Ausschnitt aus
dem Leben
von
Kommissar Montagnard
Ich saß gerade recht gemütlich auf meinem Lehnstuhl und zündete mir genüsslich eine Pfeife an, unter lautem Knistern entfachte der Tabak und kräuselte sich im Schein der Glut, entspannt lehnte ich mich zurück, es war still in meinem Arbeitszimmer, der Duft von Black Cavendish und Virginiatabak betörte meine Sinne.
Als ich mich schon in einer Traumwelt wiederzufinden glaubte, schellte plötzlich das Telefon, ich erwachte jäh und ergriff den Hörer, mit matter Stimme meldete ich meine
Anwesenheit. "Kommissar Montagnard!", rief ein aufgeregtes Wesen in den Äther, "hier spricht Inspektor Da Ville aus Bastonia, wir brauchen sie hier unbedingt, können sie heute noch zum Anwesen der Du Parcs kommen?
Frederic Du Parc ist ihnen ein Begriff?"
"Natürlich", erwiederte ich etwas zerknirscht über diese Unverschämtheit. Mich während meiner Mittagsruhe zu stören empfand ich als anstandslos.
"Ist ihm etwas zugestoßen?", fragte ich gleichgültig. "Er ist tot." Einen Moment lang herrschte Stille, ich hatte noch Mühe meine Gedanken in Worte zu fassen.
"Ist gut, ich mache mich auf den Weg, erwarten sie mich in etwa drei Stunden... sie veranlassen alles nötige?" "Sicher", schnarrte es kühl aus dem Hörer.
Meine Stimme kam mir seltsam fremd vor, verbraucht und heiser nahm ich meine eigenen Worte wahr. Ich beendete das Gespräch, es war mir lästig, diesem Apparat weiterhin
meine Aufmerksamkeit zu widmen. Wie menschliche Wesen damit wirklich kommunizieren konnten war mir schleierhaft.
Ich legte den Hörer zurück und stand langsam auf. Beschwerlich und endlos kam es mir vor.Langsam schritt zur Tür und drehte mich noch einmal um, mein Arbeitszimmer sah unordentlich aus, gleichgültig zuckte ich mit den Schultern und ergriff meinen Mantel.
Als ich aus dem Haus trat, schlugen mir kalte Tropfen ins Gesicht, eisiger Wind blies mir durch das Haar. Ich blickte besorgt dem Himmel entgegen, er war grau, mächtige Wolkenformationen türmten sich über mir auf, Donner erschallte um mich herum. Ich beeilte mich zum Wagen zu gelangen. Als ich das Radio anstellte, hörte ich den Nachrichtensprecher die Unwetterwarnung herunterleiern, emotionslos und kalt empfand ich diese Stimme, die mich erschaudern ließ. Ich schaltete das Radio wieder ab und kramte die alte verblichene Karte aus dem Handschuhfach. Regentropfen prasselten auf das Wagendach. Als ich mich dem Schloss näherte, stand Da Ville bereits am Tor und öffnete mir.
Es regnete immer noch in Strömen, seine Silouette erschien mir geisterhaft, stumm fuhr ich an ihm vorbei.
Schweren Schrittes ging ich auf die riesige Eingangspforte zu und erblickte kunstvoll geschnitzte Figuren, die sich oberhalb des Türbogens um diesen legten. Ich glaubte, bösartige, der Hölle entsprungende Kreaturen auszumachen. Finster blickten sie mich an, ihre weißen Zähne blitzten aus verwittertem Stein auf.
"Kommissar Montagnard!" durchfuhr es mich, ich blickte mich um und sah eine junge Frau vor mir stehen."Das sind sehr gelungende Schnitzereien, wahrlich wertvoll, wie ich meine?" ließ ich mit Kennerblick vernehmen. Die junge Frau, die die Witwe des verstorbenen zu sein schien, blickte mich einen Moment lang fassungslos an- und bemerkte mit matter Stimme; "Mein Mann hat sie einst von einer seiner Reisen mitgebracht, er hatte eine Schwäche für Elfenbein."
"Sie sind Frau Du Parc?" "Freilich." traurige Augen blickten mich an und verschwanden als bald wieder in der Ferne, als suchten sie dort irgendetwas. "Nun, ein wirklich
schrecklicher Vorfall, mein Beileid ihnen.". Sie blickte mich an, Trauer umbettete ihre wunderschönen Augen, sie sagte nichts. Für einen Moment stieg Ekel in mir empor, ich schämte mich meiner geheuchelten Worte. Plötzlich tauchte Inspektor Da Ville in meinem Blickfeld auf, ich war erleichtert dieser unangenehmen Situation entkommen zu sein."Madame Du Parc, lassen sie mich einen Moment mit Inspektor Da Ville allein?" Sie nickte und wandte sich zum Gehen."Ich komme gleich nach" rief ich ihr hinterher. Da Ville reichte mir wortlos die Hand und sprach im Flüsterton; "Eine grauenhafte Angelegenheit, dieser Mord, wirklich schrecklich..." "Da Ville", unterbrach ich ihn. "Erzählen sie erst mal, was hier überhaupt geschehen ist, ich weiß nämlich noch gar nichts" mein Ton hatte etwas belehrendes, eine Tatsache, die meine Zeitgenossen oft vor den Kopf stieß. "Nun, heute morgen, etwa gegen sechs rief die Köchin der Du Parcs in der Polizeiwache Bastonia an und informierte uns darüber, dass Frederic Du Parc tot im großen Saal des Anwesens liege. Sie war völlig verstört, rechnete doch Niemand damit, einen solch grausam zugerichteten Körper in dieser Situation vorzufinden." Seine Augen wirkten verkniffen und starrten unablässig auf den Boden. Ich hob gebieterisch den Kopf und fragte; "Was hat sie denn in dieser Hergottesfrühe auf dem Anwesen verloren?" "Nun, sie kommt jeden Morgen um das Frühstück zu bereiten, die Du Parcs ziehen es vor, ihre Angestellten in der Stadt Quartier beziehen zu lassen." "Das ist selten." sprach ich mit wichtiger Miene. "Erzählen sie weiter". "Nun, als wir eintrafen, stand die Hausherrin, sie heist übrigens Belle, am Tor, sie wirkte völlig abwesend..." "Was haben sie denn nun vorgefunden?" unterbrach ich ihn ungeduldig. "Wir haben den Toten vor dem Kamin liegend, in einer seltsamen
Haltung..." Da Ville schluckte. "In einer Art unterwürfigen...
