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Glöckchen
Autor: Karsten Rube · Rubrik:
Kurzgeschichten

Ich halte mich für ein überaus lebendiges Wesen, bin aber tagsüber eher träge.
Erst wenn die Nacht aus dem Himmel fällt, beginnt mich meine Umwelt zu interessieren. Nach der unmissverständlichen Deutlichkeit des Tages, verschwinden die Konturen mit dem fliehenden Licht und langweiliges verwandelt sich in zwielichtiges und interessantes.

Allmählich verkriecht sich der Mensch in die vermeintliche Sicherheit der Häuser, verriegelt die Haustüren. Zweimal dreht sich der Schlüssel. Der Mensch im Kiez ist vorsichtig, denn auf den Straßen lauert der Halunke. Der Halunke ist gemein, Ausländer und rechtsradikal. Meistens betrunken grölt er umher und klaut Fahrräder, erledigt all jene gemeinen Dinge, die noch am selben Abend im Kurier stehen.
Ich habe selten einen Halunken bei der Arbeit gesehen. Dabei sehe ich viel. Ich sehe den Fuchs, wie er unterm Briefkasten sitzt und mit seiner Anwesenheit eine verschreckte Ärztin verscheucht, deren Post nun uneingeworfen bleibt.
Auf dem Parkplatz frisst sich ein Marder satt.
Mein Kumpel Merlin glotzt durchs geschlossene Fenster den eckigen Mond an. Merlin, der alte Rotschopf, besitzt das verstockte Naturell eines Stubenhockers. Er weiß nichts von beleuchteten Kranauslegern.
Nebenan erschießen sich Menschen im Fernsehegerät. Der Vogelspinnenmann fläzt davor und streichelt sich zufrieden über den Kopf.

Im Café Mirbach wird gequalmt und gelacht. Dahin flieht das Weißenseer Erwachsenenvolk, denn dort kann es, unbehelligt von Kindern, Dinge trinken, Zeug rauchen und Sachen sagen.
In lauen Sommernächten ist auf der Straßeninsel, hinter der alten Kirchenruine mehr Verkehr als drumherum.
Zwei Radfahrer kreuzen sich krachend. Keiner hatte Licht. Beide schleppen sich schimpfend zur Rettungsstelle.

Der Park leert sich und wird unheimlicher. Eine einsame Lampe, die das Grünflächenamt in ihren leidenschaftlichen Bemühungen, kostensenkend zu arbeiten, vergessen hat zu demolieren, leuchtet spärlich gegen die Schatten an, die sie selbst wirft.
Über den schmalen Gehweg klappern betrunkene Absätze.
Geräusche erscheinen lauter, näher und geheimnisvoller. Selbst der Trinkergilde wird es unheimlich. Sie erhebt sich von ihrer angestammten Parkbank, schifft noch einmal kollektiv ins Gebüsch und zieht sich zurück in die Sicherheit ihrer Krankenstation.

Die Parkklinik befindet sich in Parknähe, eingeschlossen von mehreren alten und gut frequentierten Friedhöfen.
Im Gegensatz zum Tag, an dem sich Witwen und Witwer die Gießkannen in die Hand drücken und der kleine Gemeindetrompeter manch stilles Begräbnis hörbar macht, herrscht nachts auf den Friedhöfen eine lauernde Stille. Manchmal hockt ein Rabe auf einem Grabstein und singt. Er trägt die Seele eines Verstorbenen in sich, in Tiergestalt wiedergekehrt, um zu ergründen, wie lang “unvergessen” währt.
Flinke Mäuse rascheln unter Blättern. Schon lange habe ich kein Käuzchen mehr gehört.

Kurz vor dem Morgengrauen begebe ich mich wieder in den Park. Langsam beginnen die Enten auf dem See ihre Köpfe unter dem Gefieder hervorzuziehen. Ein Angler zerdrückt eine Mücke am Hals und am Ufer hechelt mit schmerzverzerrtem Gesicht der erste Jogger durch den Matsch.
Die Nachtigall verstummt, als sie mich bemerkt.
Kurz Zeit später beginnen die Vögel zu singen. Zu schade, dass ich nie einen erwischen werde. Das dämliche Glöckchen, das mir mein Frauchen um den Hals gehängt hat, vertreibt sie, sobald sie es hören.


Einstell-Datum: 2006-01-01

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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