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tekkx - 09.12.2004 um 20:50 Uhr

Diese Nachricht wurde von tekkx um 20:53:30 am 09.12.2004 editiert

Aus dem Tagebuch eines Geköpften, in naher Zukunft:

03.08.2009:

Reisse ich die Masken meiner Alltags-Mitmenschen herunter, und seien es noch so intelligent oder schön anzuschauende Personen (was sind sie wirklich?), sehe ich eine abartige Verteidigungsmaschinerie, die schon wie eine Art Auto-Immunreaktion gesteuert wird, gegen Invasoren wie mich. Hinter der Maske sehe ich die gleiche Maske noch einmal. Früher hatten sie noch Meinungen, auch wenn sie falsch waren, oder anders ausgedrückt: subjektiv. Jetzt gibt es keine Meinungen mehr, keine Standpunkte. Zeitlose Dogmen, ethisch und moralisch – verschwunden, gelöscht.

5 Minuten später:

Synthetische Gefühle sind wie die echten: Gestellt.
Im Fernsehen weinen Mütter für 100 €uro Gage etwas von Vergewaltigung, damit der Showmaster, ob Richter, Therapeut oder Schauspieler einen Gag bis zum nächsten Werbebock hat. Sicherlich gibt es, sagen wie mal, 14.000 Menschen, die “fantastisch“ sind: Moralisch, intelligent, schön. Aber davon verstellt sich die Hälfte, die andere versteckt sich zuhause – keine Chance, sie zu treffen. Ich habe niemanden mehr, meine Mitmenschen haben niemanden mehr.

Zwischen den zerschlagenen Fensterscheiben zieht nur noch der Wind die Vorhänge beiseite. Seit Jahren unbenutzte rostige Karussells und Schaukeln, werden erneuert. Die Hundekothaufen und Zigaretten von vorgestern – in den Sandburgen von heute. Alles beiseite geschafft, auch die schon seit Jahren inaktive Wasserpumpe, alles abgerissen. Neue Spielplätze für neue Kinder, jene neuen Modelle, welche sich auf die Lehne setzen, und die Schuhe auf die Sitzfläche ablegen. Wieder voll mit Zigarettenkippen, vollgeschmiert mit falsch geschriebenen englischen Wörtern.

Wenn alles kompakt ist, zusammengefasst, erklärt, ist die einzig mögliche Interaktion mit der Menschenwelt: Die Zerstörung.
Das ist das einzige Instrument, welches eine Veränderung ermöglicht.

Nachts, Samstag:

Herumgeschreie und –Geprolle im Bus. Mittags: Cannabis und SMS auf dem Pausenhof, Knappe Bauchkleider, mir-scheissegal-auf-dem-kalten-Stein-Sitzen; vor der Tanke oder dem Penny Markt, auf dem Bahnhof, in der Glotze nur Kleben von Bonbons auf Lampen – als Style für das Heim, Jahrzehnte – zusammengefasst in Werbeshows, der Lebenssinn – jeder Tag ein anderer, jeden Tag ein anderes Leben – obwohl auf ähnliche Art verschieden, Zusammenfassungen von Zusammenfassungen – im 40.000-Farben-Display betrachtend, die Analysen und das Begreifen – verachtend.

Nachwort

Die Neugier ist, was uns antreibt, das Vergessen ist, was dieses... – damit es sich reimt, damit man neugierig bleibt. Kein Vorwurf – nur ein Nachruf. Kein Pathos, nur Beobachtung. Eine Modeshow für die Sprache, ein Laufsteg – wie ein Förderband auf die Müllkippe. Aber das ist was wir alle produzieren: Müll. Wir sind Produzenten, schreiben das Drehbuch und bestimmen den Informationsmüll – für die Informationsbombe, die jeden Tag, alle zwei Sekunden explodiert. Das muss man zusammenfassen, und das machen wir auch. Ob als Formel für die Virtualität im Schulfach Mathematik, oder in den 30 Sekunden der Fünf Minuten-Nachrichten. Musik, die auf einer Spur eines Musikprogramms gemacht wurde, dazu langgezogene AEIOU-Laute als Melodie und geklaute Dynamik aus anderen Liedern – der Nummer 1-Hit, mit 5000 verkauften Exemplaren, den Rest gibt’s als Klingelton, Auswendig gelernte Fragen für auswendig gelernte Antworten, in der Schule (bald den ganzen Tag), Kreativität verboten, und in der Universität. Mütter, die wie ihre minderjährigen Töchter aussehen möchten, minderjährige Töchter, die wie ihrer Mütter aussehen möchten. Controlling anstatt Producing, Download von Allem für Alle.






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