...bettelnden Verkrampfung, als ob man ihn zu etwas gezwungen hätte...sein Körper war übersäht mit Schnittwunden" Er verzog das Gesicht. Mir war klar, dass Da Ville am Ende war, ich entließ ihn. Erleichtert ging er wieder hinein. Es hatte aufgehört zu regnen, der Mond schob sich aus einem Wolkenfetzen hervor und bedeckte das Anwesen mit seinem fahlen Licht, Sterne blinzelten einzeln aus dem Grau hervor, Stille umhüllte mich. Ich griff in die Innentasche meines Mantels und zog ein
silberfarbenes Etui hervor. Der Deckel klappte leise auf und gab den Blick auf meine sorfältig verstauten Zigarrillos frei. Ich nahm eines heraus, mit prüfendem Blick begutachtete ich das Deckblatt, rollte es zwischen meinen Fingern umher, tat den Zigarrillo zwischen die Lippen und entzündete den Tabak. Leises knistern mischte sich unter die Stille, ein Gefühl der Befriedigung durchfloss mich. Genüsslich tat ich
einen Zug und bemerkte erst jetzt, wie abgelegen das Gut eigentlich lag, die Lichter der Stadt flackerten irgendwo in der Ferne. "Kommissar Montagnard, Madame Du Parc lässt nach ihnen rufen" Ich schaute mich um und erblickte eine ältere Dame, sie trug ein schwarz-weißes Liuvre, sie war etwa um die Fünfzig, sie wirkte recht vornehm. "Ich komme sofort" entgegnete ich ihr. Als ich durch die Tür trat, befand ich mich in einer Art Vorraum, es war dunkel, die Beleuchtung brannte nur spärlich. Nachdem ich eine weitere Tür durchschritt, stockte mir der Atem, noch nie hatte ich solch eine Schönheit in nur einem Raum gesehen, allein schon die schier unfassbaren Ausmaße des Saales ließen meine Blicke unaufhörlich umherwandern. Säulen erstreckten sich ins Unendliche, sie waren geradezu umflossen von goldfarbenen Zöpfen, die im Nichts zu verschwinden schienen. Steinmetze, die große Fähigkeiten ihr Eigen nennen mussten, hatten mit chirurgischer Präzision Kunstwerke erschaffen, die in ihrer Schönheit dem Haar der Walküren glichen. Ich musste mich zwingen, nicht in die Welt der nordischen Mytholgie abzugleiten.
Ich besann mich und schritt auf die Grand Dame des Hauses
zu. "Kommissar Montagnard, wir glaubten sie schon verloren." Ich ignorierte Da Villes Bemerkung und trat vor den riesigen Kamin. Kalte Luft strich an mir vorbei. "Haben sie am Kamin verwertbare Fingerabdrücke sichern können?"
fragte ich Da Ville. Er überlegte kurz, dann sprach er
zögerlich; "Fingerabdrücke haben wir entdeckt, feststellen ließen sich aber nur Spuren der Familie Du Parc und die der Hausangestellten." Kälte stieg vom Marmorfußboden an meinen Beinen empor. "Sonst irgendwelche
Einbruchsspuren? Haben sie den Fußboden schon
überprüft?" Da Ville schaute verstohlen zu Boden. Einen Moment lang herrschte Stille, mir wurde klar, warum Da Ville mich aus meiner Mittagsruhe gerissen hatte.
Ich spürte den bohrenden Blick von Madame Du Parc auf mir ruhen. Ich beugte mich vor und blickte in den Kamin; ein leichtes Säuseln, kaum zu hören-ich ging auf die
Knie und tastete mich forschend ins schwarze Nichts. Rau fühlte sich der Kaminschacht an, Ruß rieselte bei meinen Berührungen herunter, schwache Lichtstrahlen ließen den
Staub gespenstisch aussehen, er kroch mystischem Nebel gleich an meinen Beinen zu Boden. Ich hob meinen Kopf und sah einen Lichtschein am Ende dieses langen Tunnels.
Ich fühlte mich unwohl, meine Hände zitterten in dieser furchtbaren Kälte. Auf einmal blitzte etwas weißes am Rande meines Blickfeldes auf. Ich tastete danach und spürte
eine kleine Unregelmäßigkeit im Mauerwerk, eine Vertiefung, wie mir schien. Ich griff danach und ein weißer Zettel, fein säuberlich zusammengefaltet, kam zum Vorschein. Ich hatte Mühe, meine Überaschung zu verbergen, lag mir doch viel daran, die ohnehin
schon zugespitzte Situation nicht noch weiter zu
verschärfen. Contenance zu bewahren empfand ich als unentbehrlich, schließlich tappte ich immer noch im Dunklen. Ich steckte das Papier ein und blickte aufmerksam in die Runde. Erleichtert stellte ich fest, dass
Niemand meinen Fund bemerkt hatte. Madame Du Parc sprach leise mit Inspektor Da Ville, sie wirkte schon wieder abwesend. Ich entstieg meinem Verlies und gab
mich betont gelassen, als ich Da Ville fragte; "Was denken sie, wir sollten den Tatort wieder freigeben, nicht wahr?" Da Ville schaute mich prüfend an, dann aber hielt wieder
der gewohnte Ausdruck von Hilflosigkeit in seinem Gesicht einzug und er nickte zustimmend. "Madame Du Parc, sie können gleich Morgen Jemanden kommen lassen, der den Saal säubert. Weit entfernt vernahm ich zustimmendes Gemurmel. Eigentlich gab es ja nicht viel zu beseitigen, es waren nur wenige Tropfen Blut vor dem Kamin, nach einem Mord sah es einfach nicht aus. Wenn dem Opfer solch schreckliche Verletzungen zugefügt worden waren, hätte mehr Blut vor dem Kamin sein müssen. Es sei denn, das Opfer wurde schon vor den verstümmelungen umgebracht. Ich beschloss, mir erst einmal den Leichnahm anzusehen.
