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Die Blinden der Rue Moreau
Autor: Peter Ettl · Rubrik:
Kurzgeschichten



Serge hatte den Mann vorher nie gesehen. Er versuchte, dessen Faust auszuweichen. Oder war das gar keine Faust vor seinen Augen? Einfach in das Gesicht schlagen und dann einen Sprung über die Theke riskieren, dachte er. Aber das Gewühl war viel zu dicht. Er fühlte, wie ihm aus der Nase das Blut in den offenen Mund rann. „Pardon“, sagte er und schob sich an ihm vorbei. Der Mann zuckte mit den Schultern. Serge schrammte die Sitzreihen entlang, streifte einen Hund, drängte sich an Mädchenbeinen vorbei, an Hockern, vorbei an der Türe, ins Freie, immer noch unbehelligt.

Das war keine Nacht für einen Mond. Serge schlug den Weg zum Weinhändler ein. Das Viertel war dunkel. Der Tunesier hatte meist bis Mitternacht geöffnet. Er hockte in einer Nische seines Kramladens und grinste mit seinen letzten fünf Zähnen. „Zwei Rote wie gestern“ grüßte Serge. Er warf zehn Francs auf die Ladentheke und ließ die Flaschen rechts und links als verlängerte Arme über die Straße baumeln. Serge konnte nur einen schmalen Streifen Licht ausmachen, die Spülrinne der Kanalisation kam ihm in die Quere. Er stolperte, fing sich gerade noch, fluchte. Den Platz der ehemaligen Bastille mit dem geflügelten Menschen aus der Juli-Säule überquerte er in langen Sätzen. Die Weite des Platzes machte ihm Angst. Er entkam dem Geruch nach Austern und Langusten, ließ die Touristencafes hinter sich und bog in die rue Moreau ein.

Der Hundekot auf dem Gehweg stank bereits nach Verwesung. Er hörte das unregelmäßige Tacken auf dem Pflaster, dann rannte er gegen etwas Weiches, das er zu Boden riß. Der Mann schimpfte, als Serge ihm aufhelfen wollte. Saurer Geruch nach Wein stieg Serge in die Nase. Der Mann war nicht zu beruhigen. „Es tut mir leid, verdammt noch mal, es tut mir wirklich leid, aber ich hab Sie nicht gesehen!“. Er war wütend. Normalerweise roch man sie, die Blinden vom Augenhospital. Sie traten die Hundehaufen massenweise platt. Jeden Tag aufs neue. Er ließ den Fluchenden hinter sich und steuerte auf das sieben-stöckige Bürgerhaus zu, in dem er wohnte. Das Haus hatte ein Narbengesicht, Putz um Putz war in Lagen abgebröckelt, nur die langen Fenster mit den eisernen Mini-Balkonen schienen das Bauwerk zusammenzuhalten.

Die Haustüre stand weit offen. Die Hausmeisterin mit ihren Bellmaschinen hatte drei Frauen um sich versammelt. Serge wartete auf den Tag, da sie die Röcke hob und neben ihren Hunden auf der Straße „ihr Geschäft“ verrichtete. Acht Augen richteten sich auf Serges Flaschen. „Bonjour Mesdames - Bonsoir Monsieur“. Natürlich! Serge biß sich auf die Lippen. Es war bereits Nacht. Er hatte die Begrüßungszeremonie auswendig gelernt, aber mit den Zeiten kam er durcheinander. Nicht nur beim Sprechen.

Im Zimmer die Mischung aus Knoblauch, Hinterhof und klammen Kleidern. Er riß die Fensterflügel auf. Zweierlei konnte geschehen sein: Bei ‘Antoine’ wieder zuviel ins Glas geschaut und dann die Macho-Masche mit Mädchen anmachen, was er sich nüchtern nicht getraute. Vielleicht auch noch über jemanden gefallen in seinem Rausch, und der ihm eins auf die Nase.

Wie damals am Platz der Republik, schnurgerade auf das Denkmal zu und die acht Achtel Roten an den grauen Stein gepinkelt. Und der Polizist, der ihm statt eines Strafzettels eins über den Kopf gegeben hatte, aus purem Nationalgefühl. Aber heute war er relativ nüchtern.

Also: eingeschlafen auf seinem Sitzpolster in der Bar, umgenickt und die Nase an eine Kante. Oder: ein Irrer, der auf seinem Hocker durchdrehte und den wilden Metzger spielte. Alles gab kein Bild. Er wühlte sich durch den Kühlschrank, holte sich Hartkäse und Zwiebel und kauerte sich unters Fenster. Von oben, aus der Schwarzafrika-Kommune, drang Musik. Bis tief in den Morgen lauschte er mit heißen Augen und stillem Zucken von Fingern und Zehen den hundert Watt, den tausend, und den Diskussionen. An Ruhe war nicht zu denken.

Schlaf kam überraschend: in der Metro zwischen den Bänken, ein plötzliches Absacken in einer Bäckerei, vor einem frischen Stapel Baguettes. Ein unkontrollierter Schnarchlaut durch den Supermarkt. Schlaf, Schlaf war ein Begriff aus ferner Zeit. Die Dunkelheit flimmerte. Serge schleppte sich zum Bett. Geräusche ketteten sich aneinander. Das Rattern der Mülltonnen über das Hofpflaster, die schrillen Stimmen der Mieter an der Pforte der Concierge gleich gegenüber.

Die Autos zur Frühschicht, der Postbote, der dreimal klingelte. Die Schöpfung Frankensteins, ein Kugelbauch mit Affenkopf, was sein Nachbar Hund nannte, neurotisch, irr, von sechs bis acht Uhr durchkläffend. Der Magier auf der Gitarre, der seine drei Akkorde, schön falsch gezupft, von elf bis drei Uhr aus dem offenen Fenster in den Hof jaulte. Die Schreinerei, in der geschliffen wurde und gebohrt, gesägt und gehämmert. Die Bar im Nachbarhaus, die gegen zwei Uhr morgens späte Schreier in die Nüchternheit der Nacht entließ.

