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CAFE LANDTMANN (Wiener Stücke - Band4)
Autor: Johannes Wierz · Rubrik:
Sonstiges

CAFE LANDTMANN

von
Johannes Wierz


Der alternde Autor Rene Allermann sitzt im Café Landtmann vis à vis dem Burgtheater. Hier sinniert er über den Tod, seine verpassten Chancen als Mensch und als Künstler und schimpft über die Burg. Sein Zufluchtsort ist das Café, das sich in seinen Augen seit 50 Jahren nicht verändert hat. Tatsächlich aber ist das Café wegen Renovierung geschlossen und hat seinen ältesten Stammgast einfach vergessen.

Eingesperrt. Zugesperrt, stellt er am Ende lakonisch fest und kommt – die baulichen Veränderungen nicht registrierend – ums Leben.

Mehr Stücke und Information über den Autor finden Sie unter:
www.johanneswierz.de




2011
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Aufführung durch
Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung
und Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und andere Medien,
auch einzelner Abschnitte.
Das Recht der Aufführung oder Sendung ist nur von Johannes Wierz
zu erwerben.
Den Bühnen und Vereinen gegenüber als Manuskript gedruckt.

PERSONEN:

RENE ALLERMANN »Erfolgsautor«


1.

In einem modernen Kaffeehaus. Die Inneneinrichtung ist »zeitgeistig« (viel Chrom, heller Marmor etc.)
Auf der einen Seite ist eine Wendeltreppe, die in den Keller führt. (darüber Hinweisschilder für die Toilette)
Auf der anderen eine Bar mit Spiegeln, daneben eine große Pendeltür. Die Vorderfront bildet ein großes Fenster, darauf in einer Ecke ein Plakat mit der Aufschrift:

» HEUTE GESCHLOSSEN
NEUERÖFFNUNG
IN WENIGEN TAGEN«


An einem Tisch (ein alter Kaffeehaustisch) sitzt der »Erfolgsautor«, RENE ALLERMANN, neben sich ein Gardeobenständer mit Zeitungen. Tisch, Stuhl und Gardeobenständer stehen im krassen Gegensatz zu der sonstigen Einrichtung. RENE ALLERMANN trägt einen abgetragenen Anzug.

RENE ALLERMANN:
Leer geworden ist es
Manchmal denke ich
ich bin allein auf dieser Welt
wohlgemerkt
neuerdings erst
Früher war es auch hier
nicht so leer
Da traf man sich
war dieser Ort Treffpunkt
für jedermann
Mir ist es egal