"Madame Du Parc, es ist schon spät, ich denke sie sollten sich erst einmal schlafen legen, Morgen werden wir dann die Ermittlungen weiterführen." Sie blickte mich mit
einem Ausdruck von Dankbarkeit an und nickte zustimmend. Unablässig musste ich nun an den weißen Zettel denken und beeilte mich, aus dem Saal zu gelangen.
Draußen schlug mir die kalte Abendluft ins Gesicht, dieses Wetter war wirklich zum Verzweifeln. Da Ville trat durch die Tür, sein Blick hatte etwas Fragendes. Bevor er jedoch das Wort an mich richten konnte, fragte ich ihn;"Wo haben sie den Körper hinbringen lassen?" "Die Leiche liegt beim örtlichen Bestattungsunternehmen von Bastonia, soweit ich weiß, wurde sie auch schon untersucht, von einem gewissen Doktor Manile, dem einzigen Arzt hier." antwortete er etwas verstört. Da Ville blickte mich immer noch fragend an, aber seine Angst vor einer Visitation der Leiche ließ ihm nur ein mürrisches, "In Ordnung, wir sehen uns Morgen" entfahren. Er drehte sich um und ging schnellen Schrittes zu seinem
Dienstwagen, stieg ein und fuhr davon.
Jetzt war ich endlich allein, vorsichtshalber stieg ich in den Wagen und kramte ungeduldig das Schriftstück heraus, faltete es auseinander und las:
Das Wesentliche
Worum dreht es sich in diesem Leben?
Ist es das Erleben, das Verschmähen, das unaufhaltlich Strebsame, welches doch nie
zum vollendeten Glücke gereicht?
Zu suchen, zu streben, zu vergeben, dem Leben stets das vermeindlich Unmögliche abzuringen?
Ich sah dich, ein Licht schien die Dunkelheit des Bedeutungslosen für einen Moment
zu erhellen, mit Erstaunen vernahm ich das Wesen eines Engels, welcher dem Gottvater
gleich vom Himmel herabstieg und mich mit so viel Wärme erfüllte, dass ich mich in einer Traumwelt wiederzufinden glaubte. Die hohe Schule der Aroganz gereicht
dem Individuum zur Vollkommenheit, dienlich ist sie in der Tat nur ihm selbst.
Der Schein der Scheinheilgkeit brennt wie tausend Feuer.
Volentam fata ducunt, trahunt nolentem.
-die geläuterte Seele-
Verblüfft legte ich das Blatt beiseite.
Frederic Du Parc hatte eine Geliebte!
Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, das Bild dieses ehrbaren Mannes brach in mir zusammen. Er hatte alles, eine wunderschöne Frau, einen begabten Sohn von drei Jahren, dieses umwerfende Anwesen... Er war Mitglied im Vorstand einer der größten Banken Frankreichs, schon oft hatte ich in Magazinen von ihm gelesen, diesem
sympatischen jungen Mann mit dem unbändigen Willen zum Erfolg, sein Leitspruch blieb mir sogar in Erinnerung;"Quid quid agis, prudenter agas, et respice finem". Und dann setzte er alles für eine flüchtige Affäre aufs Spiel? Krampfhaft versuchte ich meine Gedanken zu ordnen.
Irgendwann drehte ich den Wagenschlüssel um, der Motor stotterte, ließ sich aber wenige Augenblicke später zum laufen bringen. Ich fuhr durch das große Tor, wandte mich noch einmal um, es brannte noch ein Licht im Haus, das Schlafzimmer, wie ich vermutete.
Nach einigen Minuten fühlte ich mich sehr einsam, der Schotter knirschte unter meinen Reifen, geisterhaft tauchten vereinzelt Sträucher und knorrige Bäume im Lichtkegel meiner Scheinwerfer auf.
Als ich durch Bastonia fuhr, kam ich mir vor wie in einer Geisterstadt, Niemand war auf den Straßen zu sehen. Ich fuhr die Hauptstraße entlang, endlos lang zog sich öde der Strang zu meinem Ziel. Links neben mir tauchte ein altes Gebäude auf, in großen Buchstaben konnte ich
"Bestattungshaus Mureau" lesen. Das musste es sein, endlich hatte diese unangenehme Fahrt ein Ende. Ich hielt den Wagen an und lief zum Eingang, ich rüttelte an der Tür, sie war verschlossen. Ich hämmerte eine ganze Weile dagegen, bis mir endlich geöffnet wurde.
Ein kleiner, untersetzter Mann öffnete mir, er hielt eine Kerze in der hand und blickte mich zerknirscht an."Was wollen sie?" fragte er empört. "Mein Name ist Kommissar
Montagnard, ich bin wegen der Leiche Frederic Du Parcs hier" entgegnete ich. Die Züge des alten Mannes
entspannten sich. "Wir haben sie eigentlich erst Morgen
erwartet, aber nun sind sie ja hier, kommen sie herein".
Ich trat durch den feierlich geschmückten Empfangsraum und folgte ihm in die Leichenkammer. In einer Ecke des Raumes lag aufgebahrt und unter einem weißen Laken der Tote. "Wenn sie das Haus verlassen, sagen sie mir bitte Bescheid, man kann nie wissen, bei diesem Gesindel". Die Gestalt entfernte sich. Nun war ich wieder allein, ich verspürte Befriedigung darüber. Ich trat an die Bahre und schlug das Laken zur Seite. Einen Moment lang verschlug es mir den Atem über das, was ich da sah. Die Leiche war über und über mit grässlichen Schnittwunden übersäht, jetzt erkannte ich, warum Da Ville so mitgenommen war. Ich blickte in das Gesicht des Toten, seine Augen waren etwas aus den Höhlen getreten, die Lippen waren geschwollen, sein Gesicht war seltsam verzerrt. Eine stumme Botschaft schien ihm unablässig über die Lippen zu gleiten. Ich schlug das Laken zurück und warf einen Blick auf das Dossier, welches neben dem Toten lag. Ich überflog es und blieb an der Stelle;"...Wahrscheinliche Fixierung des Opfers... Gewalteinwirkung nach Eintritt des Todes...
