensch sein kein Raum.
Und da sollte es ein Wunder sein, sollten wir verdammt werden dafür, dass wir uns jeden Abend den Kopf wegschossen mit irgend etwas? Das wir einen Ort suchten, an dem wir noch fühlen und träumen konnten, Mensch sein konnten, was zwischen den anderen kaum noch möglich war? Das wir unser wahres Kleid anzogen, wenigstens einmal, wenn wir schon keine andere Art gelernt hatten, das zu tun. Wer hätte es uns auch beibringen sollen? Unsere Eltern hatten, auf ihre Art und Weise, doch dasselbe getan. War es Arbeit, Schnaps oder Depressionen. Waren es Hobby, Lügen oder Masken. Unsere Lehrer, Vorgesetzten, Freunde, sie alle waren nur Menschen in demselben Leben wie wir. Wer von ihnen hätte uns zeigen können, was er selbst nicht wusste?
Wer wagte es, über unsere Fehler zu richten, und wer wagte es, sie zu vergeben? Wer schwang sich über uns, der nicht sofort heruntergeholt und als Emporkömmling verurteilt wurde? Wer liebte uns und wer hasste uns? Wir waren doch nur Ware, Geldesel, Bestimmungsesel, Konfektionsesel.
Mein Freund .50 hatte nur ein Kaliber. Ich nahm die Pistole in die Hand und streichelte zärtlich darüber. Einen Moment verharrte ich in dieser Position, dann hob ich den Arm und die Mündung meines Freundes zur Schläfe. Ich schloss die Augen und drückte den Abzug...
Es machte „klick“. Sie war nicht geladen. Das war sie nie. Ich legte die Waffe zurück und ging in die Küche zu meiner Frau.
„Schatz, machst du mir noch einen Kaffee?“ fragte ich.
„Ja“, sagte sie. „Du, Schatz, kannst du morgen die Kinder in die Schule bringen? Ich muss noch kurz zum Frisör, wir gehen doch morgen aus. Außerdem musst du den Wagen waschen lassen, was sollen denn die Nachbarn und dein Boss von uns denken. Der Rasen könnte aus demselben Grund auch mal wieder gemäht werden. Sag es doch Tobias, als Entschädigung darf er sich dann das Videospiel kaufen, das er so sehr liebt.“
„Mach ich“, sagte ich.
„Danke, Schatz. Wüsste nicht, was ich ohne dich machen sollte. Bist doch mein Mann. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch“, sagte ich.


Einstell-Datum: 2003-12-14

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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