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Filius
Autor: Jörn Dittmer · Rubrik:
Erzählungen

Er wird sterben, und ich habe Angst, es ihm zu sagen.
Ich habe ihm sein Leben gerettet. Wie soll ich ihm nun erklären, dass ich es ihm gleichzeitig genommen habe?
„Hey, Junior – wollen wir ein paar Bälle werfen?“
„Klar, Dad. Bin gleich bei dir.“
Würde er es begreifen? Ja, sicherlich. Aber... verstehen? Nein, ich verstand es ja selbst kaum. Ich meine – ich wusste es –, ich kannte die Konsequenzen.
Und trotzdem tat ich es. Würde er das verstehen?
„Okay, Dad. Kannst anfangen, wenn du willst!“
Mit einer leichten, fast harmonischen Bewegung, lässt er den Baseball vor meine Füße rollen. Ich hebe ihn auf und werfe ihm einen kräftigen Ball zu, den er mit Leichtigkeit in seinem abgewetzten Fanghandschuh entgegen nimmt.
Ich kann mich auch nicht entschuldigen, denn für das, was ich getan habe, gibt es keine Entschuldigung. Es kann nur Liebe und Zuversicht oder Hass und Entzweiung geben. Aber auf keinen Fall gibt es eine Entschuldigung.
Zumindest keine, von der ich wüsste.
Junior lacht und – Herrgott, wie sehr ich ihn liebe.
„Alles klar, Dad? Wollen wir spielen oder...“
Er ist ziemlich groß, sieht gut aus, nimmt keine Drogen. Ein toller Junge. Wirklich. Ein verdammt feiner Kerl. Aber was soll´s – er wird sowieso sterben. Bald schon...
„He, Dad, du musst auch ´n bisschen aufpassen!“
Ich schaue auf und habe das Gefühl, als wäre ich aus einem Traum erwacht. Ich sehe in seine blauen Augen, die er von mir geerbt hat.
Mein Filius. Mein Sohn.
Als Junior vor zwei Wochen in der Baseball-Liga seiner Schule spielte, war ich natürlich mit dabei. Ich saß auf der Tribüne und auf dem Feld schien mein Sohn zu tanzen wie Fred Astaire in seinen besten Zeiten. Junior ist ein wunderbarer Fänger und ein perfekter Werfer. Und nichts konnte ihn aufhalten. Kein Wurf war zu hart, und kein Wurf zu perfekt.
So spielt ein Kämpfer. So spielt jemand, der das Leben liebt.
Vielleicht wird er um sein Leben kämpfen – weil er es so liebt.
Ich hoffe, dass er kämpfen wird, denn ich würde es nicht ertragen, dabei zuzusehen, wie er langsam und traurig dahinvegetiert.
„Komm schon, Dad. Was ist denn los mit dir?“ Er steht da, den Handschuh vor die Brust haltend, eine Hand an der Taille und ein Bein leicht angewinkelt. Er sieht gut aus, richtig gut.
„Ich hab dich furchtbar lieb, Junior.“
Daraufhin lächelt er leicht und sieht mich mit seltsam verklärtem Blick an.
Als würde er etwas wissen. Vielleicht ist er auch nur verwirrt. Ich muss gestehen, dass er es nicht gewohnt ist, solche Worte von mir zu hören. Ich hätte es viel öfter sagen sollen, doch irgendwie – ich weiß nicht... Zu oft sind es die falschen Worte, die ich wähle. Und dabei ist es doch so einfach. Wenn man jemanden lieb hat, dann sollte man es auch sagen. Im ersten Moment scheint es lächerlich zu klingen - es sind doch nur Worte... doch dann erkennt man, dass es Worte sind, die der Angesprochene gerne hört – und vielleicht ebenso selten wie Bobby sie von mir hören durfte. Vielleicht denkt man aber auch, nur weil man einen Menschen jeden Tag sieht, seine Zeit mit ihm verbringt, für ihn arbeitet und ein gemeinsames Leben gestaltet, würden solche Worte, solche Zugeständnisse, einfach überflüssig. Doch dem ist nicht so. Ganz und gar nicht.
Als wir vor sechs Monaten den Autounfall hatten, bei dem Susan starb, dachte ich, ich hätte auch ihr häufiger meine Liebe gestehen müssen. Doch jetzt, im nachhinein, glaube ich, dass sie es wusste. Es war ja nicht so, dass ich es ihr nie gesagt habe – nur eben zu selten. Es gab auch eine Zeit, in der sie mir nicht mehr glaubte, dass ich sie wirklich lieben würde. Eine Zeit, in der ich mich häufig im Ausland aufhielt. Thailand, Bangkok. Und eben ähnliche Gebiete. Als dann herauskam, dass ich mich mit HIV infiziert hatte, wollte sie sich von mir trennen.
„Dad?“
Sie tat es aber nicht. Zu stark war das Band, das uns zusammen hielt.
„Dad, ich hab keine Lust mehr. Wir können ja vielleicht nachher noch weiterspielen, okay?“
Bobby wäre auch fast gestorben. Bei diesem Autounfall. Vielleicht hätte ich ihn nicht retten sollen, aber meine Frau war tot und lag mit zerschmettertem
Schädel auf der Motorhaube, während der Sanitäter hilflos nach Blutkonserven für Bobby rief, und ich wollte nicht auch noch meinen einzigen Sohn verlieren. Das einzige Kind, dass Susan und ich hatten.
Ich konnte ihn nicht sterben lassen.
„Okay, Dad? Ich geh zu Jimmy!“
Wir haben beide eine seltene Blutgruppe – Bobby und ich. Und wenn ich mein Blut nicht sofort zur Verfügung gestellt hätte – er...
Vielleicht wäre es besser gewesen!
„Warte. Warte noch, Junior. Ich muss mit dir reden.“
Bobby sieht mich fragend an. Weshalb? Weil ich so Ernst bin? Weil der Klang meiner Stimme nichts Gutes ahnen lässt?
Was soll ich ihm nur sagen? Was denn nur?
„Komm her. Setz dich zu mir.“ Meine Stimme zittert und ich friere, als Junior langsam zu mir herüber kommt und sich neben mich stellt.
Als ich ihm mein verseuchtes Blut gab, dachte ich nur daran, ihn nicht sterben zu lassen. Susan war tot. Gott konnte nicht von mir verlangen dabei zuzusehen, wie auch Junior starb. Doch genau das würde ich auch jetzt müssen – zusehen -, nur dass es länger dauern würde.
Junior wirkt sehr nachdenklich, als er sagt: „Ich hab dich auch lieb, Dad, aber... lass uns jetzt Spielen, ja?“
„Ja – lass uns Spielen.“ Ich nehme den Ball und wische meine Tränen fort... fürs erste


Einstell-Datum: 2003-10-14

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 2.52.52.5 (2 Stimmen)

 

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