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--- Paul Gratzik – Transportpaule

Kenon - 24.01.2022 um 21:42 Uhr

“Transportpaule” (1977) ist der Debüt-Roman des damaligen DDR-Bürgers Paul Gratzik (1935–2018), der in der Bundesrepublik durch den Film “Vaterlandsverräter” (2011) von Annekatrin Hendel noch einmal einige Aufmerksamkeit erregen konnte. Der Roman erschien zuerst nur im Westen, wo er unter anderem in “Die Zeit” und “Der Spiegel” besprochen wurde; ganz unbeachtet blieb er also nicht. Nachdem sich die Stasi [sic], bei der Gratzik zu der Zeit als Inoffizieller Mitarbeiter geführt wurde und berichtend tätig war, für die Publikation eingesetzt hatte, durfte der Roman schließlich auch im Osten Deutschlands erscheinen. Zur Besprechung liegt mir hier die Ausgabe aus dem Rostocker Hinstorff Verlag vor, sie ist auf etwas weniger als DIN A5 gedruckt, auf dem Umschlag befindet sich eine großflächige, beidseitige, expressionistisch anmutende Illustration, die dem Inhalt des Buches gerecht wird, die Seiten sind bereits stark vergilbt.

Warum geht es nun im “Transportpaule”? Einen echten Plot würde ich dem Werk absprechen, es handelt sich mehr um eine realsozialistische Odyssee, wir dürfen dabei aber nicht an Homer denken, sondern müssen uns eine Art chaotische Reise von Getränk zu Getränk vorstellen. Der Autor erzählt in der Ich-Perspektive in oft scheinbar willkürlichen Sprüngen und in einem recht eigenwilligen Stil von Skat, Frauen und Alkohol – kurz: dem “guten” Leben in der DDR: so gut, wie es eben sein konnte, wenn man sich dafür entschieden hatte, im Rahmen des gesellschaftlichen Systems Vorteile für sich zu erlangen. Das alles scheint sehr stark autobiographisch gefärbt zu sein: Der Erzähler ist zwar “nur” Tischler oder Transportarbeiter, trotzdem bewegt er sich in künstlerischen Kreisen und befindet sich im Tross von Willy, der als “ein Mann mit hoher Funktion in der Partei” eingeführt wird. Manchmal wird erahnbar, warum das Buch in der DDR zuerst nicht erscheinen konnte: Nicht alles ist glattgebügelt, so wird zum Beispiel von politischen Witzen erzählt (ohne jedoch ihren Inhalt zu nennen), Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Prämien werden beschrieben, selbst Westfilme werden kurz spitzfindig erwähnt, wenn Gratzik von denen schreibt, die man zu sehen bekäme. Heute lachen wir vielleicht über diese Petitessen, aber damals war es schon etwas gewagt, sich schriftlich so zu äußern.
Man merkt dem “Transportpaule” an, dass sein Autor schon einiges erlebt hat. Letzterer will möglichst viel, möglichst alles sagen – in einem einzigen schmalen Buch von knapp 200 Seiten. Das bekommt dem Werk nicht immer. Manchmal wirken Stellen nicht genug ausgearbeitet, von Schlampigkeit zu reden wäre allerdings zu hart, manchmal überhebt sich der Autor auch an Literarisierungen, die ihm wie Holzbalken auf die Füße fallen, manchmal gibt es ins philosophische gehende Einschübe wie den folgenden:

Zitat:

Wer auch nur einen Tag in unserer Stadt zugebracht hat, lernt bei
uns das Kaffeetrinken. Der Lebensrhythmus der Menschen zwischen
ihren alten und neuen Mauern richtet sich nach ihren Kaffeepausen.
Sie trinken ihn süß, heiß und in ziemlichen Mengen. Man könnte, wäre
man Anarchist, die Menschen allesamt demoralisieren, würde man die
Zufuhr des geliebten Kaffees sperren. Die Arbeitermacht bei uns darf
sich Fehler erlauben, nur den nie, das Herbeischaffen des Kaffees auch
nur einen Moment lang zu vergessen. Setzten wir, daß zum jetzigen
Zeitpunkt in- und außerhalb unserer fleißigen Stadt für ich weiß nicht
wieviel Milliarden Mark Waren produziert werden, rechne ich das dem
Kaffee zu. Eine andere Rechnung, zum Beispiel in der Zeit Versamm-
lungen abzuhalten, da in unserem Möbelwerk Kaffee getrunken wird,
halte ich für falsch. Kaffeetrinken ist Arbeit.

