Roy war ein kleiner schüchterner Junge mit blonden strubbeligen Haaren und einer seltsamen schwarzen Strähne darin, die jeden Morgen nach dem Aufstehen dermaßen zerzaust war, dass er immer länger als alle anderen Jungen im Badezimmer brauchte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, so oft er auch hindurchkämmte, er konnte diese Strähne nicht bändigen. Sie stand von seinen Haaren ab wie ein störrisches Eselsohr, das nicht hören will. Alle anderen Kinder – besonders Greg, der größte Junge im Waisenhaus St. Jones – lachten ihn aus deswegen. Und gerade heute war die Strähne noch widerspenstiger als sonst. So sehr er sich auch mühte, so oft er auch versuchte, sie flach an seinen Kopf anzuschmiegen, immer wieder stellte sie sich auf und trotzte jeder Anstrengung seines Kammes, so, als ob sie sich heute ganz besonders hervortun wollte, als ob es heute einen ganz besonderen Grund dafür gäbe.
Von außen pochte bereits Greg an die Tür. »He, Rapperpotz! Roy Rapperpotz! Wenn du nicht gleich rauskommst, dann kannst du für immer drinbleiben.« Um seine Worte zu betonen, stieß er noch einmal kräftig mit dem Fuß gegen die Tür. »Hast du mich verstanden, Rapperpotz?«
Roy packte hastig seine Sachen zusammen. Er hasste es, Rapperpotz genannt zu werden. Immer wieder hänselten ihn die Kinder wegen seines Namens. Rapperpotz – Roy Rapperpotz. Dies war wirklich ein sehr seltsamer Name. Roy Rapperpotz. Doch solange er denken konnte, hieß er schon so. Und ebenso lange lebte er schon in diesem Waisenhaus, weit außerhalb der Stadt, zusammen mit vielen anderen Kindern, die kein Zuhause mehr hatten. Er wusste weder wer seine Eltern waren, noch wo er hingehörte. Keiner hier konnte ihm dies sagen, und keiner wusste, wie er eigentlich hierher gekommen war, nicht einmal Direktor Finlox.
Roy öffnete die Tür und schaute vorsichtig hinaus. Von der Seite packte ihn Greg und zog ihn aus dem Bad.
»Rapperpotz, du siehst aus wie ein Struwwelpeter. Was hast du eigentlich die ganze Zeit da drin getrieben? Wegen dir werden wir noch alle zu spät zum Frühstück kommen!«
Grob schob er Roy zur Seite und ging lauthals brüllend ins Bad.
Im Frühstücksraum waren bereits alle Kinder in Reih und Glied versammelt. Der Direktor, Herr Finlox, ein finster dreinblickender knorriger Mann, schritt an den Kindern vorüber. An jedem hatte er etwas auszusetzen.
»Steck dein Hemd richtig rein, Peter. Kopf hoch, Martin. Michael, putz deine Schuhe.«
Kurz vor Roy stoppte er seinen langsamen und schleppenden Gang und schüttelte den Kopf.
»Rapperpotz, Rapperpotz. Du wirst es wohl nie lernen. Schau dich an. Weißt du, wie du aussiehst? Wie ein Kind von der Straße. Was soll nur aus dir werden?«
»Aber …«, versuchte Roy sich zu verteidigen.
»Kein Aber«, unterbrach ihn Finlox. »Jeden Morgen hast du die gleiche Ausrede. Du gehst sofort in den Keller zu Morella und lässt dir deine Haare schneiden. Ist das klar?«
Die Kinder im Saal verstummten. Jeder fürchtete sich vor Morella. Sie war eine seltsame alte Frau, die im Keller von St. Jones hauste und nur selten ins Haus, geschweige denn in den Garten kam. Einige behaupteten sogar, sie wäre eine Hexe und hätte schon etliche kleine Kinder verschlungen. Alle Waisenkinder, sogar Greg, hatten Angst vor ihr, und jeder im Saal war froh, nicht an Roys Stelle zu sein.
