Für meine Tochter:
Mitten in dem kleinen Dorf Frasdorf erlebte die zehnjährige Sara eine sehr seltsame Geschichte. Dabei ging es nicht um Feen, Hexen oder Zauberer. Nein, die sind ja auch nur Fantasiegestalten. Was Sara erlebte, passt zwar auch in Märchen, oder noch besser in Gruselgeschichten, nur mit dem Unterschied, das es die Wahrheit war und jedem geschehen konnte.
Es war an einem Wochenende im März, der Schnee lag wie Beton im Tal vor den Bergen, in dessen Mitte das kleine Dorf stand. Sara besuchte wie fast jedes Wochenende ihren Papa Christian und seine Freundin Kathrin. Sie holten sie immer am Samstag ab, sie blieb eine Nacht (Sara hatte ihr eigenes Zimmer, was cool war, da sie damit zwei Kinderzimmer mit Spielsachen voll stopfen konnte) und am Sonntag ging es nachmittags wieder nach Hause zu ihrer Mama. Für Sara waren die Besuche so etwas wie kleine Erholungsferien. Sie genoss es, einmal die Woche so richtig ausschlafen zu können. Meistens blieb sie am Sonntag bis mittags im Bett. Das war ok so, sagte ihr Papa. Sie soll sich ruhig ausruhen. Er meinte, die Kinder heutzutage hätten schon genug Stress. Sie wusste zwar nicht genau, was Stress war (wahrscheinlich dieses kribbelige Gefühl, alles auf einmal tun zu müssen und doch nichts zu schaffen), aber sie liebte die Ruhe in dem Dorf.
An diesem Wochenende war nichts besonderes angesagt. Fabio, ihr Kumpel (ein kleiner Italiener in ihrem Alter) aus dem Dorf, wollte noch vorbei schauen. Ach, er war immer so faul. Es würde wohl darauf hinaus laufen, das sie ihn besucht, da er wahrscheinlich nachmittags um fünf noch im Schlafanzug rumläuft und seine Mutter ihn natürlich nicht so auf die Straße lässt. „Er würde wahrscheinlich sogar im Schlafanzug durchs Dorf laufen“ schmunzelte sie, als sie in Frasdorf ankamen. „Was“ fragte Papa, als er die Haustür aufsperrte, „was hast du gesagt?“ „Ach, nix.“ Sara lief hoch in die Wohnung im zweiten Stock und brachte ihren Rucksack mit den Sachen fürs Wochenende in ihr Zimmer.
Das Zimmer war länglich und hatte zwei Fenster. Eines in der Dachschräge und direkt darunter noch ein kleines. Von der Tür aus gesehen stand ihr Bett rechts der Fenster, links davon ein Sofa und im vorderen Teil ein großer, dunkler Holzschrank. Zwischen den Möbeln, zwei Regalen und einem Schreibtisch war ihr ganzes Spielzeug verstreut. Papa sagte zwar immer, sie solle aufräumen, wenn denn Zeit dafür sei, aber hey, sie war ein Kind und Kinder kannten noch nicht diese seltsamen Wörter wie „Aufräumen“, „Brav sein“, „Beeilung“ oder ähnliches. So landete der Rucksack irgendwo zwischen Papier zum Basteln, einem Riesenteddy mit ausgestreckter Zunge und einem Barbie-Schminkkopf.
Sara kramte ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer Fabios. Nach dem dritten Klingeln ging er ran. „Hallo?“ „Hallo, Fabio, ich bin es, Sara.“ „Oh, hey, schon da?“ „Ja, kommst du vorbei?“ „Klar, aber ich muss mich erst noch anziehen. Bin so in 10 Minuten da.“ „Ok.“ „Tschau.“ „Tschüss.“
Sie musste schmunzeln. Es war 16 Uhr und Fabio hatte es nicht geschafft, sich umzuziehen. Er war wirklich der König aller faulen Kinder. Nun gut, 10 Minuten, was mache ich jetzt? Sie überlegte, wieso sie sich eigentlich den Schminkkopf zu Weihnachten hatte schenken lassen, obwohl sie nie damit spielte (auch ihr Daddy dachte darüber nach, warum er die 50 Euro nicht gleich zum Fenster hinaus geworfen hatte), bückte sich nach ihren Hausschuhen (große, filzige, lila Kuschelpuschen) und rammte sich den Kopf beim Aufstehen an einer Kante des Regals vor dem Sofa.
„Auuuuuu.“ Sie hielt sich sofort die Hand an den Kopf, Tränen schossen ihr in die Augen und ein unangenehmes, warmes Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit. So fühlt sich Wut an. Wut über die eigene Dummheit. Wieder mal nicht aufgepasst. „Verflucht, ahhhh.“ Sie taumelte zurück zum Bett, hockte sich hin und in ihren Gedanken schimpfte sie die schlimmsten Schimpfwörter, die sie kannte (da der Erzähler nicht in den Kopf des Mädchens schauen konnte, wusste er auch nicht so genau, welche Schimpfwörter das waren, aber bestimmt ein paar ganz Schlimme).
Sie fluchte und rieb sich den Kopf. Das gibt bestimmt eine Beule, aber der Schmerz lies schon etwas nach. Noch als sie überlegte, Papa oder Kathrin nach einem Beutel mit Eis zu fragen (und vielleicht bei der Gelegenheit gleich nach richtigem Eis, mmh, lecker), war da plötzlich ein Geräusch, ein hohles Klopfen. Sie stutzte und verhielt sich ganz ruhig. Das Geräusch kam nicht von ihr und war schon wieder weg. Seltsam, dachte sie, hör ich jetzt schon Gespenster. Das kommt bestimmt von der Beule. Da, schon wieder. Als ob irgendetwas mit winzigen Fäustchen klopft und mit kleinen Füßchen scharrt. Sara wurde mulmig. Sie lief ins Wohnzimmer, um festzustellen, woher dieses Geräusch kam, aber Papa saß auf der Wohnzimmercouch und las die Zeitung, Kathrin war auf dem Balkon und rauchte. Das Klopfen und Scharren konnte nicht von ihnen stammen. Sie blieb verdutzt in der Wohnzimmertür stehen und schaute sich fragend um.