Lohnt es sich heute noch, den “Transportpaule” zu lesen? Es kommt darauf an – also ganz sicherlich nicht für jeden. Die meiste DDR-Literatur ist ja schon dadurch verdorben, dass sie eigentlich nur Pädagogik darstellte, die ein unmenschliches Ziel verfolgte: Hörige sozialistische Staatsbürger zur formen. In diese Kategorie immerhin kann man das Buch nicht stecken, dafür ist es zu unkonventionell. Es zeigt uns vor allem sehr eindrücklich, wie sich der Autor in der DDR eingerichtet hat: Mit einigem war er sicherlich unzufrieden, aber er hatte doch ein schönes und geradezu aufregendes Leben. Dieses ging allerdings auf Kosten der Moral. Paul Gratzik gehörte gewissermaßen zum Establishment der DDR – 1980 bekam er sogar den Heinrich-Mann-Preis verliehen. Leute wie er, die ihre Haltung dem persönlichen Vorteil geopfert haben, und sie stellten sicherlich die Mehrheit, haben maßgeblich dazu beigetragen, dass das kommunistische Regime so lange an der Macht bleiben konnte: Gebt dem Herren etwas Kaffee, Likör und armenischen Cognac, ein paar Reisen hier und dort, ein paar Frauen, etwas Aufmerksamkeit, druckt doch sein schwieriges Buch wenigstens irgendwo in kleiner Auflage, und schon arbeitet er für “uns” und macht sonst keinen größeren Ärger.

Paul Gratzik hat bis zum Ende seines Lebens an der DDR festgehalten. Die Zusammenarbeit mit der Stasi hat er in den frühen 1980er Jahren jedoch beendet, weil er zu der Ansicht gekommen war, dass die Stasi die DDR kaputt mache. Leider hat Gratzik nicht begriffen – und das zeigt die Trennung, die er so gedanklich vorgenommen hat –, dass die Stasi integraler Bestandteil der DDR gewesen ist: Ohne Stasi keine DDR – genau so, wie Gorbatschow nicht verstanden hatte, dass es ohne den “Führungsanspruch” der kommunistischen Partei mittelfristig keine Sowjetunion mehr geben würde.

Was man getan hat, kann man nicht rückgängig machen, das ist klar, aber so lange man lebt und im Besitz seiner geistigen Kräfte ist, kann man einsichtig werden und sein Bedauern äußern. Dazu aber gehört echte Größe, die nicht jeder hat oder entwickeln kann: weder ein einfacher Paul Gratzik noch ein Nobelpreisträger und Stalin-Verehrer wie Pablo Neruda. Das ist das eigentlich Bedauernswerte an der ganzen Biographie des Autoren: dass er nichts bedauert hat.




ArnoAbendschoen - 24.01.2022 um 22:08 Uhr

Ist das Zitat wirklich so aus dem Buch übernommen? Mit dem Anfang von Zeile 7 habe ich Schwierigkeiten. Und auch mit Zeile 9: "Setzten wir ..." Letzteres kann wohl auch Gratziks Sprache sein, hört sich dennoch seltsam an.

Im Übrigen Rezension mit viel Interesse gelesen.




Kenon - 24.01.2022 um 22:16 Uhr

Danke, wie immer sehr aufmerksam: Es hatte sich tatsächlich noch ein "für sich" von der linken Seite des Buches eingeschlichen, das beim Scannen und Erkennen einfach in den Text der rechten Seite eingefügt wurde. Jetzt sollte es stimmen.

"Setzten wir" hingegen ist richtig, synonym hätte dort auch "Gesetzt" stehen können.




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