Finlox stand wartend vor Roy und musterte ihn scharf. Roy drehte sich um und verließ den Frühstückssaal. Was sollte er tun? Was sollte er sagen? So hungrig er auch war, er musste sich fügen. Und da er zwar klein und schüchtern, doch keinesfalls feige war, schritt er die kalten Stufen hinunter in den Keller zu Morella. Aber eigenartig – je tiefer er kam, desto weniger Angst hatte er. Obwohl er im Halbdunkel nicht viel sah, kam ihm die Umgebung sogar irgendwie vertraut vor. Nur ein- oder zweimal war er in diesem Keller gewesen und so richtig konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern, auch nicht an Morella, doch er spürte das eigenartige Gefühl, schon sehr oft hier gewesen zu sein. Er konnte es sich nicht erklären.
Roy kam in einen Raum, der durch ein Kaminfeuer hell erleuchtet war, so dass er an den Wänden Regale mit seltsam anmutenden Gläsern sehen konnte. In der Mitte stand ein großer Holztisch mit vier Stühlen, und als Roy zu dem Kamin blickte, sah er dort eine gebückte Frau mit grauem, wallendem Haar Holz hineinwerfen.
»Komm ruhig näher, Roy Rapperpotz«, sagte die Frau ohne sich umzublicken. »Ich habe schon auf dich gewartet. Du solltest eigentlich schon längst hier unten sein, schon seit Wochen. Was hat dich aufgehalten?«
Roy wusste nicht so recht, was er erwidern sollte.
»Direktor Finlox hat mich eben erst heruntergeschickt. Sie sollen mir die Haare schneiden«, sagte er schüchtern.
»Finlox, dieser Trottel«, erwiderte Morella empört. »Haare schneiden. Ist das sein einziges Problem? Haare schneiden? Der hat keine Ahnung von dem, was hier wirklich vor sich geht. Setz dich.«
Neugierig schaute sich Roy im Raum um. Als er sich langsam setzte und wieder zum Kamin blickte, war Morella plötzlich verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Er sah in jede Ecke, doch er konnte sie nicht mehr sehen. Er war jetzt ganz allein.
Da saß er nun und wartete und wusste nicht, was er tun sollte. Die Stunden vergingen, doch es geschah nichts. Morella war verschwunden und kam nicht wieder zurück. Da Direktor Finlox ihm eingeschärft hatte, sich nicht ohne einen neuen Haarschnitt aus dem Keller zu wagen, wartete Roy den ganzen Tag, bis es schon fast dunkel war. Zum Glück fand er in einem Regal ein paar Äpfel und einen Kanten Brot. Damit stillte er seinen Hunger, gegen seinen Durst half ein Krug Wasser, der auf dem Tisch stand.
Als in Roy allmählich die Sorge wuchs, dass Morella gar nicht mehr zurückkommen würde, erklang plötzlich eine leise, schnurrende Stimme.
»Königliche Hoheit! Ein Glück, dass ich Euch gefunden habe.«
Erstaunt sah sich Roy um. Da war aber niemand. In der Ecke saß nur ein kleiner schwarzer Kater mit einigen weißen Haaren an der Kehle. Sonst war niemand da. Aber woher kam dann diese Stimme, die ihn mit »Königlicher Hoheit« ansprach?
»Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie lange ich Euch gesucht habe, Königliche Hoheit. Endlich habe ich Euch gefunden! Miau.«
Tatsächlich – es war dieser Kater, der zu ihm sprach. Roy konnte seinen Ohren und Augen kaum trauen. War dies hier etwa eine Hexenküche mit sprechenden Tieren?
»Ihr müsst mir helfen. Ihr seid meine letzte Hoffnung. Ihr seid unsere letzte Hoffnung«, sprach der Kater weiter aus der Ecke.
»Bist du das, der zu mir spricht?«, fragte Roy ungläubig.
»Ja, natürlich bin ich es«, erwiderte der Kater und stellte sich dabei auf die Hinterpfoten. »Erkennt Ihr mich denn nicht?«
»Nein. Wer bist du denn?«, fragte Roy neugierig.
