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--- Hier irrt Wikipedia

ArnoAbendschoen - 02.02.2022 um 12:17 Uhr

Im Folgenden soll es nicht um die Zuverlässigkeit von Wikipedia allgemein gehen, sondern an einem Beispiel gezeigt werden, wie flüchtige Rezeption eines Werks zu falschem Verständnis und Verbreitung von Unzutreffendem führt. Zu Marco Bergers Film „Ausente“ findet sich im englischsprachigen Wikipedia-Artikel folgende Aussage:

“The director is vague on certain plot points. In the last images, for example, there is a shot of Sebastián gently kissing Martín on the lips. It is not clear whether this actually happened or only occurred in Sebastián´s imagination.”

Der Zweifel, wie der Filmschluss zu interpretieren sei, lässt sich leicht ausräumen. Vor der letzten Szene ist der Schwimmlehrer Sebastían mit seiner Freundin unterwegs ins Theater. Beide sind dem Anlass entsprechend gekleidet. Unterwegs setzt er seine Partnerin bei einer Bekannten ab, die wohl mit zur Vorstellung kommt. Sebastían, der vorausfährt, wird von seiner Freundin aufgefordert, eine Flasche mit einem alkoholischen Getränk mitzunehmen. Danach sehen wir die Partnerin im Foyer des Theaters, wie sie sich in der Pause suchend umblickt. Sie scheint im Gespräch mit jener Bekannten und dabei Sebastían zu vermissen. Der Lehrer fährt währenddessen im Auto zu der Schwimmhalle, in der er tagsüber unterrichtet. Nach dem Aussteigen wirft er die inzwischen von ihm geleerte Flasche fort. Er ist alkoholisiert und trägt bis auf die Jacke dieselbe Ausgehkleidung wie vorher. Er klettert über einen Zaun, schlägt ein Fenster ein, wobei er sich eine stark blutende Verletzung zuzieht, und dringt in die leere, dunkle Halle ein. Dort wechselt das Licht nach kurzer Zeit, wird strahlend hell. Sebastían erblickt nun Martín im Kreis anderer Schüler. Anschließend sondern sich die beiden Hauptfiguren ab und treffen im Bereich der Umkleidekabinen aufeinander. Hier kommt es zu der Kussszene und Sebastían bittet Martín um Verzeihung. Der Zuschauer weiß allerdings, dass Martín schon seit einiger Zeit tot ist. Da Martín sich in ihrem Gespräch jetzt ausdrücklich auf Sebastíans aktuell stark blutende Verletzung bezieht, kann es sich bei dieser Sequenz nur um eine Vision handeln. Sie endet damit, dass Martín mit verzichtender Mimik fortgeht, es in der Halle wieder dunkel wird – eben dies markiert den Übergang zu realistischer Filmerzählung - und Sebastían allein weinend zurückbleibt, womit der Film zugleich endet.

Man findet heutzutage in zahllosen Filmkritiken, auch aus professioneller Feder, ähnliche Unsicherheiten und Fehlinterpretationen. Es scheint üblich zu sein, nach einmaligem und oft nicht ausreichend konzentriertem Anschauen des Werks einen Text darüber zu schreiben. Gerade im Internet bleiben diese Falschinformationen dann über viele Jahre und beeinflussen das Bild, das sich nachlesende Zuschauer beim Recherchieren machen.

Vermutlich entgehen diesen hastigen Rezensenten noch viele andere Details, die mit Bedacht in die Drehbücher eingearbeitet und tatsächlich oft erst nach mehrmaligem Anschauen des Films aufzuspüren oder in ihrer Bedeutung zu entschlüsseln sind. Marco Berger etwa verwendet gern Leitmotive. So findet sich eine zerbrochene Hallenfensterscheibe in „Ausente“ bereits einmal an früherer Stelle. Man kann darin ein Symbol für die Situation der Protagonisten vermuten. Leichter zu verstehen ist die Rolle, die ein Parfüm wiederholt im Film spielt, oder die eines ausgeliehenen T-Shirts. Dem aufmerksamen Zuschauer wird ferner auffallen, dass Sebastían sich zweimal über den Körper eines Beifahrers beugt, um das jenseitige Wagenfenster zu betätigen, einmal ist es Martín, später dann die Freundin. Wer aber nicht einmal leicht erkennbare Übergänge von rein realistischer Handlung zu eingeschobenen phantastischen Sequenzen zweifelsfrei erkennt, wird erst recht damit überfordert sein, die feine Textur der Leitmotive wahrzunehmen.




Kenon - 11.02.2022 um 23:00 Uhr

Zum von Dir dargestellten Sachverhalt selbst kann ich nichts sagen, aber hast Du auf der Diskussionsseite des Wikipedia-Artikels bereits versucht, eine Korrektur anzuregen? So einfach ist ja die direkte Mitarbeit an Artikeln schon lange nicht mehr. Das erinnert mich daran, dass ich vor 17 Jahren, als ich noch studierte, mal einen Artikel angelegt habe, der sich inzwischen fantastisch entwickelt hat. Das ist wie beim Säen von Pflanzen: ganz kleines wird groß …

Zitat:

Gerade im Internet bleiben diese Falschinformationen dann über viele Jahre und beeinflussen das Bild, das sich nachlesende Zuschauer beim Recherchieren machen.

Es ist ja generell so eine Sache mit dem Schreiben:
Die Langzeitfolgen sind schwer abzuschätzen. Im Prinzip kann Schreiben auf dem Gebiet des Geistes annähernd so unberechenbar wirken wie Nuklearenergie auf dem Gebiet der Körper. Entweder bleibt alles ruhig, oder es geschieht verdammt viel.

Die Menschen sind zudem bequem, kopieren gern, was sich gut anhört. Der eine vom anderen, wird schon stimmen, und wenn es nicht stimmt: Wen kümmert es?

Ich wurde neulich stutzig, als ich vom “berühmtesten ungelesenen Buch der Welt” hörte, da ging es um James Joyces "Ulysses", er hatte sein 100. Erscheinungsjubiläum. Wenn man danach googlet, findet man gefühlt tausende Treffer, die den “Fakt” wiederholen – aber ist es tatsächlich einer?
Subjektiv nicht, wenn ich die Leute betrachte, die ich kenne: nur in einem Fall ist eine Person nicht über die ersten einhundert Seiten hinausgekommen, weil ihr das Werk zu wenig gegenständlich gewesen ist, die anderen verehren es.
Was schert mich das Leseverhalten von Leuten, die ich nicht kenne?




ArnoAbendschoen - 11.02.2022 um 23:30 Uhr

Nein, kein Versuch meinerseits, Korrektur zur erwirken. Ich heiße ja nicht Arno Sisyphos. Man betrachte meinen Beitrag hier am besten als Stoßseufzer ... Außerdem steht er im Zusammenhang mit meiner Rezension des Films neulich hier.

Du selbst führst in die Debatte eine andere Spielart des Missbrauchs ein, das nassforsche Argumentieren mit falschen oder unüberprüfbaren Superlativen. Das bringt mich regelmäßig zur Weißglut. Man könnte so z.B. den Eindruck gewinnen, es gäbe kein mitteleuropäisches Dorf, das nicht irgendwie an der Weltspitze stünde. Aber Achtung, das wäre schon wieder so ein denkfauler Sündenfall. Meine eigenen Texte sehe ich immer wieder auf Superlative und Verallgemeinerungen durch und merze sie fast alle aus.




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