„Alles klar, mein Schatz?“ Papa schaute von der Zeitung auf und warf ihr einen fragenden Blick zu.
„Ja, alles ok.“ Sie konnte ihm doch nichts von Geräuschen erzählen, die sie offensichtlich nur in ihrer Fantasie hörte. „Alles in Ordnung“ bekräftigte sie ihre Gedanken.
„Und warum hältst du dir dann den Kopf?“
„Oh, hab ihn mir gestoßen, ist aber nicht so schlimm.“
„Warte, ich schau mal.“ Er stand auf und untersuchte ihre Beule. „Oh je, hat dich ein Flugzeug gerammt?“
„Ja, aber ich war stärker.“ Sie wollte lachen, machte sich aber Gedanken über die komischen Geräusche.
„Na, das arme Flugzeug.“ Er gab ihr einen Kuss auf den Kopf und meinte, es sei nicht so schlimm.
„Papa, habt ihr gerade Krach gemacht?“
„Nein.“
„Mmh, ich dachte, ich hätte was gehört.“ Mit einem Schulterzucken lief sie zurück in ihr Zimmer. Sie hockte sich auf das Sofa, hielt den Atem an und lauschte. Nichts. War wohl wirklich nur Einbildung. Gerade, als sie sich sicher war, die Geräusche würden wohl nur aus ihrem Kopf kommen (vielleicht war eine Schraube locker), klopfte und scharrte es wieder. Diesmal ganz deutlich und zwar aus dem großen, dunklen und alten Bauernschrank in ihrem Zimmer. Normalerweise wurde der Schrank nur zweimal im Jahr geöffnet. Zum Einen, um die Winterklamotten darin zu verstauen oder eben, um sie daraus zu holen, wenn der Schnee vor der Tür stand. Sie horchte. Wieder nichts. Sara schüttelte den Kopf, stand auf und schlich langsam auf Zehenspitzen durch das Zimmer. Da. Wieder ein Klopfen und ein „Knurren“. Leise, kaum wahrnehmbar, aber doch ein „Knurren“. Sie bekam es mit der Angst zu tun, aber neugierig war sie auch. Bevor sie schreiend und kreischend aus dem Zimmer laufen würde, musste sie sich davon überzeugen, was das Geräusch verursachte. Vielleicht doch nur eine etwas größere Maus? Nein, das „Knurren“ passt nicht zu einer Maus. Vielleicht eine hungrige Maus, deren Magen so „knurrt“? Doch, schon eher. Wahrscheinlich würde die Maus, wenn Sara den Schrank öffnete, wie vom Blitz getroffen durch ihre Beine aus ihrem Zimmer rennen. Sie fasste ihren ganzen Mut zusammen und zog die Schranktür mit einem Ruck auf. Leer. Na ja, fast leer, die Winterklamotten waren zwar alle draußen, aber in der Ecke rechts hinten saß ein ca. 30cm großes, rundes Wollknäuel mit kleinen Füßchen, winzigen Händchen, zu Fäusten geballt, und großen runden Glupschaugen. „Hallo“ sagte das Wollbündel und zeigte einen winzigen Mund mit kleiner, roter Zunge.
„Oh, je.“ Sara schreckte zurück und hätte sich beinahe wieder den Kopf, diesmal an der Schranktür, gestoßen. Sie ließ sich in den Bürostuhl am Schreibtisch fallen und starrte ungläubig auf das kleine, runde Wesen. Der Wollball stellte sich auf die kleinen Füßchen und ging zum Rand des Schrankbodens, schaute sich im Zimmer um und lächelte Sara an. „Hallo. Kannst du nicht sprechen?“
„Äh,“ sie war wirklich verwirrt, „doch, natürlich kann ich sprechen.“
„Na dann.“ Das Knäuel ging im Schrank zur anderen Ecke und ließ sich wieder nieder. „Wir müssen was klären. Du fragst dich bestimmt, was oder wer ich bin.“
Sara nickte heftig. „Das kannst du laut sagen. Ich weiß, du bist keine Einbildung und das hier ist kein Traum. Du bist so was ähnliches wie ein Fabelwesen, oder?“
„Nein.“ Das Knäuel schmunzelte.
Sara atmete tief durch. „Ok, was dann?“
„Ich bin ein Groll.“
„Was?“
„Ein Groll. Du kannst wohl auch nicht richtig hören, oder?“
„Was soll das sein? Ein Groll.“ Sie nahm ihre Brille ab, putzte die Gläser am T-Shirt unter ihrem Pulli und setzte sie wieder auf. Nein, kein Trick, es ist immer noch da. Ein kleines rundes, irgendwie niedliches Wollpaket, das spricht.