»Ich bin’s, Racket. Euer treuer Freund Racket. Ach ja, das hätte ich mir denken können. Ihr erkennt mich ja nicht in dieser Tiergestalt. Ich vergesse immer wieder, dass ich ein Kater bin«, sprach Racket und sprang über einen Stuhl auf den Tisch.
»Sollte ich dich kennen?«, fragte Roy immer erstaunter.
»Oh ja. Natürlich. Wir sind die besten Freunde. Erinnert Ihr Euch nicht? Ihr müsst Euch doch erinnern. Wir waren jeden Tag zusammen. Ihr wisst schon, damals in Traumania. Bis dieser Regen kam und unsere Welt zu zerfallen begann.«
»Wovon sprichst du? Ich kann mich an keinen Regen erinnern.«
»Ihr wisst wirklich nichts davon? Ihr habt alles vergessen! Oh, wir müssen uns beeilen. Wir müssen zurück in unsere Welt, bevor es zu spät ist, wenn es nicht jetzt schon zu spät ist.«
Nun wurde Roy furchtbar aufgeregt. »In unsere Welt? Du weißt, woher ich komme?«
»Ja, natürlich weiß ich es«, schnurrte Racket und griff mit seiner Pfote nach einem Apfel, der achtlos auf dem Tisch lag, und biss genussvoll hinein. »Ihr seid Roy Rapperpotz, der jüngste Spross der königlichen Familie Rapperpotz aus dem Land Traumania.«
Racket, auf den Hinterbeinen stehend, verneigte sich tief, lief dann mit dem Rest des Apfels in der einen Pfote zu Roy und zeigte mit der anderen auf die strubbeligen Haare des Jungen.
»Und seit dem Regen habt Ihr auch diese schwarze Strähne, die Euch übrigens sehr gut steht – meint zumindest Romi. Naja. Darüber kann man wohl geteilter Meinung sein.«
»Romi?«, fragte Roy sehr aufgeregt, denn nun schien er sich doch an etwas zu erinnern.
»Sagt bloß, Ihr habt auch Romi vergessen? Oh, wir müssen uns wirklich
beeilen. Folgt mir!«
Racket ließ den Apfelrest auf den Tisch fallen und lief zu einer Seitentür in der hintersten und dunkelsten Ecke des Raumes. Roy hatte sie vorher gar nicht bemerkt, doch als sie nun hindurchtraten, standen sie plötzlich mitten im Garten hinter dem Waisenhaus. Racket lief bis zu einer Hecke aus buschigen Hainbuchen am anderen Ende des Gartens. Als er unter ihr hindurchschlüpfen wollte, zögerte Roy.
»Wir dürfen nicht hinter die Hecke. Direktor Finlox hat es uns streng verboten.«
»Vergesst Direktor Finlox, Roy. Wir werden bald zu Hause sein. Kommt schon!«
Aus irgendeinem Grunde – auch, wenn sie sonst überall durch das Gelände stromerten – hielten sich doch alle Kinder aus dem Waisenhaus fern von dieser Hecke. Es kam ihnen nie in den Sinn, dieses Verbot zu missachten. Auch jetzt beschlich Roy ein unangenehmes Gefühl, das er nicht so recht deuten konnte. Doch mutig folgte er dem Kater, der sich Racket nannte, und das seltsame Gefühl wich schnell einem neuen, wunderbaren, einem, das er noch nie zuvor erlebt hatte. Doch er meinte es aus Büchern zu kennen, die er gelesen hatte. Es war das Gefühl der Geborgenheit, das Gefühl, nach Hause zu kommen. Mit pochendem Herzen lief er deshalb Racket nach und zwängte sich durch die Hecke.
