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-- Literaturgeschichte & -theorie
--- Nicht der Text allein
Kenon - 20.01.2022 um 23:32 Uhr
Wenn A und B den gleichen Text schreiben, ist es doch nicht das gleiche, denn nicht der Text allein zählt, und sei er noch so “gut” geschrieben (was immer man darunter verstehen mag), sondern es zählt auch, wer ihn geschrieben hat. In der Malerei ist es ähnlich, gerade bei Werken, die kein besonderes Handwerk erforderten, um erschaffen zu werden: Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen dem schwarzen Quadrat, mit dem der Name Malewitschs verbunden ist und einem denkbaren, das zur gleichen Zeit von irgendwem zu Papier gebracht worden sein könnte. Nur das erste hat Kunstgeschichte geschrieben.
Ein weiteres kontrafaktisches Szenario: Von Pindar sind nur die Siegeslieder vollständig erhalten, nicht aber zum Beispiel die Loblieder. Stellen wir uns einen bisher namenlosen Autoren Z vor, der es gestern fertiggebracht hat, durch einen kosmischen Zufall eines der verschollenen Loblieder erneut zu “komponieren”, dieser Fakt ist aber niemandem bekannt, nicht einmal dem Autoren selbst. Wen würde dieser Text interessieren, welche Öffentlichkeit bekäme er? Und wen würde der gleiche Text interessieren, wenn man ihn morgen aus einem Haufen Geröll hervorzöge und Experten feststellten, dass es sich tatsächlich um einen verlorenen Text Pindars handelt?
Und noch ein anderes Szenario: Jemand, nennen wir ihn Y, meint, dass es einige seiner Gedichte durchaus mit denen von X, der ein berühmter und erfolgreicher Dichter war, qualitativ aufnehmen können, vielleicht meint er das sogar berechtigterweise. Was aber ist der Unterschied, warum hatte X Erfolg, Y aber bisher noch nicht? Schauen wir kurz auf die Biographie: X hat ein aufregendes Leben geführt, die verschiedensten Arbeitsstellen gehabt, ab einem gewissen Zeitpunkt fing er an, in Zeitschriften, die gelesen wurden, seine Gedichte zu veröffentlichen, er übersetzte andere Gedichte in seine Sprache, seine Ausbürgerung hat weltweit Schlagzeilen produziert, sie machten seinen Namen noch größer, er verfasste zahlreiche Gedichtbände, schrieb in seiner Muttersprache und in einer weiteren Weltsprache, verfasste diverse Bücher zur Poetik, er lebte für die Poesie, er war aktiv, er ging zu wesentlichen Menschen, die ihn voranbrachten. Es sind Plattheiten: Ohne Menschen geht es nicht, wenn man mit dem Schreiben auch weltliche Ambitionen verbindet: Menschen sind bekannterweise die einzigen Kreaturen, die sich für literarische Werke interessieren können. Manchmal mag es genügen, dem einen wichtigen Menschen zu begegnen, der Dinge für einen ins Rollen bringen und andere Menschen beeinflussen kann …
Der Erfolg von X ist nicht kopierbar, und so kann man aus ihm auch kein generalisierbares Rezept ableiten, aber die Biographie von X ist beeindruckend, der Dichter hat einiges bewegt und sich seinen Ruhm offensichtlich verdient erarbeitet – ob man nun seine Gedichte mag oder nicht. Ein Trost ist, dass auch Z die Chance hat, mit seinem Loblied ein Publikum zu finden, vielleicht merkt ja jemand, dass er wie Pindar schreiben und das dann recht unterhaltsam zu lesen sein kann – egal, wie anachronistisch es anmutet …
Was kann ich Y raten? Eigentlich nichts, weil ich über kein besonderes Wissen verfüge, wie man als Autor erfolgreich wird, weder in der Praxis noch in der Theorie, aber ich denke, er sollte weiterhin das schreiben, was er für gut und richtig hält, doch um irgendwie erfolgreich zu werden, wird das allein kaum genügen.