„Ein Groll ist so normal wie ein Hund oder eine Katze, nur das wir uns üblicherweise nicht zeigen.“
„Ah ja.“ Sie musste erst mal ihre Gedanken ordnen. „Aber was machst du dann in meinem Schrank.“
Der Groll kam wieder nach vorne und setzte sich auf die Kante des Schrankbodens. „Also, zur Erklärung: Wir Grolle entstehen, wenn sich jemand ärgert. Normalerweise tauchen wir hinter Mauern, Wänden oder sonst irgendwo versteckt auf und verschwinden dann wieder. Aber manchmal haben wir keinen Platz, uns zu verstecken. So wie hier.“ Er schaute sich wieder interessiert um. „Und noch viel seltener findet uns jemand.“
„Dann bist du so was ähnliches wie ein Kobold?“
„Ach, Blödsinn. Kobolde und Zwerge und was auch immer gehört alles in Büchern und Geschichten. Die sind nur die Erfindung irgendwelcher Märchenerzähler. Wir Grolle hingegen sind echt.“
„Oh,“ dachte Sara. Sie musste das erst mal verdauen. Hier vor ihr saß ein Groll. Grolle tauchen auf, wenn sich jemand ärgert. Normalerweise bleiben sie unbemerkt. Sie hingegen hat einen entdeckt.
„Ok, zwei Fragen.“
Der Groll sah mit großen, runden
Augen auf die zwei Finger, die Sara ihm entgegenstreckte. „Ja?“
„Erstens: Da ich dich entdeckt habe, erfüllst du dann irgendwelche Wünsche?“
„Nein.“
Das dachte sie sich schon. Wäre auch zu schön gewesen.
„Ok, zweite Frage. Wie verschwindest du wieder?“
Der Groll setzte plötzlich einen finsteren Blick auf und entblößte kleine, runde Zähnchen. „Das werde ich dir nicht verraten“ sagte er mit einem kleinen Zischen.
Da klingelte es. Fabio. Sie hüpfte auf, knallte die Schranktür zu und lief zum Türöffner. Der kleine Italiener kam nach oben und war am Schimpfen und am Fluchen. Noch, bevor sie fragen konnte, was ihn denn so verärgert hätte, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Grolle entstehen, wenn sich jemand ärgert!
„Oh je.“ Sie ließ ihn stehen, rannte zurück in ihr Zimmer, öffnete die Schranktür und staunte nicht schlecht. Ein zweiter Groll saß in der anderen Ecke. Er war dem Ersten zum Verwechseln ähnlich, bis auf die Tatsache, das der Neue auf Italienisch seltsame Wörter, die Sara nicht verstand, von sich gab. Der Kopfweh-Groll sah sie fragend an und deutete auf den Neuen. „Kannst du italienisch? Ich nicht“ sagte er. Sie warf die Schranktür wieder zu. Du meine Güte, dachte sie sich, was mache ich nur? Die müssen wieder weg, aber wie?
Fabio war gerade dabei, sich die Schuhe auszuziehen, als Papa Christian nach dem Rechten sehen wollte. Dabei übersah er Fabio, stolperte über ihn und stieß sich den großen Zeh an der Kommode im Flur.
„MENSCH, AU. VERFLUCHT.“ Den Rest hörte Sara gar nicht mehr, es war nicht zum Aushalten. Ganz deutlich sah sie durch einen Spalt in der Schranktür einen dritten Groll. Der Kopfweh-Groll sagte zum Zeh-Groll: „Gott sei Dank, endlich jemand, der meine Sprache spricht.“ Der Zeh-Groll antwortete mit einem Fußtritt. Der Kopfweh-Groll bedankte sich mit einer Kopfnuss. Das rief den Italiener-Groll auf den Plan. Der hüpfte den beiden mit seinem Hintern ins Gesicht.
Sara sagte zu Fabio: „Lass mich raten, du bist auf den Hintern gefallen.“
„Ja, woher weißt du das?“ Er war ganz erstaunt.
„Ach, einfach so.“ Sie zog ihn an den Armen in ihr Zimmer und warf die Kinderzimmertür zu. Papa Christian steckte den Kopf rein, runzelte die Stirn, fragte, ob alles in Ordnung sei. „Ja, klar.“ Hinter der Tür sah Fabio jetzt auch die drei Grolle. Er riss erstaunt die Augen auf, deutete mit den Fingern auf die Grolle und wollte schon losschreien, als Sara ihm mit der Hand hinter ihrem Rücken deutete, bloß ja ruhig zu sein.
Papa Christian verschwand wieder, Fabio stand immer noch mit offenem Mund wie zur Salzsäule erstarrt da und Sara kniete sich vor dem Schrank nieder.
„Ok, was soll das“ fragte sie den Kopfweh-Groll. Der zeigte mit unschuldigen Augen auf den Zeh-Groll. „Frag ihn. Ich habe nix getan.“
„Ihr könnt hier nicht in meinem Schrank wohnen und euch gegenseitig verprügeln.“ Der Italiener-Groll wollte gerade wieder zu einem Sprung ansetzen, als plötzlich ein vierter Groll aus dem Nichts in das Geschehen platzte. Sofort fing der Neue an, mit den Armen zu rudern und mit Worten zu schimpfen, die sie noch nie gehört hatte. Gleich darauf kam ein fünfter und ein sechster hinzu. Auch sie schimpften. „Wieso“ frage sich Sara selber, ließ Fabio, der immer noch mit offenem Mund starrte, stehen, schlich sich ins Wohnzimmer und sah, wie sich Christian und Kathrin stritten. Sie waren zwar nicht sehr laut, aber man konnte deutlich an ihren Gesichtern erkennen, dass sie eine ernste Meinungsverschiedenheit hatten. Oh, nein. Sie lief zurück. Fabio war mittlerweile auf das Bett geflüchtet und was sie sah, machte ihr nun wirklich Angst. Ein Groll nach dem Anderen tauchte aus dem Nichts auf. Aber nicht nur, dass jetzt schon unzählige Grolle in dem Schrank versammelt waren und stritten und rauften. Auch außerhalb des Schranks fanden vereinzelte Auseinandersetzungen zwischen Grollen statt. Fabio war kurz vorm Losschreien. Sie musste etwas unternehmen.