er lehnt sich zurück

mir ist es immer egal gewesen
habe immer allein am Tisch gesessen
An meinem Tisch
wohlgemerkt
an meinem Tisch
Das Schöne
an dieser Lokalität
ist die Tradition
Namentlich wird man begrüßt
man kennt jede Gewohnheit
die unterschiedlichen Geschmäcker
Die Zeitung liegt schon da
Es ist alles geordnet
alles geregelt
Ja
alles hat hier seinen Platz
Sicher die Preise erhöhen sich stetig
aber dafür ist das Personal
dasselbe geblieben
Ein beruhigendes
schönes Gefühl
in dieselben Gesichter
immer und immer wieder
zu blicken
Die Stimmen
auswendig gelernt
Käme jetzt
der »graue Star« über mich
oder eine andere Augenkrankheit
hier
hätte ich keine Probleme
37 Schritte bis zur Herrentoilette
19 bis zum Kuchenbüffet
Mein Tisch
der dritte von links
der rechte Stuhl am Fenster
Auf dem Tisch
die aktuelle Kuchenkarte
je nach Jahreszeit
Der Aschenbecher
zwei kleine Öffnungen für Zigaretten
und eine größere für die Zigarre
nach dem Kaffee
Ich selber
rauche ja nur noch wenig
die wenigsten wissen es
Auch hier
hat es einige Zeit gedauert
bis sie es registriert haben
Die Außenwelt
macht es einem schwer
alte Gewohnheiten abzustreifen
wie einen alten
speckigen Anzug
Käme ich beispielsweise
nicht zu den von mir vorbestimmten Zeiten
in dieses Café
Fragen würden mir gestellt
eine Lawine an Fragen
Sorgen
würde man sich machen
die Ordnung
käme durcheinander
Vor drei Jahren beispielsweise
starb mein Bruder
eine lästige Geschichte
wirklich unangenehm
Da ich
als einziger nächster Verwandte
naturgemäß
die Aufgabe hatte
alles in die Wege zu leiten
kam mein Leben
für eine kurze Zeit
aus dem Takt
eine unangenehme Geschichte
Das hiesige Personal
ein wirklich sehr aufmerksames Personal
las die von mir aufgegebene Todesanzeige
las meinen Nachnamen
und zog ihre Schlüsse daraus
Als ich Tage später
zur gewohnten Zeit
zu der von mir vorbestimmten Zeit
meinen Tisch
aufsuchen wollte
war dieser besetzt
Mein Tisch
den ich von jeher
immer
zu einer ganz bestimmten Zeit aufsuche
war besetzt
Eine peinliche Angelegenheit
für beide Seiten
Man hielt mich für tot
nicht mehr existent
Man muss sich das einmal vorstellen
Es hat naturgemäß
Konsequenzen mit sich gezogen
Ich habe mich
auf eine Art und Weise
dem Personal genähert
man möge mir das nachsehen
Ja
ich will es offen gestehen
an diesem unsäglichen Tage
habe ich dem Personal
meine Verwandtschaftsverhältnisse
erläutern müssen
habe allen Mitarbeitern
dieses ehrwürdigen
traditionsreichen Cafés
meinen Vornamen mitgeteilt
Man kann durchaus sagen
dass mir diese Handlungsweise
abgezwungen wurde
Ein bedeutender Tag
in der Geschichte dieser Lokalität
Ich habe meinen Bruder
ohnehin nie leiden können
Selbst über den Tod hinaus
hat er mir noch Ärger
und Schwierigkeiten bereitet
Bin seitdem auch nicht mehr
an seinem Grab gewesen
Wer über seinen Tod hinaus
noch in der Lage ist
anderen
Unannehmlichkeiten zu bereiten
hat es nicht verdient
dass man ihn besucht

Er nimmt vom Zeitungsständer eine Tageszeitung mit Halter und blättert sie durch.

RENE ALLERMANN:
Unsinn
Wahnsinn
Schwachsinn
Unsinn

Bei den Todesanzeigen hält er inne

Im Sommer
sterben sie wie die Fliegen
Das Klima der Stadt
ist im Sommer
nicht für jedermann
bekömmlich
Obwohl der Winter
naturgemäß
für den Tod prädestiniert ist
sterben sie hier
im Sommer
Die Leichenbestatter
und die Angehörigen
freuen sich über diese Tatsache
Das Bestattungsgeschäft
ist in dieser Stadt
ein Saisongeschäft
Der Leichenbestatter
kommt leichter in den Boden
Die Angehörigen sind sicher
vor einer Verkühlung
während den Bestattungsfeierlichkeiten
Mein Bruder
ist natürlich im kältesten Winter
den die Stadt
seit Jahrzehnten
zu verzeichnen gehabt hat
gestorben
Allein die Ausschachtung mit Presslufthammer
und Bagger
hat mich ein Vermögen gekostet

Er blättert bis zu den Kleinanzeigen weiter.

RENE ALLERMANN:
»Sinnliche Wachauerin sucht gleichgesinnten Wachauer«
»Langenzersdorfer Schlachter
sucht Gehilfen zwecks Hausschlachtung«
»Viehzüchter aus Klosterneuburg
sucht erfahrenen Besamer
gegen gute Bezahlung«
»In dreißig Tagen Millionär
Das Handbuch
für den erfolgreichen Geschäftsmann
Wegen Geschäftsauflösung
jetzt um fünfzig Prozent billiger«

Ungläubig schüttelt RENE ALLERMANN mit dem Kopf. Er steht auf, hängt die Zeitung an den Haken und schaut aus dem Fenster.

