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--- Paul Gratzik: Kutte mit Löchern

Kenon - 12.01.2022 um 21:02 Uhr

Offensichtlich habe ich ein Faible dafür, mich mit gefallenen Autoren-Gestalten zu beschäftigen: Knut Hamsun, Louis-Ferdinand Céline, Johannes Robert Becher und nun Paul Gratzik (1935–2018), der mir erst jetzt durch den Dokumentarfilm “Vaterlandsverräter” (2011) von Annekatrin Hendel bekannt wurde. Gratzik wurde in Ostpreußen geboren und siedelte als Kind noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges nach Mecklenburg über; seine berufliche Karriere ist äußerst divers, so absolvierte er eine Tischlerlehre, verdingte sich unter anderem als Bau- und Bergarbeiter, FDJ-Funktionär, Jugendwerkhof-Erzieher, er verfasste einige Theaterstücke, ab einem gewissen Zeitpunkt arbeitete er vor allem als Schriftsteller. Paul Gratzik war zudem 20 Jahre als Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi tätig – im Dokumentarfilm kokettiert er damit, dass er bei der Stasi das Schreiben gelernt habe. Mit der literarischen Qualität seiner früheren Berichte ist er allerdings nicht immer zufrieden: „Oh Gott, was für ein Scheißdeutsch! Eine saumäßige Leistung.“ – so sein Kommentar in einer Szene gegenüber Frau Hendel.

Ich habe mir erst einmal nur “Transportpaule. Monolog” (1977) und “Kohlenkutte” (1982) zugelegt. “Transportpaule” ist unkonventionell geschrieben, der Stil ist etwas schlampig, man merkt, dass sich dort einer noch im Schreiben übt, in den ersten beiden Kapiteln geht es vor allem um Frauen und Alkohol, nichts besonderes halt, aber auf eine überraschende Weise hat es doch seinen Reiz – vielleicht durch eine gewisse Skurrilität und dadurch, dass das Werk ein Artefakt seiner Zeit ist? In “Kohlenkutte” habe ich bisher nur hineingeblättert, bin jedoch gleich auf eine homoerotische Begebenheit gestoßen, was mich verwundert hat, da Gratzik im Film schon als Frauenheld dargestellt wird – über eine eigentlich für ihn viel zu alte Frau hat er sich ja auch quasi in die Kunstszene geschlafen.

Im Dokumentarfilm sehen wir Gratzik als verkrachten Widerling, der seine weiche Seite doch nicht verbergen kann. Er ist eine bedauerliche, dem Alkohol verfallene Gestalt, die trotzdem ein gewisses Charisma hat, was vielleicht schon mit der Art, wie sie redet, einsetzt.




Kenon - 13.01.2022 um 18:50 Uhr

Hier noch ein kurzes Textbeispiel aus dem "Transportpaule" – mit einem aktuellen Telefon ist es ein Leichtes, einen Text zu digitalisieren ... Wie aufwändig und fehleranfällig war das noch vor 20 Jahren!

Zitat:

Was wußten wir denn schon, wir Transporter, Obermeister, Briga-
diere und Parteiarbeiter von unseren Frauen? Ich meine, daß es recht
ist, immer noch, wenn wir schon von Liebe schwatzen, beim Mann
anzufangen und auch bei ihm aufzuhören. Das ist ganz natürlich, und
liegt darin begründet, daß Männer sich immer zutraun, die Wahrheit
gepachtet zu haben, Frauen selten. Denn wie soll ein Mann wissen,
wie´s im Herzen einer Frau in Wirklichkeit aussieht, wenn sie keinen
Mund zum Reden hat? Ich grübelte auf diesem Südhang meines stillen
Tales darüber nach, ob es auch bei den Frauen breite Risse im Kopf
gibt, breit, daß man nicht wagen kann hinüberzusteigen? Männer
würden letztlich über Männer reden können, über Frauen nicht. Und
las ich manchmal in Büchern, suchte ich sie zunächst immer nach der
Liebe ab. Ganz selten fand ich, von Frauen aufgeschrieben, was
Frauen dachten. Ich legte mich in die vorabendliche Sommerblumen-
wiese und sah an Hedwig hoch, wie sie auf dem Gartenstuhl saß und
sprach. Sie müßten, grübelte ich, aufschreiben, für meinen Freund
Willy und vor allem für mich, was sie denken, wenn sie einen verrückt
machen. Die Männer, die ihre Frauen wirklich lieben, sägen den Ast
ab, auf dem sie sitzen.




