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Das Muschelprinzip
Autor: Uta Halbreiter · Rubrik:
Kurzgeschichten

Im ersten Moment wollte ich es nicht glauben. Ich dachte, derjenige, der mir die Botschaft überbrachte, machte einen Witz. Ich wartete darauf, dass er lachen würde, sagen würde, dass es nicht wahr war. Gleichzeitig begriff ich nicht, wie er mit einer solchen Sache scherzen konnte, wurde wütend auf ihn, dass er solche Witze machte, noch wütender, dass er nicht endlich lachte und ich mich erleichtert fühlen konnte, dass alles nicht wahr war. Erst nachher, als ich aufgelegt hatte und nur noch den Druck des Hörers an meinem Ohr spürte, aber immer noch seine Stimme hörte, wie sie sagte: „Ich habe eine schlechte Nachricht für dich“, spürte ich, es war kein Witz. Trotzdem schien es auch nicht wirklich zu sein, nicht wahr sein zu können. Mein Kopf war völlig leer, ganz leicht. Mein Körper fühlte sich wie taub an, bleischwer. Ein unwirkliches Gefühl, das zu dieser unwirklichen Nachricht passte. Mir war zum Lachen zumute, zum Weinen erst später, was für ein Witz.

Die ganze Welt scheint stillzustehen. Und dreht sich doch weiter. Draußen scheint unverständlicherweise die Sonne auf die Erde, wie um sie an diesem traurigen Tag besonders schön zu machen. Leute gehen zur Arbeit. Kinder spielen. Bäume bewegen ihre Blätter im Wind. Nur ich bleibe in einen Panzer aus Trauer gehüllt im Haus, verstecke mich vor der Welt, die nicht still stehen will. Als ich mich am dritten Tag schließlich zu einem Spaziergang nach draußen wage, um mir vom Wind die Gedanken aus dem Kopf blasen zu lassen, die sich in endlosem Kreis in mir wiederholen, fühle ich mich anders als früher, verändert. Und ich erwarte, dass jeder sieht, dass ich anders bin. Aber keiner sieht es. Am Waldesrand gehen Menschen mit ihren Hunden spazieren, ohne mich überhaupt zu bemerken. Unbegreiflich, dass sie meinen Schmerz nicht sehen, spüren, fühlen.

Im Dorf begegne ich einem flüchtigen Bekannten. „Schrecklich, was passiert ist“, sagt er mit traurigem Blick. Ich nicke, denke aber gleichzeitig: Was weißt du schon, du kanntest ihn doch kaum. So schrecklich kann es für dich nicht sein. Dennoch will ich ihm von meinem Schmerz erzählen. „Ich schlafe nachts nicht mehr. Ich muss immer an ihn denken.“ „Ja“, sage er. „So geht es mir auch.“ Ich sehe ihn verständnislos, fast wütend an. Wie kann er nachts nicht schlafen? Seine Trauer ist so klein. Hier steht er und sieht aus wie immer, gar nicht so, als hätte er einen Freund verloren. Wenn ich so aussehen würde, so fühlen würde, würde ich nachts schlafen können.

Am Abend vor der Beerdigung ruft ein Freund an. „Er fehlt mir so“, sage ich. „Mir auch“, sagt er. „Ich kann es nicht glauben, es kann doch nicht stimmen“, sage ich. „Es stimmt aber“, sagt er, und ich hasse ihn dafür. „Ich weiß noch, wie er letztens bei mir war und von seinem Urlaub erzählte. Wir haben so gelacht“, erinnert er sich. Ich bin neidisch. Wieso war er bei ihm, warum haben sie so gelacht? Ich war doch sein bester Freund. „Bei mir war er auch, wir haben seine Fotos gesehen“, sage ich schnell, wie um ihn zu übertrumpfen. „Ja, das waren schöne Bilder“, sagt er. Und wieder ärgere ich mich. Auch er hat die Bilder gesehen.

