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--- Marta Hillers – Eine Frau in Berlin

Kenon - 13.05.2023 um 08:29 Uhr

In ihrem autobiografischen Werk, das zu ihren Lebzeiten nur anonym erschien, beschrieb Marta Hillers (1911–2001) die Zeit vom 20. April bis 22. Juni 1945 in Berlin – jene düsteren Tage vor und nach dem Fall Berlins an die sogenannte “Rote Armee”. Wie haben die in Kellern hausenden Zivilisten den Untergang Berlins erlebt, wie haben sich die sowjetischen Sieger ihnen gegenüber verhalten? Es ist ja allseits bekannt: Sie haben geplündert und vergewaltigt, während sie die Grundsteine für die Errichtung ihrer eigenen Diktatur auf deutschem Boden legten; in der DDR durfte man darüber später nicht einmal reden, wenn man es denn wollte.

In den USA und Großbritannien wurde das Buch bis Ende der 1950er Jahre ein Bestseller, der sich mehr als eine halbe Million Mal verkaufte, die westdeutsche Erstauflage, welche 1959 erschien, wurde jedoch von der Öffentlichkeit heftig abgelehnt. Man wollte sich nicht mehr an die erlittenen Qualen erinnern und am besten so tun, als wäre alles nie geschehen.

Erst 2003, nach dem Tod von Hillers, wurde das Buch in deutscher Sprache neu aufgelegt. Aus Kostengründen lese ich es auf Englisch, in einer ausgezeichneten Übersetzung (das englische Buch hat mich 3 EUR gekostet, das deutsche kostet 22 EUR).

Menschen wie Marta Hillers müssen wir sehr dankbar sein. Sie überliefern Geschichte über große gesellschaftliche Widerstände hinweg, auch wenn sie sehr abgründig ist. Damit werden sie Kämpfer für die Wahrheit und können uns dabei helfen, die Vergangenheit besser zu verstehen. Nicht wenige unserer Großmütter haben ähnliches erlitten und es für den Rest ihres Lebens schweigend mit sich herumgetragen. Hillers gibt ihnen als Mittlerin die Sprache zurück.

Einige wenige Eindrücke aus dem Buch:

Die Menschen sind den “Befreiern” ausgeliefert, ein Mädchen aus Königsberg, das bereits in Ostpreußen vergewaltigt wurde, denkt sogar daran, sich umzubringen:

Zitat:

The refugee girl from Königsberg throws herself across the table, crying out: ‘I can’t take any more! I’m going to end it all!’ She’d been through it several times in the night, up under the roof, where she had fled an entire troop of pursuers. Her hair in tangles, covering her face, she refuses to eat or drink.

Hillers fragt sich, wie das alles einmal enden soll:

Zitat:

What will become of us? I feel so dirty, I don’t want to touch anything, least of all my own skin. What I’d give for a bath or at least some decent soap and plenty of water. That’s it – enough of these fantasies.

– und beschreibt, wie sich der Geist vom Körper trennt, um das Leid ertragen zu können; wer ähnliches erlebt hat, weiß, wovon diese Frau hier schreibt, und wer nicht, wird es vielleicht erahnen:

Zitat:

It was as if I were flat on my bed and seeing myself lying there when a luminous white being rose from my body, a kind of angel, but without wings, that floated high into the air. Even now as I’m writing this I can still feel that sense of rising up and floating.




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