Kenon - 15.01.2022 um 00:14 Uhr

Den Dokumentarfilm “Vaterlandsverräter” (ein eigentlich wenig passender Titel) habe ich gleich zweimal kurz hintereinander gesehen. Warum beschäftigt mich dieser Mensch Paul Gratzik derart? Warum ist er ein solcher Stiesel, warum spricht er meist mit weinerlich-zerbrechlicher Stimme? Und es ist ja gar nicht schwer, sich dafür Gründe auszumalen. Viel hat er zum Drehzeitpunkt vom Leben nicht mehr zu erwarten, seine größten Freuden spenden ihm die Rum-Flaschen, die sich bei ihm dann geleert im Keller sauber stapeln, alles andere, die mannigfaltigen Erfahrungen in den unterschiedlichsten Berufen, die literarischen und gesellschaftlichen Erfolge sind alle längst Geschichte. Paul Gratzik hat nichts mehr zu gewinnen und nur noch sein Leben zu verlieren. Die Leute kommen zu ihm mit den Kameras, weil sie sich für seine schmutzige Vergangenheit interessieren – weil er ihnen nützlich ist. Das weiss er, er spielt mit – sicherlich auch aus Eitelkeit, dick trägt er zuweilen auf, er möchte Eindruck machen, noch ein klein wenig wichtig sein. Ein tatsächlich böser Mensch ist er wahrscheinlich nicht (gewesen).
So lange man atmet, ist es eigentlich nie zu spät, etwas zu bereuen; Paul Gratzik bereut nicht, nicht vor der Kamera – nur den Spruch seiner Mutter: “Der größte Feind im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant” bekommt er nicht aus dem Kopf; dabei ist im Original von Hoffmann von Fallersleben vom Lumpen und nicht vom Feind die Rede …
Es läuft schon einiges durcheinander.




ArnoAbendschoen - 15.01.2022 um 00:30 Uhr

Gestern schon habe ich mich anderswo ein wenig über den mir bisher unbekannten Autor informiert. Für mich ist da ein krasser Kontrast, auf der einen Seite ein interessanter und insgesamt respektabler Lebenslauf - man muss schon einiges an Substanz mitbringen, um so viel durchzustehen - und auf der anderen sein durchweg unsympathisch berührender Eindruck als alter Mann, vereinsamt, verbauert. Ihn so zu zeigen, hat ihm und seinem Werk keinen Gefallen getan, scheint mir. Allerdings ist so ein Lebensabschluss auch wieder exemplarisch, als abschreckendes Beispiel.



Kenon - 15.01.2022 um 14:37 Uhr

Zitat:

Ihn so zu zeigen, hat ihm und seinem Werk keinen Gefallen getan, scheint mir.

Ehrlicherweise muss man aber auch sagen: Wer würde ihn heute ohne diesen Film kennen, wer von ihm sprechen – oder sogar lesen? Ich zum Beispiel hätte dieses Thema nie eröffnet. Allein “Johannistrieb: Eine erotische Erzählung” von 2015 scheint aktuell noch vertrieben zu werden, alle anderen Bücher kann man nur antiquarisch erwerben.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mal eine Zeit geben wird, in der ein tieferes Interesse an DDR-Literatur erwacht; es wird sich weiterhin auf ein paar bereits tradierte Namen wie Christa Wolf, Stefan Heym, Heiner Müller usw. beschränken. Es ist auch zu wenig lohnendes darin enthalten …

In Beenz (bei Prenzlau), nur etwas mehr als 60 Kilometer von meiner alten Heimat entfernt, hat man Gratzik ein Jahr nach seinem Tod immerhin einen Gedenkstein gesetzt. Freunde und Weggefährten trafen sich bei der Enthüllung, die Prenzlauer Zeitung zitiert eine von ihnen:

“Mich faszinierte er als ein Mensch, der kompromisslos sein Leben lebte, bis hin zur Rücksichtslosigkeit“.




ArnoAbendschoen - 15.01.2022 um 17:57 Uhr

Gewiss, später und Nachruhm hatten diesen Preis einer Zurschaustellung im Alter. Ich schleiche noch um den Autor herum wie die sprichwörtliche Katze. Dabei finde ich das:

https://www.spiegel.de/kultur/rolf-schneider-ueber-paul-gratzik-kohlenkutte-a-d4 3292e4-0002-0001-0000-000014349221

Die enge Verbindung Gratzik - Heiner Müller erinnnert mich daran, dass ich mich seit langem um die Beschäftigung mit Letzterem drücke. (Von hier aus blicke ich auf das Haus, in dem der Hochberühmte lange gewohnt hat: ständige Mahnung, etwas nachzuholen.) Vielleicht bin ich zu zartbesaitet für Attitüden von Saft und Kraft?