Itzikuo_Peng - 21.01.2022 um 06:50 Uhr
Interessant.
Somit kämen wir, konsequent weitergedacht (denke ich), zum nächsten Punkt: Wie sieht es mit den Selbstzweifeln bei - ich nenne es mal der Einfachheit so - namhaften, erfolgreichen Künstlern aus? Wer von ihnen fragt sich irgendwann, ob er wegen der Qualität seiner Ware oder wegen seines "Namens" gebracht wird? Blendet man das irgendwann mit Blick aufs pralle Konto aus? - Mutige (gerne auch von außerhalb des Forums) bitte schonungslos ohne Rang und Namen vor, danke. :)
Kenon - 21.01.2022 um 07:58 Uhr
Zitat:
Wer von ihnen fragt sich irgendwann, ob er wegen der Qualität seiner Ware oder wegen seines "Namens" gebracht wird?
Garri Kasparow hat in einem seiner Bücher beschrieben, wie man als Sportler im Moment seines Triumphs am verletzlichsten ist, weil man Gefahr läuft, unachtsam zu werden, nicht mehr den vollen Einsatz zu bringen, denn das Ego ist gewachsen und man traut sich vieles zu, nur, weil man man selbst ist – weil man bereits auf dem Olymp stehen durfte. Ich denke, dass er damit ein sehr weit verbreitetes Problem beschrieben hat und dass wir es auch in der Literatur antreffen. Im Sport gibt es natürlich einfacher handhabbare Kriterien, die uns Erfolg und Niederlage anzeigen – wenn wir hier mal annehmen, dass wir den Literaten nicht an seinen Verkaufszahlen sondern an seinem “Ausstoß” messen, dessen Güte feststellen.
Ich hatte beim Verfassen des obigen Artikels auch an T gedacht, aber der Prägnanz wegen darauf verzichtet, ihn im Text zu erwähnen. T hat gleich zu Beginn seiner Karriere drei richtige Granaten (entschuldigt die martialische Wortwahl) abgeliefert, danach nur noch gutes Mittelmaß, aber die Granaten haben ihn durch seine ganze Karriere getragen, man befasst sich noch heute mit ihnen, immer neue Generationen befassen sich mit ihnen. Andererseits kann es auch so laufen: Bei Künstlern, die ihren Durchbruch erst spät mit einem bestimmten Werk erleben, verkauft sich der sogenannte Backkatalog, all das, was sie bisher angehäuft haben, plötzlich auch viel besser.
Ich erwähne zudem das Beispiel von S, der als Gitarrist in eine der größten Bands des Planeten aufgenommen wurde. Er hätte damit zufrieden sein können, denn was konnte er nun noch darüber hinaus formal erreichen? Was tat er? Er nahm Gitarrenunterricht bei einem der besten lebenden Gitarristen, um selbst noch besser zu werden.
Musikgruppen sind generell ein gutes Studienobjekt für Erfolg. Viele haben ihr Potenzial nach zwei, drei Alben erschöpft, dann gibt es Aufgüsse, die aber auch noch ganz gut ankommen können. Publikum und Künstler haben sich aneinander gewöhnt. Dabei fällt mir dann sogar U ein, technisch und aufgrund seiner Kreativität einer der besten Gitarristen unserer Zeit, allerdings hat er das letzte Album, das mich absolut überzeugt hat, bereits 1993 veröffentlicht. Erst jetzt, 2022, hat er es meiner Meinung nach geschafft, einen würdigen Nachfolger aufzunehmen. Die Werke dazwischen sind nicht schlecht, aber mir selbst täte es nicht weh, wenn es sie nicht geben würde. Trotzdem habe ich sie mir nicht selten angehört.
ArnoAbendschoen - 21.01.2022 um 12:16 Uhr
Diese Nachricht wurde von ArnoAbendschoen um 12:20:30 am 21.01.2022 editiert
Meine Vorredner mögen mir verzeihen, dass ich kaum etwas zu dieser Diskussion beitragen kann. Am ehesten noch Fragen:
1, Wie definiert man "Erfolg" in unserer Gegenwart, woran soll man ihn festmachen? Auf diese Definition müsste man sich zunächst einmal einigen.