Serge hatte eine Katze gehabt. Das war lange her. Geschichten wie die von Serges Katze sind alle lange her. Serge war selbst eine Katze. Täglich sah er im Spiegel beim Rasieren einen Schnurrbart wachsen, weit über die Backenknochen hinaus. Leiser Flaum machte sich im ganzen Gesicht breit, der Ansatz von Pelzohren im Haar wuchs bedrohlich. Einmal hatte er dem Postboten ein „Miau!“ entgegengemaunzt. Seitdem gab dieser Serges Post nur noch bei der Concierge ab.

Serges Katze war durch die Tür auf den Hinterhof gerannt, als er bei den Mülltonnen war. Serge hatte das Geschrei der Gesellen und des Meisters gehört. Aber erst, als der Meister an seine Tür klopfte, ahnte er etwas. „Die Säge...“ meinte der Mann achselzuckend. „Meister des Todes“ erwiderte Serge. Seit diesem Tag zogen sich Serges Schnurrbarthaare zurück. Seine Haut wurde glatt und kalt, und wenn er leise in den Spiegel schnurrte, klang es rauh und dumpf. Oder war er gegen die Wand gestoßen in der Bar? Einfach vom Stuhl auf, über einen Teppich gefallen und gegen die nasse Wand. Die Nase hatte längst aufgehört zu bluten. Er hüllte sich in die große blaue Decke auf seinem Bett und lehnte sich an die Wand.

Serge hatte eine Isabelle gehabt. Das war lange her. Geschichten wie die von Serges Isabelle sind immer lange her. Manchmal waren sie hier im Bett versunken, eine Person, seine Isabelle und Serge. Er hatte an ihr alles geküßt, was zu küssen war, war in sie gedrungen wie in einen fremden Dschungel, der weit war und dunkel. Isabelle und Serge hatten hier lange gelebt. Isabelle hatte ein Auto gehabt. Eines von den schmalen französischen, die in den Kurven zu kippen schienen. Isabelle hatte einen Schwips gehabt, weil Serge sie vollgefüllt hatte mit Wein. Am großen Straßenstern, wo ein Bauwerk an Triumph und Siege erinnert, hatte Serge seine Isabelle verloren. Aber Serge hat sich eine neue Isabelle geholt. Sie hieß Wein und war dunkel und war schwer.

Vielleicht gab es noch eine letzte Möglichkeit. Serge hatte einen Traum gehabt, einen von den langen, intensiven, die in das Aufwachen hinein weiterlaufen wie ein einmal gestarteter Motor. Serge war vor den Auslagen der Möbelgeschäfte gestanden, als ihn von hinten aus den Schatten der rue Moreau Männer mit gelben Binden und großen Stöcken anfielen, ihn niederrissen und auf ihn einschlugen. Serge hatte sich nicht gerührt. Aber schließlich war er vor den Schmerzen in einen Metro-Schacht geflüchtet. Er hatte einen der Züge genommen und war einige Stationen gefahren.

Als Serge in die Nacht hinaufstieg, spannten sich Kolonnen von Autos über die Bahnen. Er hatte Mühe, eine von den Kreuzungen zu überqueren, rettete sich vor schier endlosen Autoreihen auf einen Gehsteig. Als er die breite Häuserfront erreicht hatte, war ihm klar, was geschehen war. Er stand vor seinem Haus. Hinter ihm hörte er das Klacken von Stöcken auf Kopfsteinpflaster.

Serge drehte sich um. Die Mäuse hatten Ausgang bis halb vier. Aus allen Löchern kamen sie gekrochen. Serge war keine Maus. Einmal war er eine Katze gewesen, aber das war lange her. Die Schnauze in die Nachluft gestreckt und die Augen voll grüner Hoffnung, die Häuser entlang, um Ecken geschmeichelt, seidige Katzen beschmust, wenn ihm danach war, gefaucht, wenn sich Köter genähert hatten. Serge hörte die Stöcke näherkommen. Er breitete seine Arme aus, suchte mit den Augen das Ende an der langen Hausfassade und nahm Anlauf. Serge hob seine Arme und pumpte. In seinen Händen der Plan der Metro, in seinen Taschen etwas Geld. Es klimperte helle Akkorde. Serge drehte sich nach allen Seiten. Keines der Fenster war beleuchtet. Die Luft roch nach stillem Gas. Das war Serges Nacht. Über dem siebten Stock leuchtete der Himmel schwarz gelackt.

Serge pumpte. Unter ihm wellte sich der Boden. Serge sprang. Serge hob ab. Die Dächer unter ihm zeigten ein mattes Grün in der Dunkelheit. Sein Herz war ein Kraftwerk. Mit jedem Schlag ein Stoß in die Höhe. Und Serge flog.
Serge hatte den Mann vorher nie gesehen. Er versuchte, dessen Faust auszuweichen. Oder war das gar keine Faust vor seinen Augen? ‘Einfach in das Gesicht schlagen und dann einen Sprung über die Theke riskieren’. dachte er. Aber das Gewühl war viel zu dicht. Er fühlte, wie ihm aus der Nase das Blut in den offenen Mund rann. „Pardon“ sagte er und schob sich vorbei. Der Mann zuckte mit den Schultern. Serge schrammte die Sitzreihen entlang, streifte einen Hund, drängte sich an Mädchenbeinen vorbei, an Hockern, vorbei an der Türe, ins Freie, immer noch unbehelligt.














Einstell-Datum: 2003-09-22

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 333 (1 Stimme)

 

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