Nach einer Weile

RENE ALLERMANN:
Es gibt wenige Gäste
die meiner Natur entsprechen
gerade im Sommer
Im Sommer
fühlt man sich oft allein
Zu viele Gesichter
fremde Gesichter
die hier
kurz eintauchen
in die Geborgenheit
in die Wiener Gemütlichkeit
flüchtend
vor dem hektischen Strom 

der durch die großen Geschäftsstrassen fließt
Das Klicken der Photoapparate
Kreischende Kinder
überfüllte Reisebusse
der Benzingestank
All das
nimmt im Sommer
dermaßen
Ausmaße an
dass mir oft der Gedanke kommt
wieder zu reisen
Ich habe lange
keine Reisen mehr unternommen
Nicht
dass ich es mir nicht leisten könnte
weit gefehlt
Auch ist es nicht die Angst
in einem fremden Land
das Zeitliche zu segnen
Mein Bruder ist tot
ihn kann ich nicht mehr schädigen
Nein nein
zuviel
habe ich meinen Sinnen zugemutet
In jungen Jahren
zuviel gespeichert
naturgemäß
alles unreflektiert gespeichert
Ich bräuchte sieben Leben
um all das aufzuarbeiten
Allein für die Sortierung
würde ein Leben nicht ausreichen

Er setzt sich wieder.

RENE ALLERMANN:
Ruhelos
bin ich umhergezogen
bis ich dann doch wieder
hier
angelangt war
Die Stadt ist wie ein Sog
sie holt sich ihre Kinder
immer wieder zurück
alles nur eine Frage der Zeit
Den Ausbruch
habe ich versucht
vor Steinhof
Angst gehabt
Jeder kreative Mensch
landet zwangsläufig
irgendwann
in seinem Leben
in Steinhof
Alle wirklichen Künstler der Stadt
sind irgendwann
in ihrem Leben
einmal
in Steinhof gewesen
weil sie nicht aufgepasst haben
den Ausbruch
nicht versucht haben
Mir ist er gelungen
der Ausbruch
in der ganzen Welt
bin ich gewesen
Im Orient den Kaffee getrunken
Es ist eine deprimierende Erfahrung
für mich gewesen
feststellen zu müssen
das selbst in den Ländern
wo die Kultur des Kaffeekochens
zuhause ist
man nicht in der Lage ist
so wie hier
den Kaffee zu kochen
Traurig traurig
Ich dachte noch bei mir
als ich diese Reisen
mit gutem Willen
und einem Schuss
jugendlicher Naivität unternahm
es hielte sich alles so
wie mit der Sprache
aber auch da
wurde ich um Erfahrungen reicher
Wie oft wurde ich enttäuscht
als ich ausländische Autoren
zuvor in deutscher Übersetzung
später neugierig geworden
im Original las
welche Verschiebungen
fanden da statt
Fälschungen
nichts als
dilettantische Fälschungen
Eindrücke 

Empfindungen
alles so entfremdet
übersetzt
dass gar
ein neues Bild entstand
Beispielsweise »Lysistrate«
von Aristophanes
Gewaltige Kluften
liegen zwischen der billig Ausgabe in gelb
und einer wissenschaftlichen
fundierten
gebundenen Ausgabe
Ja gebunden
und dementsprechend teuer
dachte ich
in meiner jugendlichen Naivität
Jahre musste es dauern
bis ich dahinter kam
Geld musste ich verdienen
um mir ein Bild
machen zu können
von der Qualität an Übersetzungen
Wissen ist Macht
dachte ich damals
Heute hat es viel mehr
mit Geld zu tun
Im Übrigen
ist der Beruf des Übersetzers
von jeher
ein hungerleider Beruf
Obwohl
die ausländischen Autoren
die unsäglichen Bücherhitlisten anführen
und die Verleger
Millionen scheffeln
verdienen die Übersetzer
hungerleider Löhne
und die heimatverbundenen Dichter
werden gar ganz vergessen

Er schaut auf seine Taschenuhr.

RENE ALLERMANN:
Die Zeit
geht ihre eigenen Wege
und ich den meinen
Jahrelang in Spanien gelebt
Dem Klima zuliebe
Der Gesichtshaut
hat es auch gut getan
ohne Zweifel
Aber der Magen
er weigerte sich
den spanischen Kaffee
zu honorieren
wobei ich nichts Nachteiliges
über den spanischen Kaffee sagen könnte
Bin halt Heimat verbunden
gebe ich offen zu
Im Alter
hat man sowieso
vielmehr Möglichkeiten
offen etwas zuzugeben
Ja Heimat verbunden
das bin ich
ganz ohne Zweifel


neu bei www.amazon.de oder www.johanneswierz.de


Einstell-Datum: 2011-09-17

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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