Dahinter, neben großen
Haselnuss-Sträuchern verborgen, lag ein kleiner runder Pavillon, der zur Hälfte aus einer vergilbten Mauer und zur anderen Hälfte aus Säulen bestand, von denen bereits der Putz bröckelte. Roy sah, wie der Kater in dem Pavillon verschwand und folgte ihm vorsichtig, aber ebenso neugierig zwischen den Säulen hindurch. Dort angekommen sah er Racket direkt vor der Mauer ungeduldig auf ihn warten. Der Kater konnte vor Aufregung kaum still halten, und sobald Roy neben ihm stand, tippte er auch schon mit der Pfote gegen einen Stein in der Wand, auf dem ein Symbol mit zwei sich kreuzenden Strichen eingeritzt war. Im selben Augenblick erstrahlte von diesem Stein ein seltsames Licht und erhellte den gesamten Pavillon, und direkt vor ihnen erklang eine tiefe Stimme.
»Wer stört die Ruhe des Wächters des verbotenen Tores?«
»Miau. Ich bin es, Racket«, hauchte der Kater sanft und ehrerbietig.
»Ach, du bist es schon wieder. Du wirst es wohl nie aufgeben. Hast du das Rätsel gelöst?«
»Nein«, antwortete Racket etwas verlegen. »Aber ich habe einen Freund mitgebracht, ein Mitglied der königlichen Familie, siehst du? Es ist Roy Rapperpotz.«
»Hm. Ja. Ich sehe. Es ist wirklich Roy Rapperpotz. Er trägt die schwarze Strähne im goldenen Haar. Hm. Dennoch muss auch er das Rätsel lösen, um durch das Tor zu gelangen.«
»Jaja«, erwiderte Racket eifrig. »Stell ihm die Frage. Er wird sie beantworten. Er wird es wissen. Ganz bestimmt.«
»Also gut«, ertönte die Stimme, jetzt sogar noch tiefer als vorher. »Höre mir aufmerksam zu, mein junger Freund:
Es ist ein Ort, den alle Menschen kennen.
Ob gut, ob böse, sie alle ihn ihr Eigen nennen.
Es ist ein Ort, an dem sich jeder Wunsch erfüllt,
ein Mantel, in den man sich des nächtens hüllt,
dort wo Erwachs’ne wie die Kinder tollen,
und nie mehr von dort gehen wollen.
Ein Ort, an dem es keine Grenzen gibt,
an dem nur eins, der eigne Wille siegt,
zu dem man geht mit Freuden fort.
Sag mir, was ist das für ein Ort?
Kennst du die Antwort, Roy Rapperpotz? Sag sie schnell, und ich öffne dir mein Tor.«
Roy dachte angestrengt nach. Ein Ort, den alle Menschen kennen? Ein Mantel, in den man sich nachts hüllt und wo sich jeder Wunsch erfüllt? Was könnte das nur sein?
Ungeduldig störte ihn Racket beim Nachdenken. »Wisst Ihr es, Roy? Ihr wisst es doch, nicht wahr? Sagt es dem Wächter. Ihr müsst es doch wi …«
Doch plötzlich erlosch das Licht des Wächters, und Racket sprang blitzartig aus dem Pavillon heraus, gerade noch rechtzeitig, bevor Direktor Finlox von der anderen Seite hereingepoltert kam.
»Rapperpotz, Roy Rapperpotz. Was machst du hier? Du solltest dir doch deine Haare schneiden lassen, du Lümmel. Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?«
Er packte Roy am rechten Ohr und zerrte ihn aus dem Pavillon. »Ihr werdet es wohl nie lernen. Ihr solltet doch nicht hinter diese Hecke gehen. Habe ich euch das nicht tausendmal gesagt? He?«
Finlox hielt Roy so fest am Ohr, dass der arme Junge vor Schmerz das Gesicht verzog, und zerrte ihn zurück ins Haus.
»Wir werden morgen weiter darüber reden. Jetzt aber ab ins Bett! Los!«
Im Waisenhaus angekommen, schubste er Roy in sein Zimmer, wo Greg schon hemmungslos schnarchte, und schloss sachte die Tür hinter ihm. Roy stieg leise in sein Bett. Immer wieder musste er an Racket und an diese geheimnisvolle Welt denken, von der ihm der Kater erzählte hatte. Und an das Rätsel, dessen Lösung ihnen das verbotene Tor zu dieser Welt öffnen sollte, zu einer Welt, die angeblich seine eigene war. Und plötzlich wusste Roy die Lösung des Rätsels. Todmüde, aber zufrieden und voller Erwartungen an den nächsten Tag schlief Roy unter seiner warmen und kuscheligen Decke ein.