...Fesselungsspuren an der Cutis am Manus Artus scheinen dies zu belegen...die Verletzung, die aller Wahrscheinlichkeit nach zum Tode des untersuchten Patienten führte, lässt sich auf eine Druckverletzung
im Bereich des Caput eingrenzen, vermutlicher Gebrauch eines stumpfen Gegenstandes dafür ursächlich...
...Schnittverletzungen nach Eintritt des Exedus aufgrund geringer Blutungen wahrscheinlich...
Das reichte mir, ich beschloss, zu gehen. Gedankenverloren verließ ich das Haus, die Bitte des kleinen Mannes ignorierte ich. Ich stieg in den Wagen und schloss die Tür. Angestrengt versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Ich nahm noch einmal das Papier und las das Gedicht laut vor
mich hin. Auf einmal kam es mir einem Geistesblitz gleich in den Sinn, die Quelle dieser schwerfälligen Ausführungen näher zu beleuchten. Es musste hier eine Bibliothek geben, einen Versuch war es auf alle Fälle wert. Ich fuhr eine ganze Weile durch Bastonia, bis ich fündig wurde. Das verfallene Gebäude stand ganz unscheinbar in der Dunkelheit, Licht brannte zu meiner Erleichterung aber noch. Ich trat ein, sofort vernahm ich den Geruch von Papier, ein mir sehr vertrauter Duft. Eine ältere Dame kam auf mich zu, sie wirkte sehr lebendig auf mich.
Ihre Augen musterten mich neugierig."Sie wünschen? fragte sie völlig unbefangen, zur Störung dieser späten Stunde keine Erklärung verlangend."Guten Abend, Kommissar Montagnard, ich ermittle wegen des Vorfalls...". "Eine schreckliche Sache" unterbrach sie mich.
"Nun ja, deswegen bin ich hier, können sie damit etwas anfangen?" Ich zeigte ihr das Blatt. Sie betrachtete es eine Weile aufmerksam, auf ihrer Stirn zogen sich Falten zusammen. "Scheint etwas philosophisches zu sein, warten sie hier." Sie verschwand einige Minuten und kehrte mit einem Buch zurück. "Philosophische Schriften und Gedichte, Band eins, ziemlich schwermütiger Kram, wenn sie mich fragen." "Haben sie dieses Buch innerhalb der letzten Zeit ausgeliehen?" Ich blickte sie erwartungsvoll an. "Da muss ich nachschauen" Sie entschwand wieder hinter meterhohen Regalen. Diesmal für eine halbe Ewigkeit. Endlich tauchte sie wie aus dem Nichts wieder auf. "Wir haben das Buch innerhalb des letzten Monats nur einmal ausgeliehen, an eine gewisse Marie Luisielle, sie wohnt in Calais, Rue Bleriot 7, etwa 30 Kilometer von hier." "30 Kilometer, für ein Buch?" bemerkte ich abfällig um meine
Erregung zu verbergen. "Sie haben dort keine eigene Bibliothek, ein ziemlich kleines Nest."
"Ich danke ihnen" antwortete ich, ohne eine Antwort abzuwarten eilte ich nach draußen. Schnellen Schrittes näherte ich mich dem Wagen. Ich warf den Motor an und
brauste los. Während ich durch die Nacht raste fragte ich mich, warum es mir die Täterin so einfach gemacht hatte. Wollte sie etwa gefunden werden? Hatte sie sich
selbst ein Ultimatum gestellt?
Die Fahrt ging ungewöhnlich schnell vorüber und ich musste nicht lange suchen, bis ich die Adresse fand. Ich bog in die Rue Bleriot ein und stellte den Wagen ab.
Leise schloss ich die Tür und ging die Straße herunter. Es war mittlerweile schon spät geworden, eine schöne Nacht wie ich bemerkte. Das Unwetter war längst weitergezogen.
Ich betrachtete die Sterne, versuchte Konstellationen auszumachen und fragte mich, warum ich eigentlich hier war und nicht in einem geborgenen Heim voller Wärme,
mit einer umsorgenden Ehefrau und drolligen Kindern, die sich wie ihre Mutter nach dem geliebten Vater sehnen. Wäre es nicht viel schöner, diese Nacht in trauter
Zweisamkeit zu verbringen, anstatt gleich einer Mörderin gegenüberzutreten? Ich konnte mir auf diese Frage keine Antwort geben, ratlos trottete ich zum Haus Nummer 7. Es war ein kleines Haus, das Gemütlichkeit ausstrahlte, der Garten wirkte auf mich sehr gepflegt, im fahlen Mondlich konnte ich Rosen ausmachen, ihre Schönheit ließ mich einen Augenblick verharren,ich betrachtete siesehnsüchtig.
Plötzlich tauchte ein Schatten in meinem Blickfeld auf und verschwand alsgleich wieder. Ich blickte zu den Fenstern, konnte aber nichts ausmachen.
Hatten mich meine Sinne getäuscht? Verlor ich langsam den Verstand? Ich starrte auf die Fenster- auf einmal zuckte ein greller Lichtblitz durch die Nacht.
Sekundenbruchteile später gefolgt von furchtbar lautem Donner. Ich blieb einen Moment lang wie angewurzelt stehen und wagte es nicht, mich von der Stelle zu rühren. Kalt spürte ich den Stahl meiner Waffe an mir, krampfhaft umklammerte ich sie mit meiner rechten Hand, ließ sie dann aber sinken. Schlagartig wurde mir bewusst, dass der Schuss nicht mir gegolten hatte. Ich griff in die Innentasche meines Mantels und holte mein silberfarbenes Etui heraus, nahm einen Zigarrillo zwischen Daumen und Zeigefinger, rollte ihn etwas umher und zündete ihn schließlich an. Ich tat einen Zug und warf einen Blick auf das Fenster, das eben noch auf so grausame Art, für die Winzigkeit eines Augenblicks die Sillouette eines sterbenden Menschens darbot. Ich sog den Rauch so tief wie ich konnte in meine Lungen und genoss die Stille.