„Los, hilf mir.“ Sie fing an, einen Groll nach dem anderen wieder in den Schrank zu stopfen, der jetzt schon ziemlich überfüllt war. Fabio schüttelte heftig den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst. Ich fasse keinen von denen an. Was, wenn sie beißen?“
„Tun sie nicht. Schau.“ Sie hielt ihm einen ganzen Arm voll Grolle hin. „Irgendwie süß, aber ich kann die nicht behalten. Wenn ich nur daran denke, was das kostet, die zu füttern?“
Fabio beruhigte sich. „Aber wie wirst du sie los?“
„Keine Ahnung. Sie wollen es mir nicht verraten. Aber wichtiger ist jetzt, das sie nicht noch mehr werden. Du musst mir versprechen, dich jetzt mal nicht über irgend etwas zu ärgern.“
Der Italiener nickte. „Ok. Aber es werden trotzdem mehr.“
„Ja, Papa und Kathrin streiten sich. Das muss sofort aufhören.“
„Genau. Hast du schon mal versucht, Erwachsene vom Streiten abzuhalten?“
Sara dachte nach, während sie die letzten Grolle in den Schrank steckte und versuchte, die Tür zuzuhalten. „Du hast Recht. Aber ich muss es trotzdem versuchen.“
„Und wie?“
Sie grinste und ihrem Gesicht konnte man ihre Idee direkt ablesen. „Ein Doppelplan. Pass auf, du musst die Tür zuhalten.“
Fabio ging zögerlich zu dem Schrank. Aus dem Inneren hörten sie ein großes Geplapper und Raufereien. Es schepperte und „bumperte“ gegen die Holzwände. Lange würde es nicht mehr dauern, bis der Schrank platzte. Er stemmte sich gegen die Tür und sagte „Ok, ich halte ihn zu, solange es geht. Du musst dich aber beeilen.“ „Alles klar.“ Sara lief ins Bad, öffnete den Wasserhahn und bespritzte sich unter den Augen mit ein paar Tropfen. Dann ging sie ins Wohnzimmer, dachte an was ganz Trauriges und fing zu schluchzen an. Papa saß am Esstisch, während Kathrin verärgert auf und ab ging. Sie waren gerade dabei, sich über irgendetwas (bestimmt nicht so Schlimmes, wie meistens bei den Erwachsenen, dachte sich Sara) anzufauchen. Sofort hielten beide inne, als sie das weinende Kind da stehen sahen.
„Sara, Schätzchen, was hast du denn?“ Papa wollte schon aufstehen, aber Kathrin war schneller, nahm sie in den Arm und kniete sich zu ihr hinunter. „He, Kleine.“ Sara rieb sich mit der Faust die Augen (damit sie schön rot wurden) und sagte „warum müsst ihr streiten? Habt ihr euch denn nicht lieb?“ Sie schluchzte heftig und hatte ihr erstes Ziel erreicht. Die Beiden stritten nicht mehr. Sie schaute flehend zu ihrem Papa, damit er auch her kam. Er stand auf, ging zu ihnen hinüber und umarmte beide. „Du hast Recht. Ich war ein Doofkopf.“ Er schaute Kathrin in die Augen. „Ich weiß, das ich auch manchmal ziemlich stur sein kann. Ich glaube, da nehmen wir uns beide nichts. Aber schau sie an,“ er deutete auf Sara, „sie hat Recht. Wir sollten nicht um jede Kleinigkeit streiten.“
Jetzt war es Zeit für Stufe Zwei ihres Planes. Sie wischte sich die Tränen weg, gab beiden einen Kuss auf die Backen, und kicherte.
„Alles klar, Kleine?“ Kathrin schaute verwundert.
„Warum kicherst du“ fragte Papa.
Sie wusste, wie sie die beiden um den Finger wickeln konnte. „Doofkopf“ wiederholte sie und lachte lauter, deutete mit dem Finger auf Papa. „Du hast Doofkopf gesagt.“ Jetzt musste sie so richtig loslachen und auch Christian und Kathrin konnten sich nicht mehr halten. Sara fing an, beide zu kitzeln und stellte zufrieden fest, das wieder alles in Ordnung war. Plötzlich zog sie die Augenbrauen hoch. Fabio! Die Grolle! „Ich komm gleich wieder.“
Sie lief zurück ins Kinderzimmer, doch anstatt den Schrank zuzuhalten, saß Fabio auf dem Sofa und las eine Zeitschrift. Erstaunt blieb sie wie angewurzelt stehen. „Hey, was ist mit den Grollen?“
„Nichts. Sie sind fast alle weg. Einer nach dem Anderen ist geplatzt wie eine Seifenblase. Nichts mehr da bis auf zwei.“
Sie öffnete die Tür. Da saßen nur noch der Kopfweh- und der Italiener-Groll. „Oh, jetzt weiß ich, wie ihr wieder verschwindet.“
Der Kopfweh-Groll sah sie nicht weiter verwundert an. „Ja,“ grinste er, „aber wir kommen wieder. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber es ist nicht immer Freude und Lachen auf dieser Welt.“ Grinsend schlug er mit dem Kopf gegen den Italiener-Groll.
Sara warf die Tür zu, sah zu Fabio, der fragte „was ist?“
„Fabio. Lieber Fabio.“ Sie ging langsam auf ihn zu, die Hände vor sich, bereit zum Kitzeln. „Heute schon gelacht?“
Fabio schreckte zurück. „Nein. Tu das nicht. Du weißt, das ich total kitzelig bin.“
„Und das ist gut so.“ Sie stürzte sich auf ihn.
Keine zehn Sekunden später, Fabio krümmte sich vor Lachen, hörte sie zufrieden zwei „Plopps“ aus ihrem Schrank.
Gott sei Dank, dachte sich Sara, die Grolle sind weg.