Februar 2004
© 2004 Tiras Rapkeve
Alle Rechte liegen beim Autor
ISBN: 300012487X
tiras-rapkeve@gmx.net
www.traeumeschenken.com
Von außen pochte bereits Greg an die Tür. »He, Rapperpotz! Roy Rapperpotz! Wenn du nicht gleich rauskommst, dann kannst du für immer drinbleiben.« Um seine Worte zu betonen, stieß er noch einmal kräftig mit dem Fuß gegen die Tür. »Hast du mich verstanden, Rapperpotz?«
Roy packte hastig seine Sachen zusammen. Er hasste es, Rapperpotz genannt zu werden. Immer wieder hänselten ihn die Kinder wegen seines Namens. Rapperpotz – Roy Rapperpotz. Dies war wirklich ein sehr seltsamer Name. Roy Rapperpotz. Doch solange er denken konnte, hieß er schon so. Und ebenso lange lebte er schon in diesem Waisenhaus, weit außerhalb der Stadt, zusammen mit vielen anderen Kindern, die kein Zuhause mehr hatten. Er wusste weder wer seine Eltern waren, noch wo er hingehörte. Keiner hier konnte ihm dies sagen, und keiner wusste, wie er eigentlich hierher gekommen war, nicht einmal Direktor Finlox.
Roy öffnete die Tür und schaute vorsichtig hinaus. Von der Seite packte ihn Greg und zog ihn aus dem Bad.
»Rapperpotz, du siehst aus wie ein Struwwelpeter. Was hast du eigentlich die ganze Zeit da drin getrieben? Wegen dir werden wir noch alle zu spät zum Frühstück kommen!«
Grob schob er Roy zur Seite und ging lauthals brüllend ins Bad.
Im Frühstücksraum waren bereits alle Kinder in Reih und Glied versammelt. Der Direktor, Herr Finlox, ein finster dreinblickender knorriger Mann, schritt an den Kindern vorüber. An jedem hatte er etwas auszusetzen.
»Steck dein Hemd richtig rein, Peter. Kopf hoch, Martin. Michael, putz deine Schuhe.«
Kurz vor Roy stoppte er seinen langsamen und schleppenden Gang und schüttelte den Kopf.
»Rapperpotz, Rapperpotz. Du wirst es wohl nie lernen. Schau dich an. Weißt du, wie du aussiehst? Wie ein Kind von der Straße. Was soll nur aus dir werden?«
»Aber …«, versuchte Roy sich zu verteidigen.
»Kein Aber«, unterbrach ihn Finlox. »Jeden Morgen hast du die gleiche Ausrede. Du gehst sofort in den Keller zu Morella und lässt dir deine Haare schneiden. Ist das klar?«
Die Kinder im Saal verstummten. Jeder fürchtete sich vor Morella. Sie war eine seltsame alte Frau, die im Keller von St. Jones hauste und nur selten ins Haus, geschweige denn in den Garten kam. Einige behaupteten sogar, sie wäre eine Hexe und hätte schon etliche kleine Kinder verschlungen. Alle Waisenkinder, sogar Greg, hatten Angst vor ihr, und jeder im Saal war froh, nicht an Roys Stelle zu sein.
Finlox stand wartend vor Roy und musterte ihn scharf. Roy drehte sich um und verließ den Frühstückssaal. Was sollte er tun? Was sollte er sagen? So hungrig er auch war, er musste sich fügen. Und da er zwar klein und schüchtern, doch keinesfalls feige war, schritt er die kalten Stufen hinunter in den Keller zu Morella. Aber eigenartig – je tiefer er kam, desto weniger Angst hatte er. Obwohl er im Halbdunkel nicht viel sah, kam ihm die Umgebung sogar irgendwie vertraut vor. Nur ein- oder zweimal war er in diesem Keller gewesen und so richtig konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern, auch nicht an Morella, doch er spürte das eigenartige Gefühl, schon sehr oft hier gewesen zu sein. Er konnte es sich nicht erklären.