Die Antwort auf meine Frage hatte ich gefunden.
dem Leben
von
Kommissar Montagnard
Ich saß gerade recht gemütlich auf meinem Lehnstuhl und zündete mir genüsslich eine Pfeife an, unter lautem Knistern entfachte der Tabak und kräuselte sich im Schein der Glut, entspannt lehnte ich mich zurück, es war still in meinem Arbeitszimmer, der Duft von Black Cavendish und Virginiatabak betörte meine Sinne.
Als ich mich schon in einer Traumwelt wiederzufinden glaubte, schellte plötzlich das Telefon, ich erwachte jäh und ergriff den Hörer, mit matter Stimme meldete ich meine
Anwesenheit. "Kommissar Montagnard!", rief ein aufgeregtes Wesen in den Äther, "hier spricht Inspektor Da Ville aus Bastonia, wir brauchen sie hier unbedingt, können sie heute noch zum Anwesen der Du Parcs kommen?
Frederic Du Parc ist ihnen ein Begriff?"
"Natürlich", erwiederte ich etwas zerknirscht über diese Unverschämtheit. Mich während meiner Mittagsruhe zu stören empfand ich als anstandslos.
"Ist ihm etwas zugestoßen?", fragte ich gleichgültig. "Er ist tot." Einen Moment lang herrschte Stille, ich hatte noch Mühe meine Gedanken in Worte zu fassen.
"Ist gut, ich mache mich auf den Weg, erwarten sie mich in etwa drei Stunden... sie veranlassen alles nötige?" "Sicher", schnarrte es kühl aus dem Hörer.
Meine Stimme kam mir seltsam fremd vor, verbraucht und heiser nahm ich meine eigenen Worte wahr. Ich beendete das Gespräch, es war mir lästig, diesem Apparat weiterhin
meine Aufmerksamkeit zu widmen. Wie menschliche Wesen damit wirklich kommunizieren konnten war mir schleierhaft.
Ich legte den Hörer zurück und stand langsam auf. Beschwerlich und endlos kam es mir vor.Langsam schritt zur Tür und drehte mich noch einmal um, mein Arbeitszimmer sah unordentlich aus, gleichgültig zuckte ich mit den Schultern und ergriff meinen Mantel.
Als ich aus dem Haus trat, schlugen mir kalte Tropfen ins Gesicht, eisiger Wind blies mir durch das Haar. Ich blickte besorgt dem Himmel entgegen, er war grau, mächtige Wolkenformationen türmten sich über mir auf, Donner erschallte um mich herum. Ich beeilte mich zum Wagen zu gelangen. Als ich das Radio anstellte, hörte ich den Nachrichtensprecher die Unwetterwarnung herunterleiern, emotionslos und kalt empfand ich diese Stimme, die mich erschaudern ließ. Ich schaltete das Radio wieder ab und kramte die alte verblichene Karte aus dem Handschuhfach. Regentropfen prasselten auf das Wagendach. Als ich mich dem Schloss näherte, stand Da Ville bereits am Tor und öffnete mir.
Es regnete immer noch in Strömen, seine Silouette erschien mir geisterhaft, stumm fuhr ich an ihm vorbei.
Schweren Schrittes ging ich auf die riesige Eingangspforte zu und erblickte kunstvoll geschnitzte Figuren, die sich oberhalb des Türbogens um diesen legten. Ich glaubte, bösartige, der Hölle entsprungende Kreaturen auszumachen. Finster blickten sie mich an, ihre weißen Zähne blitzten aus verwittertem Stein auf.
"Kommissar Montagnard!" durchfuhr es mich, ich blickte mich um und sah eine junge Frau vor mir stehen."Das sind sehr gelungende Schnitzereien, wahrlich wertvoll, wie ich meine?" ließ ich mit Kennerblick vernehmen. Die junge Frau, die die Witwe des verstorbenen zu sein schien, blickte mich einen Moment lang fassungslos an- und bemerkte mit matter Stimme; "Mein Mann hat sie einst von einer seiner Reisen mitgebracht, er hatte eine Schwäche für Elfenbein."
"Sie sind Frau Du Parc?" "Freilich." traurige Augen blickten mich an und verschwanden als bald wieder in der Ferne, als suchten sie dort irgendetwas. "Nun, ein wirklich
schrecklicher Vorfall, mein Beileid ihnen.". Sie blickte mich an, Trauer umbettete ihre wunderschönen Augen, sie sagte nichts. Für einen Moment stieg Ekel in mir empor, ich schämte mich meiner geheuchelten Worte. Plötzlich tauchte Inspektor Da Ville in meinem Blickfeld auf, ich war erleichtert dieser unangenehmen Situation entkommen zu sein."Madame Du Parc, lassen sie mich einen Moment mit Inspektor Da Ville allein?" Sie nickte und wandte sich zum Gehen."Ich komme gleich nach" rief ich ihr hinterher. Da Ville reichte mir wortlos die Hand und sprach im Flüsterton; "Eine grauenhafte Angelegenheit, dieser Mord, wirklich schrecklich..." "Da Ville", unterbrach ich ihn. "Erzählen sie erst mal, was hier überhaupt geschehen ist, ich weiß nämlich noch gar nichts" mein Ton hatte etwas belehrendes, eine Tatsache, die meine Zeitgenossen oft vor den Kopf stieß. "Nun, heute morgen, etwa gegen sechs rief die Köchin der Du Parcs in der Polizeiwache Bastonia an und informierte uns darüber, dass Frederic Du Parc tot im großen Saal des Anwesens liege. Sie war völlig verstört, rechnete doch Niemand damit, einen solch grausam zugerichteten Körper in dieser Situation vorzufinden." Seine Augen wirkten verkniffen und starrten unablässig auf den Boden. Ich hob gebieterisch den Kopf und fragte; "Was hat sie denn in dieser Hergottesfrühe auf dem Anwesen verloren?" "Nun, sie kommt jeden Morgen um das Frühstück zu bereiten, die Du Parcs ziehen es vor, ihre Angestellten in der Stadt Quartier beziehen zu lassen." "Das ist selten." sprach ich mit wichtiger Miene. "Erzählen sie weiter". "Nun, als wir eintrafen, stand die Hausherrin, sie heist übrigens Belle, am Tor, sie wirkte völlig abwesend..." "Was haben sie denn nun vorgefunden?" unterbrach ich ihn ungeduldig. "Wir haben den Toten vor dem Kamin liegend, in einer seltsamen
Haltung..." Da Ville schluckte. "In einer Art unterwürfigen...