Am Tag nach der Beerdigung besucht mich eine Freundin. „Ich verstehe, was du durchmachst“, sagt sie. Ich schenke ihr Kaffee ein und weiß, dass sie nichts von dem versteht, was ich durchmache. Seit der Nachricht trinke ich meinen Kaffee nicht mehr schwarz, sondern mit viel Milch, so wie er es tat. Sie trinkt ihren Kaffee schwarz mit zwei Zuckerstückchen. Wie kann sie wissen, was ich durchmache? „Als damals meine Mutter starb, wollte ich es nicht glauben“, erzählt sie, kramt sogar ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, tupft sich die Augen, die mich vollkommen trocken ansehen. Ich sehe eben so trocken zurück; seit der Beerdigung habe ich die Tränen unter Kontrolle. Ihr Blick weicht dem meinen aus. Mütter müssen vor ihren Kindern sterben, das ist der Lauf der Dinge, denke ich. Wenn Freunde sterben, die noch viel zu jung sind, um zu sterben, ist das falsch. Ich sage nichts. Ich spüre, dass sie auch das nicht verstehen würde.

Eine Woche nach der Nachricht sehe ich zum ersten Mal wieder in meinen Terminkalender: Heute ist der Geburtstag eines Freundes. Völlig überrascht betrachte ich die Notiz, die ich selbst gemacht habe, lese wieder und wieder das Datum, das so nichtssagend wirkt und mich doch hart in die Realität zurückreißt. Heute ist der 6. Juni, der Geburtstag eines Freundes. Ich werde ihm ein Geschenk kaufen, es einpacken lassen und zu ihm gehen. Den ganzen Tag bin ich mit der Suche nach einem Geschenk beschäftigt, laufe mal ziellos, mal zielstrebig durch die Geschäfte, kann mich nicht entscheiden. Schließlich kaufe ich ihm einen Gutschein, der noch nicht einmal eingepackt zu werden braucht. Als ich abends zu ihm gehen will, klingelt es an der Tür. Ein befreundetes Pärchen steht im Hausflur: „Wir dachten, wir holen dich ab. Ein Mitbringsel haben wir schon besorgt“, halten sie mir freudestrahlend einen Geschenkkorb entgegen. Ich ärgere mich über ihre Fürsorglichkeit, über die Tatsache, dass sie mir die Rückkehr in den Alltag erleichtern möchten, aber nicht aussprechen, was sie denken: „Du siehst schrecklich aus, du musst dich fürchterlich fühlen.“

Als wir zu dritt auf dem Geburtstagsfest erscheinen, begrüßt mich der Gastgeber übertrieben herzlich: „Das ist aber schön, dass du kommst!“, schreit er fast, das befreundete Pärchen neben mir ignorierend. Wie auf Kommando drehen sich alle Gesichter der anwesenden Gäste zu mir, überall lese ich „Er sieht schrecklich aus!“. Statt breiter Grinsen und lauter Hallo-Rufe wie es noch vor einer Woche üblich gewesen wäre, sehe ich betretene Gesichter mit tröstenden Blicken und verklemmten Lächeln, höre ich nichts, Stille. Erst als ich mit einem Glas Champagner in der einen Hand und einer Lachsschnitte in der anderen zwischen ihnen auf dem Sofa sitze, geht die Konversation weiter. Ich hasse sie alle. Für ihr Verständnis, für ihre Herzlichkeit und am allermeisten dafür, dass sie lächerliche Konversation betreiben, während zwischen uns ein großes Loch klafft. Das Loch, das der Tod meines Freundes gerissen hat. Das Loch, das sie nicht zu sehen scheinen oder mit ihrer Fürsorglichkeit mir gegenüber zustopfen wollen. Ich gehe früh, alle klopfen mir zum Abschied auf den Rücken, als sei das die internationale Geste für Mitgefühl.