Kenon - 16.01.2022 um 09:42 Uhr

Den Spiegel-Artikel kannte ich noch nicht; er ist fast bezaubernd geschrieben – und man merkt, dass er aus einer ganz anderen Zeit kommt.

Von Heiner Müller habe ich noch nichts gelesen, habe gestern auch erst einmal nichts gefunden, was in Frage käme. Ich habe kurz in "»Für alle reicht es nicht«: Texte zum Kapitalismus" reingelesen, aber das ist wahrscheinlich nicht repräsentativ und hat mir auch überhaupt nicht zugesagt.




ArnoAbendschoen - 11.02.2022 um 16:01 Uhr

Da wir im gemeinschaftlichen Lesesaal sind, kann ich hier schon erste laufende Eindrücke festhalten, statt es auf Konzeptpapier zu tun; eine Rezension schreibe ich ohnehin nicht.

Arno ist jetzt im "Kohlenkutte" auf S. 38 (1. Auflage) und insgesamt recht angetan, mehr als vermutet. Nach dem Aufwachen heute früh fing er gleich an, übers gestern Gelesene nachzudenken. Nach dem zögerlichen Einstieg des Romans kommt als erstes Glanzstück die Bekanntschaft mit der jungen Frau, die ihn am Zwinger aufgerissen hat. Die Frage: Gab es diesen Typ Frau in der DDR (mit diesem Bewusstsein und diesem Auftreten) oder ist es mehr Kunstfigur, die im Roman eine Position zu vertreten hat? Was mir besonders gefallen hat: Wie der Held die Details der Kleidung der Frau und ihrer Wohnzimmereinrichtung unbarmherzig in Augenschein nimmt. Das hat etwas von Warenkunde einschließlich Seitenblick auf Usancen im Einzelhandel. Das Schuhgeschäft, herrlich! All das riecht ein wenig nach Anti-Konsumismus. Bezeichnend ist auch, dass Rodschinka zwar seine eigene Frau hasst, ihr aber dennoch ihn erotisch stimulierende Stiefel kaufen möchte ... Die Kritik des Warenfetischismus hat da schon etwas fast Systemübergreifendes. Hin und wieder blitzt außerdem grimmiger Humor auf, z.B. wenn das Lustlager gleich als "schlimme Liege" oder das Gepränge an der Wohnzimmerschauwand als "Materialschlacht" desavouiert wird.

Eigentümlich an der Syntax ist manchmal innerhalb längerer Perioden die Vorliebe für abseits Liegendes, das, nur von Kommas abgetrennt, als Parenthese den Hauptinhalt unterbricht. Diesen Trick und Überraschungseffekt will ich auch mal ausprobieren.

Ja, Sexuelles ist deftig, dabei bisher nicht wie ein Geschmacksverstärker wirkend. (Das krasseste Beispiel auf S. 33, vorletzter Absatz, der Vergleich mit einer Kartoffel.) Irre ich mich oder enthält diese drastische Darstellung nicht auch die Kritik einer warenfetischistischen Sexualität? Die Erotik bei Gratzik erinnert mich an die Plastik "Paar" von Hans Scheib von 1986, die ich mal in einer Ausstellung in Frankfurt / Oder sah. (Die Abbildung im Internet vermittelt kaum einen Hauch vom abgründig Faszinierenden der Riesenholzplastik.)




Kenon - 11.02.2022 um 22:33 Uhr

Ich weiß nichts, was ich zu Deinen Eindrücken schreiben könnte, habe sie aber gern gelesen; allerdings kann ich ein giftiges Bonmot aus dem "Neuen Deutschland" zum Tode von Paul Gratzik nachliefern:

Zitat:

Er schrieb »Kohlenkutte«, einen Roman, dessen Anti-DDR-Passagen bis heute als schlechte Montage stören, und verkaufte ihn nach Westberlin. An seinen Vorgänger »Handbetrieb«, den letzten großen Roman (???) aus der Produktionsrealität, reichte das Eigenplagiat nicht heran.




ArnoAbendschoen - 12.02.2022 um 12:01 Uhr

Tja, das ND ist eben ein Traditionsblatt und das heißt, es hält treu an der Verweigerungshaltung fest, die schon Rolf Schneider am Schluss seiner oben verlinkten Rezension damals an der DDR diagnostiziert hatte. Ich kenne nur das ND-Zitat hier, nicht den gesamten Nachruf, aber wie es aussieht, verschweigt er, wohin genau Gratzik den Roman verkauft hatte - an den Rotbuch-Verlag! Man könnte den verlogenen Eiertanz noch perfektionieren, indem man beim Berliner Kultursenator anregt, bei fälligen Straßenumbenennungen nun eine Gratzig zu widmen. Herr Lederer würde das natürlich unter Verweis auf des Autors Stasi-Dienste ablehnen und Gratzik in Walhall oder sonstwo darüber wiehern, homerisches Gelächter.