...bettelnden Verkrampfung, als ob man ihn zu etwas gezwungen hätte...sein Körper war übersäht mit Schnittwunden" Er verzog das Gesicht. Mir war klar, dass Da Ville am Ende war, ich entließ ihn. Erleichtert ging er wieder hinein. Es hatte aufgehört zu regnen, der Mond schob sich aus einem Wolkenfetzen hervor und bedeckte das Anwesen mit seinem fahlen Licht, Sterne blinzelten einzeln aus dem Grau hervor, Stille umhüllte mich. Ich griff in die Innentasche meines Mantels und zog ein
silberfarbenes Etui hervor. Der Deckel klappte leise auf und gab den Blick auf meine sorfältig verstauten Zigarrillos frei. Ich nahm eines heraus, mit prüfendem Blick begutachtete ich das Deckblatt, rollte es zwischen meinen Fingern umher, tat den Zigarrillo zwischen die Lippen und entzündete den Tabak. Leises knistern mischte sich unter die Stille, ein Gefühl der Befriedigung durchfloss mich. Genüsslich tat ich
einen Zug und bemerkte erst jetzt, wie abgelegen das Gut eigentlich lag, die Lichter der Stadt flackerten irgendwo in der Ferne. "Kommissar Montagnard, Madame Du Parc lässt nach ihnen rufen" Ich schaute mich um und erblickte eine ältere Dame, sie trug ein schwarz-weißes Liuvre, sie war etwa um die Fünfzig, sie wirkte recht vornehm. "Ich komme sofort" entgegnete ich ihr. Als ich durch die Tür trat, befand ich mich in einer Art Vorraum, es war dunkel, die Beleuchtung brannte nur spärlich. Nachdem ich eine weitere Tür durchschritt, stockte mir der Atem, noch nie hatte ich solch eine Schönheit in nur einem Raum gesehen, allein schon die schier unfassbaren Ausmaße des Saales ließen meine Blicke unaufhörlich umherwandern. Säulen erstreckten sich ins Unendliche, sie waren geradezu umflossen von goldfarbenen Zöpfen, die im Nichts zu verschwinden schienen. Steinmetze, die große Fähigkeiten ihr Eigen nennen mussten, hatten mit chirurgischer Präzision Kunstwerke erschaffen, die in ihrer Schönheit dem Haar der Walküren glichen. Ich musste mich zwingen, nicht in die Welt der nordischen Mytholgie abzugleiten.
Ich besann mich und schritt auf die Grand Dame des Hauses
zu. "Kommissar Montagnard, wir glaubten sie schon verloren." Ich ignorierte Da Villes Bemerkung und trat vor den riesigen Kamin. Kalte Luft strich an mir vorbei. "Haben sie am Kamin verwertbare Fingerabdrücke sichern können?"
fragte ich Da Ville. Er überlegte kurz, dann sprach er
zögerlich; "Fingerabdrücke haben wir entdeckt, feststellen ließen sich aber nur Spuren der Familie Du Parc und die der Hausangestellten." Kälte stieg vom Marmorfußboden an meinen Beinen empor. "Sonst irgendwelche
Einbruchsspuren? Haben sie den Fußboden schon
überprüft?" Da Ville schaute verstohlen zu Boden. Einen Moment lang herrschte Stille, mir wurde klar, warum Da Ville mich aus meiner Mittagsruhe gerissen hatte.
Ich spürte den bohrenden Blick von Madame Du Parc auf mir ruhen. Ich beugte mich vor und blickte in den Kamin; ein leichtes Säuseln, kaum zu hören-ich ging auf die
Knie und tastete mich forschend ins schwarze Nichts. Rau fühlte sich der Kaminschacht an, Ruß rieselte bei meinen Berührungen herunter, schwache Lichtstrahlen ließen den
Staub gespenstisch aussehen, er kroch mystischem Nebel gleich an meinen Beinen zu Boden. Ich hob meinen Kopf und sah einen Lichtschein am Ende dieses langen Tunnels.
Ich fühlte mich unwohl, meine Hände zitterten in dieser furchtbaren Kälte. Auf einmal blitzte etwas weißes am Rande meines Blickfeldes auf. Ich tastete danach und spürte
eine kleine Unregelmäßigkeit im Mauerwerk, eine Vertiefung, wie mir schien. Ich griff danach und ein weißer Zettel, fein säuberlich zusammengefaltet, kam zum Vorschein. Ich hatte Mühe, meine Überaschung zu verbergen, lag mir doch viel daran, die ohnehin
schon zugespitzte Situation nicht noch weiter zu
verschärfen. Contenance zu bewahren empfand ich als unentbehrlich, schließlich tappte ich immer noch im Dunklen. Ich steckte das Papier ein und blickte aufmerksam in die Runde. Erleichtert stellte ich fest, dass
Niemand meinen Fund bemerkt hatte. Madame Du Parc sprach leise mit Inspektor Da Ville, sie wirkte schon wieder abwesend. Ich entstieg meinem Verlies und gab
mich betont gelassen, als ich Da Ville fragte; "Was denken sie, wir sollten den Tatort wieder freigeben, nicht wahr?" Da Ville schaute mich prüfend an, dann aber hielt wieder
der gewohnte Ausdruck von Hilflosigkeit in seinem Gesicht einzug und er nickte zustimmend. "Madame Du Parc, sie können gleich Morgen Jemanden kommen lassen, der den Saal säubert. Weit entfernt vernahm ich zustimmendes Gemurmel. Eigentlich gab es ja nicht viel zu beseitigen, es waren nur wenige Tropfen Blut vor dem Kamin, nach einem Mord sah es einfach nicht aus. Wenn dem Opfer solch schreckliche Verletzungen zugefügt worden waren, hätte mehr Blut vor dem Kamin sein müssen. Es sei denn, das Opfer wurde schon vor den verstümmelungen umgebracht. Ich beschloss, mir erst einmal den Leichnahm anzusehen.