Zweieinhalb Wochen nach der Nachricht beginnt mein Urlaub, den ich schon lange vorher gebucht hatte. Damals, als sich die Zeit noch anders anfühlte. Unwirklich weit entfernt scheint jene Zeit heute, jetzt, wo jede Sekunde spürbar ist. Eine Freundin überredet mich, den gebuchten Urlaub anzutreten, als sei es eine Pflicht, die ich zu erfüllen habe. Wem ich das schuldig bin, sagt sie nicht. Sie denkt, mir selbst. Ich denke, ihr und allen anderen, die wollen, dass ich endlich wieder so bin wie vorher. Sie begreifen nicht, dass ich schon vorher nicht mehr war wie ich war. Die Tatsache, dass ich ihn kannte, hatte mich verändert. Wie soll da sein Tod keine Wirkung haben? Ich kann mich weder in die Person zurückverwandeln, die ich war, als ich ihn noch nicht kannte, noch in die, die ich war, als ich ihn kannte und er noch lebte. Dennoch fahre ich in den Urlaub. Und sei es nur, um den Freunden auszuweichen, die meinen, mit gutem Zureden, Themenwechsel, sobald sein Name fällt, oder netten Einladungen zu netten Abenden meinen Alltag wieder herstellen zu können.

Ein Freund bringt mich zum Flughafen, wünscht mir gute Reise und „vor allem gute Erholung.“ Im Flugzeug denke ich darüber nach, was wichtiger ist, eine gute Reise oder eine gute Erholung. Es scheint mir widersinnig, die Erholung von der Reise losgelöst zu sehen. Wie kann ich mich erholen, wenn ich eine schreckliche Reise habe? Wovon erhole ich mich dann? Von der Reise, nicht aber von meinem Alltag, den ich ohnehin noch gar nicht wieder habe. Der Flug vergeht wie im Fluge.

Die Insel erschlägt mich mit ihren Farben, ihren Düften, ihrer Wärme, die nicht nur von der Sonne kommt. Die gepflasterten Wege zwischen den hellgrünen Grasrändern, die schattigen Terrassen unter den hohen Palmen, die weite Aussicht auf das blaue Meer – alles scheint nur für mich gemacht zu sein. Ich spüre, wie ich meine Schritte anders setze, leichtfüßiger. Wie sich meine Haltung ändert, aufrechter. Wie sich mein Gesichtsausdruck wandelt, entspannter. Sonne, Wind und Meer tun ihr übriges, um mein altes Ich gegen das neue auszutauschen. Ich werde nicht wie vorher werden, ich werde neu geschaffen. Meine Pigmente färben sich, das Haar wird vom Seewind gefönt, mein Körper gewinnt Kraft durch lange Spaziergänge und den Kampf gegen die Wellen.

Abends esse ich in einem der unzähligen kleinen Restaurants, flirte mit den hübschen Kellnerinnen, die mir mit blitzendweißen Zähnen zulächeln, jeden Abend eine andere, doch scheinen sie alle gleich mit ihren dunklen Augen, langen Haaren und kurzen schwarzen Röcken. Zum Hotel zurück mache ich jeden Abend den Umweg durch die Dünen. Am dunklen Strand entlang spazierend, spreche ich mit ihm, erzähle ihm von meinem Tag, krame gemeinsame Erinnerungen aus. Die Wellen antworten mir rauschend. Hier, wo er nie gewesen ist, fühle ich mich ihm nah. Hier will ich ihn lassen. Ich treffe mit ihm eine Vereinbarung: Wenn ich ihm nah sein möchte, gehe ich an sein Grab auf dem Friedhof – und dann sind wir beide in Gedanken wieder hier auf der Insel.

Am Tag vor dem Abflug gehe ich ein letztes Mal in den Abendstunden durch die Dünen an den Strand. Ich kenne jeden Schritt, weiß schon im Voraus, wie der Sand sich anfühlt: warm und weich hinter den Dünen, nass und hart am Wasser. Das Meer rauscht, der Wind streichelt meine Wange, winkt mir zum Abschied. Ich leere eine Plastiktüte voller Muscheln, die ich in den vergangenen zwei Wochen gesammelt habe, in den Wind, in die Wellen. Mein Abschiedsgeschenk an ihn.


Einstell-Datum: 2004-05-26

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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