2. Funktioniert unter den heutigen Bedingungen überhaupt noch das, was wir in der Literatur- und Kulturgeschichte als Kanonbildung anzusehen seit langem gewohnt sind? Ich habe da durchaus Zweifel.
Es bringt uns doch nichts, wenn wir uns an der Rezeption vor Generationen oder gar in anderen Zeitaltern orientieren. Oder doch, ein Nebenprodukt: Wenn wir diese Abläufe in der Vergangenheit durchschauen, stärken wir unsere Kritikfähigkeit, nicht nur gegenüber den alten Meistern, sondern auch im Verhältnis zu Heutigen.
Kleiner unpassender Scherz am Rand: Überholt ist, dass sich nur Menschen für Literatur interessieren. Der neue Trend: Katzen vorlesen. Das fing mit Kindern in Tierheimen an, aber in Berlin soll es mindestens eine Café als Treffpunkt von Katzenfreunden geben, in dem erwachsene Menschen Tieren Literatur vorlesen. Auch meine Texte für die Katz?
Kenon - 21.01.2022 um 19:03 Uhr
Zitat:
Wie definiert man "Erfolg" in unserer Gegenwart, woran soll man ihn festmachen?
Ja, das ist sicherlich eine Frage, die man beantworten könnte, wenn sich hier so viel um dieses Wort dreht, man kann sie aber auch ignorieren und dann sollte gelten, was sich jeder selbst darunter vorstellt. Das jedoch kann, wie sich bereits abgezeichnet hat, zu Schwierigkeiten führen.
Meiner Ansicht nach gibt es viele verschiedene “Arten” von Erfolg, die letztlich alle etwas mit Reaktionen zu tun haben, die man erhält, weil man etwas gemacht hat – in unserem Fall: Texte.
Die kleinstmögliche Erscheinungsform des so aufgefassten Erfolges könnte sein, zu wissen, dass jemand einen Text gelesen hat, die zweitkleinste vielleicht, zu einem Text mindestens eine ernstgemeinte Rückmeldung zu bekommen. Nach dieser Definition wäre der obige Text für mich schon ein Erfolg. Er wurde gelesen und hat uns ermöglicht, in eine Diskussion über sein Thema zu kommen – auch wenn sie sich möglicherweise als müßig erweisen sollte. Einen Scheck von der VG Wort zu bekommen, weil Texte von einem im Radio rezitiert worden sind, ist für mich persönlich bereits eine ziemlich hohe Kategorie des Erfolges, die ich dennoch nicht überbewerte; maßgeblich finde ich letztlich, was man selbst von seinen Texten hält und ob sie authentisch sind.
Kurz zur besseren Einordnung:
Der Eingangstext wurde von einer privaten Diskussion angeregt, und ich habe in ihm einfach bestimmte Ideen durchgespielt, die mir auch in der heutigen Zeit als durchaus relevant erscheinen.
Zitat:
Funktioniert unter den heutigen Bedingungen überhaupt noch das, was wir in der Literatur- und Kulturgeschichte als Kanonbildung anzusehen seit langem gewohnt sind?
Das ist für mich an dieser Stelle definitiv zu groß gedacht.
Zitat:
Es bringt uns doch nichts, wenn wir uns an der Rezeption vor Generationen oder gar in anderen Zeitaltern orientieren.
Nun, das habe ich ja eigentlich auch in meinem vorletzten Absatz ausschließen wollen:
Zitat:
Der Erfolg von X ist nicht kopierbar, und so kann man aus ihm auch kein generalisierbares Rezept ableiten (…)
Es macht also gewissermaßen gar keinen Sinn, sich mit (historischen) Persönlichkeiten oder die eigenen mit deren Texten zu vergleichen. Sicherlich kamen mir beim Schreiben des Textes Zweifel, ob ich nicht meine Zeit damit verschwende, aber er greift ja – wie oben geschildert – doch eine Frage auf, die sich mir aus einem zwischenmenschlichen Kontakt ergeben hat.