"Madame Du Parc, es ist schon spät, ich denke sie sollten sich erst einmal schlafen legen, Morgen werden wir dann die Ermittlungen weiterführen." Sie blickte mich mit
einem Ausdruck von Dankbarkeit an und nickte zustimmend. Unablässig musste ich nun an den weißen Zettel denken und beeilte mich, aus dem Saal zu gelangen.
Draußen schlug mir die kalte Abendluft ins Gesicht, dieses Wetter war wirklich zum Verzweifeln. Da Ville trat durch die Tür, sein Blick hatte etwas Fragendes. Bevor er jedoch das Wort an mich richten konnte, fragte ich ihn;"Wo haben sie den Körper hinbringen lassen?" "Die Leiche liegt beim örtlichen Bestattungsunternehmen von Bastonia, soweit ich weiß, wurde sie auch schon untersucht, von einem gewissen Doktor Manile, dem einzigen Arzt hier." antwortete er etwas verstört. Da Ville blickte mich immer noch fragend an, aber seine Angst vor einer Visitation der Leiche ließ ihm nur ein mürrisches, "In Ordnung, wir sehen uns Morgen" entfahren. Er drehte sich um und ging schnellen Schrittes zu seinem
Dienstwagen, stieg ein und fuhr davon.
Jetzt war ich endlich allein, vorsichtshalber stieg ich in den Wagen und kramte ungeduldig das Schriftstück heraus, faltete es auseinander und las:
Das Wesentliche
Worum dreht es sich in diesem Leben?
Ist es das Erleben, das Verschmähen, das unaufhaltlich Strebsame, welches doch nie
zum vollendeten Glücke gereicht?
Zu suchen, zu streben, zu vergeben, dem Leben stets das vermeindlich Unmögliche abzuringen?
Ich sah dich, ein Licht schien die Dunkelheit des Bedeutungslosen für einen Moment
zu erhellen, mit Erstaunen vernahm ich das Wesen eines Engels, welcher dem Gottvater
gleich vom Himmel herabstieg und mich mit so viel Wärme erfüllte, dass ich mich in einer Traumwelt wiederzufinden glaubte. Die hohe Schule der Aroganz gereicht
dem Individuum zur Vollkommenheit, dienlich ist sie in der Tat nur ihm selbst.
Der Schein der Scheinheilgkeit brennt wie tausend Feuer.
Volentam fata ducunt, trahunt nolentem.
-die geläuterte Seele-
Verblüfft legte ich das Blatt beiseite.
Frederic Du Parc hatte eine Geliebte!
Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, das Bild dieses ehrbaren Mannes brach in mir zusammen. Er hatte alles, eine wunderschöne Frau, einen begabten Sohn von drei Jahren, dieses umwerfende Anwesen... Er war Mitglied im Vorstand einer der größten Banken Frankreichs, schon oft hatte ich in Magazinen von ihm gelesen, diesem
sympatischen jungen Mann mit dem unbändigen Willen zum Erfolg, sein Leitspruch blieb mir sogar in Erinnerung;"Quid quid agis, prudenter agas, et respice finem". Und dann setzte er alles für eine flüchtige Affäre aufs Spiel? Krampfhaft versuchte ich meine Gedanken zu ordnen.
Irgendwann drehte ich den Wagenschlüssel um, der Motor stotterte, ließ sich aber wenige Augenblicke später zum laufen bringen. Ich fuhr durch das große Tor, wandte mich noch einmal um, es brannte noch ein Licht im Haus, das Schlafzimmer, wie ich vermutete.
Nach einigen Minuten fühlte ich mich sehr einsam, der Schotter knirschte unter meinen Reifen, geisterhaft tauchten vereinzelt Sträucher und knorrige Bäume im Lichtkegel meiner Scheinwerfer auf.
Als ich durch Bastonia fuhr, kam ich mir vor wie in einer Geisterstadt, Niemand war auf den Straßen zu sehen. Ich fuhr die Hauptstraße entlang, endlos lang zog sich öde der Strang zu meinem Ziel. Links neben mir tauchte ein altes Gebäude auf, in großen Buchstaben konnte ich
"Bestattungshaus Mureau" lesen. Das musste es sein, endlich hatte diese unangenehme Fahrt ein Ende. Ich hielt den Wagen an und lief zum Eingang, ich rüttelte an der Tür, sie war verschlossen. Ich hämmerte eine ganze Weile dagegen, bis mir endlich geöffnet wurde.
Ein kleiner, untersetzter Mann öffnete mir, er hielt eine Kerze in der hand und blickte mich zerknirscht an."Was wollen sie?" fragte er empört. "Mein Name ist Kommissar
Montagnard, ich bin wegen der Leiche Frederic Du Parcs hier" entgegnete ich. Die Züge des alten Mannes
entspannten sich. "Wir haben sie eigentlich erst Morgen
erwartet, aber nun sind sie ja hier, kommen sie herein".
Ich trat durch den feierlich geschmückten Empfangsraum und folgte ihm in die Leichenkammer. In einer Ecke des Raumes lag aufgebahrt und unter einem weißen Laken der Tote. "Wenn sie das Haus verlassen, sagen sie mir bitte Bescheid, man kann nie wissen, bei diesem Gesindel". Die Gestalt entfernte sich. Nun war ich wieder allein, ich verspürte Befriedigung darüber. Ich trat an die Bahre und schlug das Laken zur Seite. Einen Moment lang verschlug es mir den Atem über das, was ich da sah. Die Leiche war über und über mit grässlichen Schnittwunden übersäht, jetzt erkannte ich, warum Da Ville so mitgenommen war. Ich blickte in das Gesicht des Toten, seine Augen waren etwas aus den Höhlen getreten, die Lippen waren geschwollen, sein Gesicht war seltsam verzerrt. Eine stumme Botschaft schien ihm unablässig über die Lippen zu gleiten. Ich schlug das Laken zurück und warf einen Blick auf das Dossier, welches neben dem Toten lag. Ich überflog es und blieb an der Stelle;"...Wahrscheinliche Fixierung des Opfers... Gewalteinwirkung nach Eintritt des Todes...