Roy kam in einen Raum, der durch ein Kaminfeuer hell erleuchtet war, so dass er an den Wänden Regale mit seltsam anmutenden Gläsern sehen konnte. In der Mitte stand ein großer Holztisch mit vier Stühlen, und als Roy zu dem Kamin blickte, sah er dort eine gebückte Frau mit grauem, wallendem Haar Holz hineinwerfen.
»Komm ruhig näher, Roy Rapperpotz«, sagte die Frau ohne sich umzublicken. »Ich habe schon auf dich gewartet. Du solltest eigentlich schon längst hier unten sein, schon seit Wochen. Was hat dich aufgehalten?«
Roy wusste nicht so recht, was er erwidern sollte.
»Direktor Finlox hat mich eben erst heruntergeschickt. Sie sollen mir die Haare schneiden«, sagte er schüchtern.
»Finlox, dieser Trottel«, erwiderte Morella empört. »Haare schneiden. Ist das sein einziges Problem? Haare schneiden? Der hat keine Ahnung von dem, was hier wirklich vor sich geht. Setz dich.«
Neugierig schaute sich Roy im Raum um. Als er sich langsam setzte und wieder zum Kamin blickte, war Morella plötzlich verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Er sah in jede Ecke, doch er konnte sie nicht mehr sehen. Er war jetzt ganz allein.
Da saß er nun und wartete und wusste nicht, was er tun sollte. Die Stunden vergingen, doch es geschah nichts. Morella war verschwunden und kam nicht wieder zurück. Da Direktor Finlox ihm eingeschärft hatte, sich nicht ohne einen neuen Haarschnitt aus dem Keller zu wagen, wartete Roy den ganzen Tag, bis es schon fast dunkel war. Zum Glück fand er in einem Regal ein paar Äpfel und einen Kanten Brot. Damit stillte er seinen Hunger, gegen seinen Durst half ein Krug Wasser, der auf dem Tisch stand.
Als in Roy allmählich die Sorge wuchs, dass Morella gar nicht mehr zurückkommen würde, erklang plötzlich eine leise, schnurrende Stimme.
»Königliche Hoheit! Ein Glück, dass ich Euch gefunden habe.«
Erstaunt sah sich Roy um. Da war aber niemand. In der Ecke saß nur ein kleiner schwarzer Kater mit einigen weißen Haaren an der Kehle. Sonst war niemand da. Aber woher kam dann diese Stimme, die ihn mit »Königlicher Hoheit« ansprach?
»Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie lange ich Euch gesucht habe, Königliche Hoheit. Endlich habe ich Euch gefunden! Miau.«
Tatsächlich – es war dieser Kater, der zu ihm sprach. Roy konnte seinen Ohren und Augen kaum trauen. War dies hier etwa eine Hexenküche mit sprechenden Tieren?
»Ihr müsst mir helfen. Ihr seid meine letzte Hoffnung. Ihr seid unsere letzte Hoffnung«, sprach der Kater weiter aus der Ecke.
»Bist du das, der zu mir spricht?«, fragte Roy ungläubig.
»Ja, natürlich bin ich es«, erwiderte der Kater und stellte sich dabei auf die Hinterpfoten. »Erkennt Ihr mich denn nicht?«
»Nein. Wer bist du denn?«, fragte Roy neugierig.
»Ich bin’s, Racket. Euer treuer Freund Racket. Ach ja, das hätte ich mir denken können. Ihr erkennt mich ja nicht in dieser Tiergestalt. Ich vergesse immer wieder, dass ich ein Kater bin«, sprach Racket und sprang über einen Stuhl auf den Tisch.
»Sollte ich dich kennen?«, fragte Roy immer erstaunter.
