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-- Prosa
--- Vom Fatum und vom Zufall

ArnoAbendschoen - 08.03.2022 um 16:28 Uhr

Mit dem Zufall scheint es bei mir so abgelaufen zu sein: Mit dreizehn wechselte ich in die Eingangsstufe eines Aufbaugymnasiums. Der Zustrom dahin war dermaßen gewaltig, dass für den Jahrgang sechs Klassen eingerichtet werden mussten. Infolge zahlreicher Abgänge konnte ihre Zahl schon ein Jahr später auf fünf reduziert werden und die Schüler meiner Klasse wurden auf die anderen verteilt. Wir erfuhren es am ersten Tag nach den Ferien, auch wohin wir jeweils zu gehen hatten. Nacheinander sah ich alle Schulkameraden aus dem Saal verschwinden, ich blieb als Letzter zurück, wurde nicht aufgerufen. War das ein gutes oder ein schlechtes Omen? Vielleicht hatte mein Name auf der Liste gefehlt oder die Sekretärin war unkonzentriert gewesen. Zufall?

Zufall - ich will es nicht glauben. Ich durfte mir meine Klasse aussuchen und entschied damit, wer die drei für mich wichtigsten Menschen meiner Jugendzeit wurden. Zwei davon kannte ich noch nicht, als ich Bastian folgte, meinem liebsten Kameraden. Ich hatte mir seine neue Klasse gemerkt und entschied mich sofort für die weitere Nähe zu ihm. Fatum? Schon eher.

Bastian war als hochgewachsenes, blondes Flüchtlingskind aus dem Osten der Exot bei uns im Südwesten, ein freundlicher, korrekter, intelligenter, fleißiger Bursche. Unter seinem Einfluss änderte ich meine Sprache, meine Ansichten, Interessen und Perspektiven. Bastian erzählte von Berlin und den Landschaften des Nordostens. Ohne es anzustreben, bereitete er mich auf ein Leben am anderen Ende Deutschlands vor. Kann ich mir vorstellen, im Südwesten geblieben zu sein, unter Menschen, die gemüthaft miteinander umgehen und selten reines, akzentfreies Hochdeutsch reden – ganz gewiss nicht. Mit Bastian verstand ich mich in allen Schul- und anderen Sachen bestens, so schien es, und dennoch entstand langsam in mir ein leises Fremdsein, ein Gefühl fast körperlicher Abneigung. Ich kam ihm nicht auf den Grund und suchte noch andere Kameraden.

Da war der dunkelhaarige, mittelgroße Sigurd, noch intellektueller als Bastian, ein einheimischer Exot allein aufgrund seiner exzeptionellen geistigen Ansprüche. Die vielen langen Gespräche mit ihm förderten mich mit sechzehn, siebzehn außerordentlich. Sigurd las Schopenhauer und Nietzsche und entwickelte sich später, für mich überraschend, zum Trotzkisten und Berufsrevolutionär. Er deutete an, dass er homosexuell sei, sprach es aber nie offen aus. Das vermied er, wie ich bemerkte, ganz bewusst. Er erfüllte mich mit noch stärkerer körperlicher Abneigung als Bastian und ich verstand allmählich … Er war ausgesprochen hässlich.

Den auch mittelgroßen Ulrich, Haarfarbe milchkaffeebraun, fand ich dagegen immer anziehender. Wenn man wollte, konnte man ihn hübsch finden. Wollte ich das – offenbar ja und ich stritt es im Dialog mit mir selbst nicht mehr lange ab. Im Übrigen bestach er durch größtmögliche Durchschnittlichkeit, das Fehlen jeder Exzentrik. Ich begann einen Kult zu treiben mit seiner anspruchslosen Gewöhnlichkeit. Es gehört für mich zu den dunkelsten Geheimnissen überhaupt, wie ausgerechnet er mein Denken und Fühlen eine Reihe von Jahren weitgehend ausfüllen konnte. Ich suchte seine Nähe und fand bloß einen Banknachbarn, der von mir zu profitieren suchte und mich nach der Schule rasch fallen ließ. Mit Sigurd und Bastian hatte ich noch länger Umgang und wir entfremdeten uns erst im Lauf unserer weiteren Entwicklung und dann auch vollständig.

Dieses Trio also umkreiste mich in der entscheidend prägenden Phase meines Lebens, oder vielmehr orientierte ich mich in meinem eigenen Lauf an diesem Sternbild. Bin ich überhaupt jemals später aus diesen Verhältnissen, Konstellationen herausgetreten? Will man mir nahe bringen, sie seien nur zufällig entstanden, an ihrer Stelle hätten andere, ganz andere sich entwickeln können, ohne den Fehler der Schulsekretärin damals? Ich kann es weder glauben noch akzeptieren. Allzu sehr fühle ich mich eins mit Verlauf und Substanz meiner Geschichte.




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