Mitten in dem kleinen Dorf Frasdorf erlebte die zehnjährige Sara eine sehr seltsame Geschichte. Dabei ging es nicht um Feen, Hexen oder Zauberer. Nein, die sind ja auch nur Fantasiegestalten. Was Sara erlebte, passt zwar auch in Märchen, oder noch besser in Gruselgeschichten, nur mit dem Unterschied, das es die Wahrheit war und jedem geschehen konnte.
Es war an einem Wochenende im März, der Schnee lag wie Beton im Tal vor den Bergen, in dessen Mitte das kleine Dorf stand. Sara besuchte wie fast jedes Wochenende ihren Papa Christian und seine Freundin Kathrin. Sie holten sie immer am Samstag ab, sie blieb eine Nacht (Sara hatte ihr eigenes Zimmer, was cool war, da sie damit zwei Kinderzimmer mit Spielsachen voll stopfen konnte) und am Sonntag ging es nachmittags wieder nach Hause zu ihrer Mama. Für Sara waren die Besuche so etwas wie kleine Erholungsferien. Sie genoss es, einmal die Woche so richtig ausschlafen zu können. Meistens blieb sie am Sonntag bis mittags im Bett. Das war ok so, sagte ihr Papa. Sie soll sich ruhig ausruhen. Er meinte, die Kinder heutzutage hätten schon genug Stress. Sie wusste zwar nicht genau, was Stress war (wahrscheinlich dieses kribbelige Gefühl, alles auf einmal tun zu müssen und doch nichts zu schaffen), aber sie liebte die Ruhe in dem Dorf.
An diesem Wochenende war nichts besonderes angesagt. Fabio, ihr Kumpel (ein kleiner Italiener in ihrem Alter) aus dem Dorf, wollte noch vorbei schauen. Ach, er war immer so faul. Es würde wohl darauf hinaus laufen, das sie ihn besucht, da er wahrscheinlich nachmittags um fünf noch im Schlafanzug rumläuft und seine Mutter ihn natürlich nicht so auf die Straße lässt. „Er würde wahrscheinlich sogar im Schlafanzug durchs Dorf laufen“ schmunzelte sie, als sie in Frasdorf ankamen. „Was“ fragte Papa, als er die Haustür aufsperrte, „was hast du gesagt?“ „Ach, nix.“ Sara lief hoch in die Wohnung im zweiten Stock und brachte ihren Rucksack mit den Sachen fürs Wochenende in ihr Zimmer.
Das Zimmer war länglich und hatte zwei Fenster. Eines in der Dachschräge und direkt darunter noch ein kleines. Von der Tür aus gesehen stand ihr Bett rechts der Fenster, links davon ein Sofa und im vorderen Teil ein großer, dunkler Holzschrank. Zwischen den Möbeln, zwei Regalen und einem Schreibtisch war ihr ganzes Spielzeug verstreut. Papa sagte zwar immer, sie solle aufräumen, wenn denn Zeit dafür sei, aber hey, sie war ein Kind und Kinder kannten noch nicht diese seltsamen Wörter wie „Aufräumen“, „Brav sein“, „Beeilung“ oder ähnliches. So landete der Rucksack irgendwo zwischen Papier zum Basteln, einem Riesenteddy mit ausgestreckter Zunge und einem Barbie-Schminkkopf.
Sara kramte ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer Fabios. Nach dem dritten Klingeln ging er ran. „Hallo?“ „Hallo, Fabio, ich bin es, Sara.“ „Oh, hey, schon da?“ „Ja, kommst du vorbei?“ „Klar, aber ich muss mich erst noch anziehen. Bin so in 10 Minuten da.“ „Ok.“ „Tschau.“ „Tschüss.“
Sie musste schmunzeln. Es war 16 Uhr und Fabio hatte es nicht geschafft, sich umzuziehen. Er war wirklich der König aller faulen Kinder. Nun gut, 10 Minuten, was mache ich jetzt? Sie überlegte, wieso sie sich eigentlich den Schminkkopf zu Weihnachten hatte schenken lassen, obwohl sie nie damit spielte (auch ihr Daddy dachte darüber nach, warum er die 50 Euro nicht gleich zum Fenster hinaus geworfen hatte), bückte sich nach ihren Hausschuhen (große, filzige, lila Kuschelpuschen) und rammte sich den Kopf beim Aufstehen an einer Kante des Regals vor dem Sofa.
„Auuuuuu.“ Sie hielt sich sofort die Hand an den Kopf, Tränen schossen ihr in die Augen und ein unangenehmes, warmes Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit. So fühlt sich Wut an. Wut über die eigene Dummheit. Wieder mal nicht aufgepasst. „Verflucht, ahhhh.“ Sie taumelte zurück zum Bett, hockte sich hin und in ihren Gedanken schimpfte sie die schlimmsten Schimpfwörter, die sie kannte (da der Erzähler nicht in den Kopf des Mädchens schauen konnte, wusste er auch nicht so genau, welche Schimpfwörter das waren, aber bestimmt ein paar ganz Schlimme).
Sie fluchte und rieb sich den Kopf. Das gibt bestimmt eine Beule, aber der Schmerz lies schon etwas nach. Noch als sie überlegte, Papa oder Kathrin nach einem Beutel mit Eis zu fragen (und vielleicht bei der Gelegenheit gleich nach richtigem Eis, mmh, lecker), war da plötzlich ein Geräusch, ein hohles Klopfen. Sie stutzte und verhielt sich ganz ruhig. Das Geräusch kam nicht von ihr und war schon wieder weg. Seltsam, dachte sie, hör ich jetzt schon Gespenster. Das kommt bestimmt von der Beule. Da, schon wieder. Als ob irgendetwas mit winzigen Fäustchen klopft und mit kleinen Füßchen scharrt. Sara wurde mulmig. Sie lief ins Wohnzimmer, um festzustellen, woher dieses Geräusch kam, aber Papa saß auf der Wohnzimmercouch und las die Zeitung, Kathrin war auf dem Balkon und rauchte. Das Klopfen und Scharren konnte nicht von ihnen stammen. Sie blieb verdutzt in der Wohnzimmertür stehen und schaute sich fragend um.