»Oh ja. Natürlich. Wir sind die besten Freunde. Erinnert Ihr Euch nicht? Ihr müsst Euch doch erinnern. Wir waren jeden Tag zusammen. Ihr wisst schon, damals in Traumania. Bis dieser Regen kam und unsere Welt zu zerfallen begann.«
»Wovon sprichst du? Ich kann mich an keinen Regen erinnern.«
»Ihr wisst wirklich nichts davon? Ihr habt alles vergessen! Oh, wir müssen uns beeilen. Wir müssen zurück in unsere Welt, bevor es zu spät ist, wenn es nicht jetzt schon zu spät ist.«
Nun wurde Roy furchtbar aufgeregt. »In unsere Welt? Du weißt, woher ich komme?«
»Ja, natürlich weiß ich es«, schnurrte Racket und griff mit seiner Pfote nach einem Apfel, der achtlos auf dem Tisch lag, und biss genussvoll hinein. »Ihr seid Roy Rapperpotz, der jüngste Spross der königlichen Familie Rapperpotz aus dem Land Traumania.«
Racket, auf den Hinterbeinen stehend, verneigte sich tief, lief dann mit dem Rest des Apfels in der einen Pfote zu Roy und zeigte mit der anderen auf die strubbeligen Haare des Jungen.
»Und seit dem Regen habt Ihr auch diese schwarze Strähne, die Euch übrigens sehr gut steht – meint zumindest Romi. Naja. Darüber kann man wohl geteilter Meinung sein.«
»Romi?«, fragte Roy sehr aufgeregt, denn nun schien er sich doch an etwas zu erinnern.
»Sagt bloß, Ihr habt auch Romi vergessen? Oh, wir müssen uns wirklich
beeilen. Folgt mir!«
Racket ließ den Apfelrest auf den Tisch fallen und lief zu einer Seitentür in der hintersten und dunkelsten Ecke des Raumes. Roy hatte sie vorher gar nicht bemerkt, doch als sie nun hindurchtraten, standen sie plötzlich mitten im Garten hinter dem Waisenhaus. Racket lief bis zu einer Hecke aus buschigen Hainbuchen am anderen Ende des Gartens. Als er unter ihr hindurchschlüpfen wollte, zögerte Roy.
»Wir dürfen nicht hinter die Hecke. Direktor Finlox hat es uns streng verboten.«
»Vergesst Direktor Finlox, Roy. Wir werden bald zu Hause sein. Kommt schon!«
Aus irgendeinem Grunde – auch, wenn sie sonst überall durch das Gelände stromerten – hielten sich doch alle Kinder aus dem Waisenhaus fern von dieser Hecke. Es kam ihnen nie in den Sinn, dieses Verbot zu missachten. Auch jetzt beschlich Roy ein unangenehmes Gefühl, das er nicht so recht deuten konnte. Doch mutig folgte er dem Kater, der sich Racket nannte, und das seltsame Gefühl wich schnell einem neuen, wunderbaren, einem, das er noch nie zuvor erlebt hatte. Doch er meinte es aus Büchern zu kennen, die er gelesen hatte. Es war das Gefühl der Geborgenheit, das Gefühl, nach Hause zu kommen. Mit pochendem Herzen lief er deshalb Racket nach und zwängte sich durch die Hecke.
Dahinter, neben großen
Haselnuss-Sträuchern verborgen, lag ein kleiner runder Pavillon, der zur Hälfte aus einer vergilbten Mauer und zur anderen Hälfte aus Säulen bestand, von denen bereits der Putz bröckelte. Roy sah, wie der Kater in dem Pavillon verschwand und folgte ihm vorsichtig, aber ebenso neugierig zwischen den Säulen hindurch. Dort angekommen sah er Racket direkt vor der Mauer ungeduldig auf ihn warten. Der Kater konnte vor Aufregung kaum still halten, und sobald Roy neben ihm stand, tippte er auch schon mit der Pfote gegen einen Stein in der Wand, auf dem ein Symbol mit zwei sich kreuzenden Strichen eingeritzt war. Im selben Augenblick erstrahlte von diesem Stein ein seltsames Licht und erhellte den gesamten Pavillon, und direkt vor ihnen erklang eine tiefe Stimme.