...Fesselungsspuren an der Cutis am Manus Artus scheinen dies zu belegen...die Verletzung, die aller Wahrscheinlichkeit nach zum Tode des untersuchten Patienten führte, lässt sich auf eine Druckverletzung
im Bereich des Caput eingrenzen, vermutlicher Gebrauch eines stumpfen Gegenstandes dafür ursächlich...
...Schnittverletzungen nach Eintritt des Exedus aufgrund geringer Blutungen wahrscheinlich...
Das reichte mir, ich beschloss, zu gehen. Gedankenverloren verließ ich das Haus, die Bitte des kleinen Mannes ignorierte ich. Ich stieg in den Wagen und schloss die Tür. Angestrengt versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Ich nahm noch einmal das Papier und las das Gedicht laut vor
mich hin. Auf einmal kam es mir einem Geistesblitz gleich in den Sinn, die Quelle dieser schwerfälligen Ausführungen näher zu beleuchten. Es musste hier eine Bibliothek geben, einen Versuch war es auf alle Fälle wert. Ich fuhr eine ganze Weile durch Bastonia, bis ich fündig wurde. Das verfallene Gebäude stand ganz unscheinbar in der Dunkelheit, Licht brannte zu meiner Erleichterung aber noch. Ich trat ein, sofort vernahm ich den Geruch von Papier, ein mir sehr vertrauter Duft. Eine ältere Dame kam auf mich zu, sie wirkte sehr lebendig auf mich.
Ihre Augen musterten mich neugierig."Sie wünschen? fragte sie völlig unbefangen, zur Störung dieser späten Stunde keine Erklärung verlangend."Guten Abend, Kommissar Montagnard, ich ermittle wegen des Vorfalls...". "Eine schreckliche Sache" unterbrach sie mich.
"Nun ja, deswegen bin ich hier, können sie damit etwas anfangen?" Ich zeigte ihr das Blatt. Sie betrachtete es eine Weile aufmerksam, auf ihrer Stirn zogen sich Falten zusammen. "Scheint etwas philosophisches zu sein, warten sie hier." Sie verschwand einige Minuten und kehrte mit einem Buch zurück. "Philosophische Schriften und Gedichte, Band eins, ziemlich schwermütiger Kram, wenn sie mich fragen." "Haben sie dieses Buch innerhalb der letzten Zeit ausgeliehen?" Ich blickte sie erwartungsvoll an. "Da muss ich nachschauen" Sie entschwand wieder hinter meterhohen Regalen. Diesmal für eine halbe Ewigkeit. Endlich tauchte sie wie aus dem Nichts wieder auf. "Wir haben das Buch innerhalb des letzten Monats nur einmal ausgeliehen, an eine gewisse Marie Luisielle, sie wohnt in Calais, Rue Bleriot 7, etwa 30 Kilometer von hier." "30 Kilometer, für ein Buch?" bemerkte ich abfällig um meine
Erregung zu verbergen. "Sie haben dort keine eigene Bibliothek, ein ziemlich kleines Nest."
"Ich danke ihnen" antwortete ich, ohne eine Antwort abzuwarten eilte ich nach draußen. Schnellen Schrittes näherte ich mich dem Wagen. Ich warf den Motor an und
brauste los. Während ich durch die Nacht raste fragte ich mich, warum es mir die Täterin so einfach gemacht hatte. Wollte sie etwa gefunden werden? Hatte sie sich
selbst ein Ultimatum gestellt?
Die Fahrt ging ungewöhnlich schnell vorüber und ich musste nicht lange suchen, bis ich die Adresse fand. Ich bog in die Rue Bleriot ein und stellte den Wagen ab.
Leise schloss ich die Tür und ging die Straße herunter. Es war mittlerweile schon spät geworden, eine schöne Nacht wie ich bemerkte. Das Unwetter war längst weitergezogen.
Ich betrachtete die Sterne, versuchte Konstellationen auszumachen und fragte mich, warum ich eigentlich hier war und nicht in einem geborgenen Heim voller Wärme,
mit einer umsorgenden Ehefrau und drolligen Kindern, die sich wie ihre Mutter nach dem geliebten Vater sehnen. Wäre es nicht viel schöner, diese Nacht in trauter
Zweisamkeit zu verbringen, anstatt gleich einer Mörderin gegenüberzutreten? Ich konnte mir auf diese Frage keine Antwort geben, ratlos trottete ich zum Haus Nummer 7. Es war ein kleines Haus, das Gemütlichkeit ausstrahlte, der Garten wirkte auf mich sehr gepflegt, im fahlen Mondlich konnte ich Rosen ausmachen, ihre Schönheit ließ mich einen Augenblick verharren,ich betrachtete siesehnsüchtig.
Plötzlich tauchte ein Schatten in meinem Blickfeld auf und verschwand alsgleich wieder. Ich blickte zu den Fenstern, konnte aber nichts ausmachen.
Hatten mich meine Sinne getäuscht? Verlor ich langsam den Verstand? Ich starrte auf die Fenster- auf einmal zuckte ein greller Lichtblitz durch die Nacht.
Sekundenbruchteile später gefolgt von furchtbar lautem Donner. Ich blieb einen Moment lang wie angewurzelt stehen und wagte es nicht, mich von der Stelle zu rühren. Kalt spürte ich den Stahl meiner Waffe an mir, krampfhaft umklammerte ich sie mit meiner rechten Hand, ließ sie dann aber sinken. Schlagartig wurde mir bewusst, dass der Schuss nicht mir gegolten hatte. Ich griff in die Innentasche meines Mantels und holte mein silberfarbenes Etui heraus, nahm einen Zigarrillo zwischen Daumen und Zeigefinger, rollte ihn etwas umher und zündete ihn schließlich an. Ich tat einen Zug und warf einen Blick auf das Fenster, das eben noch auf so grausame Art, für die Winzigkeit eines Augenblicks die Sillouette eines sterbenden Menschens darbot. Ich sog den Rauch so tief wie ich konnte in meine Lungen und genoss die Stille.
Die Antwort auf meine Frage hatte ich gefunden.