„Alles klar, mein Schatz?“ Papa schaute von der Zeitung auf und warf ihr einen fragenden Blick zu.
„Ja, alles ok.“ Sie konnte ihm doch nichts von Geräuschen erzählen, die sie offensichtlich nur in ihrer Fantasie hörte. „Alles in Ordnung“ bekräftigte sie ihre Gedanken.
„Und warum hältst du dir dann den Kopf?“
„Oh, hab ihn mir gestoßen, ist aber nicht so schlimm.“
„Warte, ich schau mal.“ Er stand auf und untersuchte ihre Beule. „Oh je, hat dich ein Flugzeug gerammt?“
„Ja, aber ich war stärker.“ Sie wollte lachen, machte sich aber Gedanken über die komischen Geräusche.
„Na, das arme Flugzeug.“ Er gab ihr einen Kuss auf den Kopf und meinte, es sei nicht so schlimm.
„Papa, habt ihr gerade Krach gemacht?“
„Nein.“
„Mmh, ich dachte, ich hätte was gehört.“ Mit einem Schulterzucken lief sie zurück in ihr Zimmer. Sie hockte sich auf das Sofa, hielt den Atem an und lauschte. Nichts. War wohl wirklich nur Einbildung. Gerade, als sie sich sicher war, die Geräusche würden wohl nur aus ihrem Kopf kommen (vielleicht war eine Schraube locker), klopfte und scharrte es wieder. Diesmal ganz deutlich und zwar aus dem großen, dunklen und alten Bauernschrank in ihrem Zimmer. Normalerweise wurde der Schrank nur zweimal im Jahr geöffnet. Zum Einen, um die Winterklamotten darin zu verstauen oder eben, um sie daraus zu holen, wenn der Schnee vor der Tür stand. Sie horchte. Wieder nichts. Sara schüttelte den Kopf, stand auf und schlich langsam auf Zehenspitzen durch das Zimmer. Da. Wieder ein Klopfen und ein „Knurren“. Leise, kaum wahrnehmbar, aber doch ein „Knurren“. Sie bekam es mit der Angst zu tun, aber neugierig war sie auch. Bevor sie schreiend und kreischend aus dem Zimmer laufen würde, musste sie sich davon überzeugen, was das Geräusch verursachte. Vielleicht doch nur eine etwas größere Maus? Nein, das „Knurren“ passt nicht zu einer Maus. Vielleicht eine hungrige Maus, deren Magen so „knurrt“? Doch, schon eher. Wahrscheinlich würde die Maus, wenn Sara den Schrank öffnete, wie vom Blitz getroffen durch ihre Beine aus ihrem Zimmer rennen. Sie fasste ihren ganzen Mut zusammen und zog die Schranktür mit einem Ruck auf. Leer. Na ja, fast leer, die Winterklamotten waren zwar alle draußen, aber in der Ecke rechts hinten saß ein ca. 30cm großes, rundes Wollknäuel mit kleinen Füßchen, winzigen Händchen, zu Fäusten geballt, und großen runden Glupschaugen. „Hallo“ sagte das Wollbündel und zeigte einen winzigen Mund mit kleiner, roter Zunge.
„Oh, je.“ Sara schreckte zurück und hätte sich beinahe wieder den Kopf, diesmal an der Schranktür, gestoßen. Sie ließ sich in den Bürostuhl am Schreibtisch fallen und starrte ungläubig auf das kleine, runde Wesen. Der Wollball stellte sich auf die kleinen Füßchen und ging zum Rand des Schrankbodens, schaute sich im Zimmer um und lächelte Sara an. „Hallo. Kannst du nicht sprechen?“
„Äh,“ sie war wirklich verwirrt, „doch, natürlich kann ich sprechen.“
„Na dann.“ Das Knäuel ging im Schrank zur anderen Ecke und ließ sich wieder nieder. „Wir müssen was klären. Du fragst dich bestimmt, was oder wer ich bin.“
Sara nickte heftig. „Das kannst du laut sagen. Ich weiß, du bist keine Einbildung und das hier ist kein Traum. Du bist so was ähnliches wie ein Fabelwesen, oder?“
„Nein.“ Das Knäuel schmunzelte.
Sara atmete tief durch. „Ok, was dann?“
„Ich bin ein Groll.“
„Was?“
„Ein Groll. Du kannst wohl auch nicht richtig hören, oder?“
„Was soll das sein? Ein Groll.“ Sie nahm ihre Brille ab, putzte die Gläser am T-Shirt unter ihrem Pulli und setzte sie wieder auf. Nein, kein Trick, es ist immer noch da. Ein kleines rundes, irgendwie niedliches Wollpaket, das spricht.