Bei den weiteren von mir gelesenen Abschnitten (Fabrik in Dresden, Restaurant) wird deutlich, dass Gratzik vor allem Dramatiker war. Ich sehe beim Lesen Theaterszenen vor mir und höre wie in einem neoexpressionistischen Stück reden. Zu meiner Überraschung missfällt mir das leicht Tiradenhafte hier nicht. Es wird gemildert durch scharfe Beobachtung konkreter Details am jeweiligen Ort. Die dreckige Restauranttischdecke!

Um auf das ND zurückzukommen, es hätte sich so leicht im Nachruf selbst eine Eselsbrücke zur Pietät bauen und schreiben können, Gratziks Aktualität liege nicht mehr in der Darstellung von DDR-Zuständen, sondern darin, dass er mit dem Roman auch eine Kritik des fortdauernden Industrialismus verfasst habe. So kann man ihn nämlich auch lesen.




Kenon - 12.02.2022 um 12:26 Uhr

Ja, die Schlafzimmer- und Restaurantszene sind sicherlich die Highlights des Buches. Im Restaurant scheint es mir vor allem um die Kritik am Service-Verständnis und allgemein an den jämmerlichen Zuständen in der DDR zu gehen; die menschliche Gesellschaft, die Kohlenkutte bekommt, mildert sie etwas.

Hier noch der Link zum nd-Artikel:
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1091819.endlich-geheimtipp.html




ArnoAbendschoen - 19.02.2022 um 17:58 Uhr

Roman ausgelesen, fasse den Gesamteindruck zusammen. Lektüre war anregend, den Horizont rückwärts erweiternd und nicht immer ganz einfach. Letzteres liegt daran, dass einem da viel aus dem Innenleben einer Gesellschaft vorgeführt wird, die es seit Jahrzehnten nicht mehr gibt. Das Buch ist gewiss für DDR-Zeitgenossen geschrieben, ungeachtet seines Erscheinens in West-Berlin. Wahrscheinlich sind viele Ausdrücke oder Anspielungen für diese auf Anhieb verständlich gewesen, für uns Heutige oft nicht oder nur mit Mühe. Warum zum Beispiel sagt auf Bl. 181 einer, nachdem er von Polizisten zusammengeschlagen: "Alles Pack von Helsinki."? Ich löse auch jenes Rätsel nicht, wie man denn von einer Fabrik in Schöneweide auf eine grüne Insel in der Spree schauen kann (S. 111). Man müsste auch viel mehr vom Tischlerhandwerk verstehen ... Was sind "Spannungsringe"? Es fallen so viele technische Ausdrücke und werden so viele Arbeitsvorgänge im Werk beschrieben, dass man den Roman für einen für den "Bitterfelder Weg" typischen halten möchte. Aber er ist viel mehr, erzählt zwar streng chronologisch, doch kann man die einzelnen Abschnitte mit ihren langen, oft wenig realistischen Dialogen als eine Kette von neoexpressionistischen Theaterszenen auffassen. Für mich Heutigen, im Westen Sozialisierten ist oft gar nicht zu entscheiden, wo in diesen Dialogen noch Alltagssprache von damals ist und wo die kunstvolle Theatersprache à la Brecht und Heiner Müller beginnt.

Was die Tendenz angeht, so neige ich zur Auffassung von Rolf Schneider (s. Link oben), der in Rodschinka einen Kleinbürger-Anarchisten sehen wollte. Das trifft ebenso auf die Tischlerkollegen in Berlin zu, bei denen Rodschinka Anschluss findet und Gemeinschaft erlebt. Dagegen ist mir Schneiders Unverständnis, warum der Roman damals nicht in der DDR erscheinen konnte, selbst unverständlich. Er weist eine Fülle von systemkritischen Details auf, insbesondere stellt er die Gesellschaft dort als eine Art neue Klassengesellschaft dar. Er thematisiert und kritisiert das Lohn- und Prämiensystem. Und er spricht nebenbei u.a. an: die Mauer, Flucht, verweigerte Ausreise, Versorgungsprobleme, Schiebereien. Einen anderen Grund konnte Schneider wohl nicht wissen: Gratziks kürzlicher Bruch mit der Stasi.




ArnoAbendschoen - 19.02.2022 um 18:50 Uhr

Hier noch ein Video von Thomas Werner mit Gratzik in Beenz:

https://www.youtube.com/watch?v=mUqcpW4J3Ig

Das genaue Dreh-Jahr konnte ich nicht ermitteln.




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