Zitat:
Der neue Trend: Katzen vorlesen.
Das kann ich nicht gelten lassen, ich akzeptiere hier nur natürliche Personen – als nette Pointe lasse ich es aber selbstverständlich durchgehen.
ArnoAbendschoen - 21.01.2022 um 23:30 Uhr
Die von dir, Kenon, angeführten Gradmesser für Erfolg kann ich selbstverständlich akzeptieren. Sie sind realistisch, vernünftig. Persönlich würde ich noch eine gewisse Mindestquantität von Lesern oder Aufrufen in einem bestimmten Zeitraum dazunehmen. Diese Zahlen können dann je nach Autor individuell sehr verschieden sein.
Es versteht sich, dass über Kanon nicht mehr gesprochen werden muss, wenn Erfolg heute so definiert ist. Ich habe mich wohl zu dieser Frage verleiten lassen, da in deinem Text zu ihm gehörende Namen fielen. (Und da mich das unabhängig von unserem Thema hier stark interessiert, nicht als Autor, sondern als Rezipient.)
Das mit den Katzen war natürlich nur ein Scherz.
Um abschließend auf den letzten Absatz deines Eingangsbeitrags einzugehen: Ich würde Y denselben Rat geben - und ihn gleichzeitig darauf hinweisen, dass allein er selbst bestimmt, was er für sich unter erfolgreich verstehen will.
Itzikuo_Peng - 22.01.2022 um 06:08 Uhr
Diese Nachricht wurde von Itzikuo_Peng um 06:10:01 am 22.01.2022 editiert
Zitat:
Einen Scheck von der VG Wort zu bekommen ...
A propos: Am 31.1.2022 ist Einsendeschluss VG Wort für diverse Tantiemen, wen´s betrifft, evtl. auch stille Mitleser. Datum wird ja gerne vergessen. Bitte, gerne. Zitat:
... maßgeblich finde ich letztlich, was man selbst von seinen Texten hält und ob sie authentisch sind.
Genau das.
Itzikuo_Peng - 22.01.2022 um 06:24 Uhr
Nachtrag zu VG Wort: Stichwort Sonderverteilung Bibliothekstantieme
https://www.vgwort.de/auszahlungen/belletristik-und-kinderbuecher.html
Kenon - 22.01.2022 um 09:03 Uhr
Zitat:
Das mit den Katzen war natürlich nur ein Scherz.
Keine Sorge, das hatte ich auch so aufgefasst.
Itzikuo_Peng - 23.01.2022 um 05:17 Uhr
Stelle mir menschl. Poetry Slam für Katzenpublikum vor. Sieger = nicht der beste Text, sondern der die das mit der Stimme, die Katzen am besten gefällt. Bloß, wie deren Meinung einholen?
Kenon - 23.01.2022 um 08:27 Uhr
Zitat:
Bloß, wie deren Meinung einholen?
Vorschlag:
Bei welchem Text schnurren die Katzen am harmonischsten?
Kenon - 25.01.2022 um 00:00 Uhr
Noch ein Fundstück zum Thema “kommerzieller Erfolg” und Authentizität:
Ich las kürzlich ein Interview mit dem Gitarristen Yngwie Malmsteen, der zuletzt 1988 mit einem Album in den Billboard-Charts vertreten gewesen ist, im vergangenen Jahr gelang ihm ein weiteres Mal eine Platzierung. Für ihn sei das eine außerordentliche Belohnung gewesen. In den 1980ern, so führte der Saitenkünstler aus, hätte er einige Lieder aufgenommen, die dem Trend der damaligen Zeit entsprochen haben, aber er sei damit nicht glücklich gewesen:
Zitat:
To me, the biggest reward should be that you feel passionate and happy about your creation, and when you hear it, it stirs your insides. That’s the most important thing.
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