„Ein Groll ist so normal wie ein Hund oder eine Katze, nur das wir uns üblicherweise nicht zeigen.“
„Ah ja.“ Sie musste erst mal ihre Gedanken ordnen. „Aber was machst du dann in meinem Schrank.“
Der Groll kam wieder nach vorne und setzte sich auf die Kante des Schrankbodens. „Also, zur Erklärung: Wir Grolle entstehen, wenn sich jemand ärgert. Normalerweise tauchen wir hinter Mauern, Wänden oder sonst irgendwo versteckt auf und verschwinden dann wieder. Aber manchmal haben wir keinen Platz, uns zu verstecken. So wie hier.“ Er schaute sich wieder interessiert um. „Und noch viel seltener findet uns jemand.“
„Dann bist du so was ähnliches wie ein Kobold?“
„Ach, Blödsinn. Kobolde und Zwerge und was auch immer gehört alles in Büchern und Geschichten. Die sind nur die Erfindung irgendwelcher Märchenerzähler. Wir Grolle hingegen sind echt.“
„Oh,“ dachte Sara. Sie musste das erst mal verdauen. Hier vor ihr saß ein Groll. Grolle tauchen auf, wenn sich jemand ärgert. Normalerweise bleiben sie unbemerkt. Sie hingegen hat einen entdeckt.
„Ok, zwei Fragen.“
Der Groll sah mit großen, runden
Augen auf die zwei Finger, die Sara ihm entgegenstreckte. „Ja?“
„Erstens: Da ich dich entdeckt habe, erfüllst du dann irgendwelche Wünsche?“
„Nein.“
Das dachte sie sich schon. Wäre auch zu schön gewesen.
„Ok, zweite Frage. Wie verschwindest du wieder?“
Der Groll setzte plötzlich einen finsteren Blick auf und entblößte kleine, runde Zähnchen. „Das werde ich dir nicht verraten“ sagte er mit einem kleinen Zischen.
Da klingelte es. Fabio. Sie hüpfte auf, knallte die Schranktür zu und lief zum Türöffner. Der kleine Italiener kam nach oben und war am Schimpfen und am Fluchen. Noch, bevor sie fragen konnte, was ihn denn so verärgert hätte, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Grolle entstehen, wenn sich jemand ärgert!
„Oh je.“ Sie ließ ihn stehen, rannte zurück in ihr Zimmer, öffnete die Schranktür und staunte nicht schlecht. Ein zweiter Groll saß in der anderen Ecke. Er war dem Ersten zum Verwechseln ähnlich, bis auf die Tatsache, das der Neue auf Italienisch seltsame Wörter, die Sara nicht verstand, von sich gab. Der Kopfweh-Groll sah sie fragend an und deutete auf den Neuen. „Kannst du italienisch? Ich nicht“ sagte er. Sie warf die Schranktür wieder zu. Du meine Güte, dachte sie sich, was mache ich nur? Die müssen wieder weg, aber wie?
Fabio war gerade dabei, sich die Schuhe auszuziehen, als Papa Christian nach dem Rechten sehen wollte. Dabei übersah er Fabio, stolperte über ihn und stieß sich den großen Zeh an der Kommode im Flur.
„MENSCH, AU. VERFLUCHT.“ Den Rest hörte Sara gar nicht mehr, es war nicht zum Aushalten. Ganz deutlich sah sie durch einen Spalt in der Schranktür einen dritten Groll. Der Kopfweh-Groll sagte zum Zeh-Groll: „Gott sei Dank, endlich jemand, der meine Sprache spricht.“ Der Zeh-Groll antwortete mit einem Fußtritt. Der Kopfweh-Groll bedankte sich mit einer Kopfnuss. Das rief den Italiener-Groll auf den Plan. Der hüpfte den beiden mit seinem Hintern ins Gesicht.
Sara sagte zu Fabio: „Lass mich raten, du bist auf den Hintern gefallen.“
„Ja, woher weißt du das?“ Er war ganz erstaunt.
„Ach, einfach so.“ Sie zog ihn an den Armen in ihr Zimmer und warf die Kinderzimmertür zu. Papa Christian steckte den Kopf rein, runzelte die Stirn, fragte, ob alles in Ordnung sei. „Ja, klar.“ Hinter der Tür sah Fabio jetzt auch die drei Grolle. Er riss erstaunt die Augen auf, deutete mit den Fingern auf die Grolle und wollte schon losschreien, als Sara ihm mit der Hand hinter ihrem Rücken deutete, bloß ja ruhig zu sein.
Papa Christian verschwand wieder, Fabio stand immer noch mit offenem Mund wie zur Salzsäule erstarrt da und Sara kniete sich vor dem Schrank nieder.
„Ok, was soll das“ fragte sie den Kopfweh-Groll. Der zeigte mit unschuldigen Augen auf den Zeh-Groll. „Frag ihn. Ich habe nix getan.“
„Ihr könnt hier nicht in meinem Schrank wohnen und euch gegenseitig verprügeln.“ Der Italiener-Groll wollte gerade wieder zu einem Sprung ansetzen, als plötzlich ein vierter Groll aus dem Nichts in das Geschehen platzte. Sofort fing der Neue an, mit den Armen zu rudern und mit Worten zu schimpfen, die sie noch nie gehört hatte. Gleich darauf kam ein fünfter und ein sechster hinzu. Auch sie schimpften. „Wieso“ frage sich Sara selber, ließ Fabio, der immer noch mit offenem Mund starrte, stehen, schlich sich ins Wohnzimmer und sah, wie sich Christian und Kathrin stritten. Sie waren zwar nicht sehr laut, aber man konnte deutlich an ihren Gesichtern erkennen, dass sie eine ernste Meinungsverschiedenheit hatten. Oh, nein. Sie lief zurück. Fabio war mittlerweile auf das Bett geflüchtet und was sie sah, machte ihr nun wirklich Angst. Ein Groll nach dem Anderen tauchte aus dem Nichts auf. Aber nicht nur, dass jetzt schon unzählige Grolle in dem Schrank versammelt waren und stritten und rauften. Auch außerhalb des Schranks fanden vereinzelte Auseinandersetzungen zwischen Grollen statt. Fabio war kurz vorm Losschreien. Sie musste etwas unternehmen.