»Wer stört die Ruhe des Wächters des verbotenen Tores?«
»Miau. Ich bin es, Racket«, hauchte der Kater sanft und ehrerbietig.
»Ach, du bist es schon wieder. Du wirst es wohl nie aufgeben. Hast du das Rätsel gelöst?«
»Nein«, antwortete Racket etwas verlegen. »Aber ich habe einen Freund mitgebracht, ein Mitglied der königlichen Familie, siehst du? Es ist Roy Rapperpotz.«
»Hm. Ja. Ich sehe. Es ist wirklich Roy Rapperpotz. Er trägt die schwarze Strähne im goldenen Haar. Hm. Dennoch muss auch er das Rätsel lösen, um durch das Tor zu gelangen.«
»Jaja«, erwiderte Racket eifrig. »Stell ihm die Frage. Er wird sie beantworten. Er wird es wissen. Ganz bestimmt.«
»Also gut«, ertönte die Stimme, jetzt sogar noch tiefer als vorher. »Höre mir aufmerksam zu, mein junger Freund:
Es ist ein Ort, den alle Menschen kennen.
Ob gut, ob böse, sie alle ihn ihr Eigen nennen.
Es ist ein Ort, an dem sich jeder Wunsch erfüllt,
ein Mantel, in den man sich des nächtens hüllt,
dort wo Erwachs’ne wie die Kinder tollen,
und nie mehr von dort gehen wollen.
Ein Ort, an dem es keine Grenzen gibt,
an dem nur eins, der eigne Wille siegt,
zu dem man geht mit Freuden fort.
Sag mir, was ist das für ein Ort?
Kennst du die Antwort, Roy Rapperpotz? Sag sie schnell, und ich öffne dir mein Tor.«
Roy dachte angestrengt nach. Ein Ort, den alle Menschen kennen? Ein Mantel, in den man sich nachts hüllt und wo sich jeder Wunsch erfüllt? Was könnte das nur sein?
Ungeduldig störte ihn Racket beim Nachdenken. »Wisst Ihr es, Roy? Ihr wisst es doch, nicht wahr? Sagt es dem Wächter. Ihr müsst es doch wi …«
Doch plötzlich erlosch das Licht des Wächters, und Racket sprang blitzartig aus dem Pavillon heraus, gerade noch rechtzeitig, bevor Direktor Finlox von der anderen Seite hereingepoltert kam.
»Rapperpotz, Roy Rapperpotz. Was machst du hier? Du solltest dir doch deine Haare schneiden lassen, du Lümmel. Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?«
Er packte Roy am rechten Ohr und zerrte ihn aus dem Pavillon. »Ihr werdet es wohl nie lernen. Ihr solltet doch nicht hinter diese Hecke gehen. Habe ich euch das nicht tausendmal gesagt? He?«
Finlox hielt Roy so fest am Ohr, dass der arme Junge vor Schmerz das Gesicht verzog, und zerrte ihn zurück ins Haus.
»Wir werden morgen weiter darüber reden. Jetzt aber ab ins Bett! Los!«
Im Waisenhaus angekommen, schubste er Roy in sein Zimmer, wo Greg schon hemmungslos schnarchte, und schloss sachte die Tür hinter ihm. Roy stieg leise in sein Bett. Immer wieder musste er an Racket und an diese geheimnisvolle Welt denken, von der ihm der Kater erzählte hatte. Und an das Rätsel, dessen Lösung ihnen das verbotene Tor zu dieser Welt öffnen sollte, zu einer Welt, die angeblich seine eigene war. Und plötzlich wusste Roy die Lösung des Rätsels. Todmüde, aber zufrieden und voller Erwartungen an den nächsten Tag schlief Roy unter seiner warmen und kuscheligen Decke ein.
Februar 2004
© 2004 Tiras Rapkeve
Alle Rechte liegen beim Autor
ISBN: 300012487X
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