„Los, hilf mir.“ Sie fing an, einen Groll nach dem anderen wieder in den Schrank zu stopfen, der jetzt schon ziemlich überfüllt war. Fabio schüttelte heftig den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst. Ich fasse keinen von denen an. Was, wenn sie beißen?“
„Tun sie nicht. Schau.“ Sie hielt ihm einen ganzen Arm voll Grolle hin. „Irgendwie süß, aber ich kann die nicht behalten. Wenn ich nur daran denke, was das kostet, die zu füttern?“
Fabio beruhigte sich. „Aber wie wirst du sie los?“
„Keine Ahnung. Sie wollen es mir nicht verraten. Aber wichtiger ist jetzt, das sie nicht noch mehr werden. Du musst mir versprechen, dich jetzt mal nicht über irgend etwas zu ärgern.“
Der Italiener nickte. „Ok. Aber es werden trotzdem mehr.“
„Ja, Papa und Kathrin streiten sich. Das muss sofort aufhören.“
„Genau. Hast du schon mal versucht, Erwachsene vom Streiten abzuhalten?“
Sara dachte nach, während sie die letzten Grolle in den Schrank steckte und versuchte, die Tür zuzuhalten. „Du hast Recht. Aber ich muss es trotzdem versuchen.“
„Und wie?“
Sie grinste und ihrem Gesicht konnte man ihre Idee direkt ablesen. „Ein Doppelplan. Pass auf, du musst die Tür zuhalten.“
Fabio ging zögerlich zu dem Schrank. Aus dem Inneren hörten sie ein großes Geplapper und Raufereien. Es schepperte und „bumperte“ gegen die Holzwände. Lange würde es nicht mehr dauern, bis der Schrank platzte. Er stemmte sich gegen die Tür und sagte „Ok, ich halte ihn zu, solange es geht. Du musst dich aber beeilen.“ „Alles klar.“ Sara lief ins Bad, öffnete den Wasserhahn und bespritzte sich unter den Augen mit ein paar Tropfen. Dann ging sie ins Wohnzimmer, dachte an was ganz Trauriges und fing zu schluchzen an. Papa saß am Esstisch, während Kathrin verärgert auf und ab ging. Sie waren gerade dabei, sich über irgendetwas (bestimmt nicht so Schlimmes, wie meistens bei den Erwachsenen, dachte sich Sara) anzufauchen. Sofort hielten beide inne, als sie das weinende Kind da stehen sahen.
„Sara, Schätzchen, was hast du denn?“ Papa wollte schon aufstehen, aber Kathrin war schneller, nahm sie in den Arm und kniete sich zu ihr hinunter. „He, Kleine.“ Sara rieb sich mit der Faust die Augen (damit sie schön rot wurden) und sagte „warum müsst ihr streiten? Habt ihr euch denn nicht lieb?“ Sie schluchzte heftig und hatte ihr erstes Ziel erreicht. Die Beiden stritten nicht mehr. Sie schaute flehend zu ihrem Papa, damit er auch her kam. Er stand auf, ging zu ihnen hinüber und umarmte beide. „Du hast Recht. Ich war ein Doofkopf.“ Er schaute Kathrin in die Augen. „Ich weiß, das ich auch manchmal ziemlich stur sein kann. Ich glaube, da nehmen wir uns beide nichts. Aber schau sie an,“ er deutete auf Sara, „sie hat Recht. Wir sollten nicht um jede Kleinigkeit streiten.“
Jetzt war es Zeit für Stufe Zwei ihres Planes. Sie wischte sich die Tränen weg, gab beiden einen Kuss auf die Backen, und kicherte.
„Alles klar, Kleine?“ Kathrin schaute verwundert.
„Warum kicherst du“ fragte Papa.
Sie wusste, wie sie die beiden um den Finger wickeln konnte. „Doofkopf“ wiederholte sie und lachte lauter, deutete mit dem Finger auf Papa. „Du hast Doofkopf gesagt.“ Jetzt musste sie so richtig loslachen und auch Christian und Kathrin konnten sich nicht mehr halten. Sara fing an, beide zu kitzeln und stellte zufrieden fest, das wieder alles in Ordnung war. Plötzlich zog sie die Augenbrauen hoch. Fabio! Die Grolle! „Ich komm gleich wieder.“
Sie lief zurück ins Kinderzimmer, doch anstatt den Schrank zuzuhalten, saß Fabio auf dem Sofa und las eine Zeitschrift. Erstaunt blieb sie wie angewurzelt stehen. „Hey, was ist mit den Grollen?“
„Nichts. Sie sind fast alle weg. Einer nach dem Anderen ist geplatzt wie eine Seifenblase. Nichts mehr da bis auf zwei.“
Sie öffnete die Tür. Da saßen nur noch der Kopfweh- und der Italiener-Groll. „Oh, jetzt weiß ich, wie ihr wieder verschwindet.“
Der Kopfweh-Groll sah sie nicht weiter verwundert an. „Ja,“ grinste er, „aber wir kommen wieder. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber es ist nicht immer Freude und Lachen auf dieser Welt.“ Grinsend schlug er mit dem Kopf gegen den Italiener-Groll.
Sara warf die Tür zu, sah zu Fabio, der fragte „was ist?“
„Fabio. Lieber Fabio.“ Sie ging langsam auf ihn zu, die Hände vor sich, bereit zum Kitzeln. „Heute schon gelacht?“
Fabio schreckte zurück. „Nein. Tu das nicht. Du weißt, das ich total kitzelig bin.“
„Und das ist gut so.“ Sie stürzte sich auf ihn.
Keine zehn Sekunden später, Fabio krümmte sich vor Lachen, hörte sie zufrieden zwei „Plopps“ aus ihrem Schrank.
Gott sei Dank, dachte sich Sara, die Grolle sind weg.