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-- Politik & Gesellschaft
--- Ein wenig Zeitgeschichte treiben

ArnoAbendschoen - 10.12.2021 um 17:44 Uhr

Sommer 1992. Erich Honecker ist von Russland ausgeliefert worden und sitzt als schwerkranker Untersuchungshäftling in Moabit ein. Aufgrund seines Krebsleidens ist bereits damit zu rechnen, dass er ohne Prozess freikommt. Wohin dann mit ihm? Mama schreibt mir dazu im nächsten Brief: „Von Honecker wollen die Leute hier nichts wissen, sind froh, wenn er nicht kommt.“ Zugleich entschuldigt sie ihn, zeigt Verständnis, indem sie fortfährt: „Er ist ein Opfer seiner Erziehung und Veranlagung. Sein Vater hatte immer nur die Wörter Bolschewismus und Kommunismus im Mund.“ Meine Mutter kann sich auf unmittelbare Zeitzeugenschaft berufen – als sie Schulkind war, verkehrte der Vater Honecker gelegentlich in ihrem Elternhaus. Er kam, so erfahre ich von ihr, um dort „Schwarzsender“ zu hören. Tatsächlich ist mir von den Großeltern gesagt worden, sie hätten im Dritten Reich oft das deutschsprachige Programm der BBC eingeschaltet. Für mich stellt sich heute die Frage: Konnte Wilhelm Honecker das nicht in seinem eigenen Haus tun? Sie waren zwar Parteigenossen, doch keineswegs Nachbarn, sein Haus und das der Großeltern liegen mehr als einen Kilometer voneinander entfernt.

Mamas Brief enthält noch mehr, das mich schon bei der Lektüre 1992 frappiert hat: „Meine Eltern haben vor 1935 im Keller eine heimliche Druckerei von der KPD geduldet und Opa hatte Glück, daß er nicht eingesperrt wurde, er wollte ja auch emigrieren. Ein Buchdrucker aus Berlin hat bei uns im Keller gearbeitet und manchmal mit seiner Frau auch bei uns gewohnt. Es waren sehr nette Leute, habe sie noch in guter Erinnerung.“ Ich kann Mama nicht mehr fragen, weshalb aus der Emigration damals nichts wurde. Vielleicht wollte Oma nicht mitkommen. Mein kommunistischer Opa, der bis dahin als Setzer gearbeitet und gut verdient hatte – auch während der Weltwirtschaftskrise -, wurde nach der Rückgliederung des Saargebiets aus dem Zeitungsverlag geworfen und bekam dabei noch zu hören: Kannst froh sein, wenn du nicht in einem Lager verschwindest …

Opa blieb arbeitslos bis zum Kriegsende, ohne Unterstützung zu beziehen. Am Wiederaufbau der Partei ab 1945 beteiligte er sich nicht. Er blieb politisch interessiert, war aber nicht einmal mehr Sympathisant. Regelmäßig kam dennoch per Post jene Zeitschrift, in der das große Bruderland im Osten sich selbst porträtierte. Er las sie kaum einmal, machte knappe, abschätzige Bemerkungen über sie und die Herausgeber wie über eine abgedankte Jugendliebe. Oft kam er von einem Spaziergang heim und sagte zu Oma: „Weißt du, wer mir über den Weg gelaufen ist – der Honecker …!“ Er sprach es wie bei uns üblich mit langem, geschlossenem O aus, als ob es von Hohn sich herleite. Dann zitierte er amüsiert neue Aussprüche des Alten, den er längst nicht mehr ernst nahm. Opa war also Revisionist geworden. Oder anders ausgedrückt: stark ernüchtert.




Kenon - 21.12.2021 um 18:07 Uhr

In meinen ersten Schuljahren hing ein Porträtbild Honeckers, auf dem er selbstzufrieden durch seine dunkle Brille lächelt, in jedem Klassenraum, seine 1981 erschienene “Auto”biographie stand in vielen Buchläden und Bibliotheken – besonders interessiert hat mich dieser graue Parteimensch trotzdem nie; man wusste, dass er mal Dachdecker war, während der Nazi-Zeit in Gefängnissen gesessen hat, später die FDJ leitete und Ulbricht erfolgreich aus seinem Amt drängte, um ihn als Günstling Breschnews zu beerben und dass er gern Tiere tötete. Erich Honecker wurde in den frühen 1930er Jahren in Moskau zum Stalinisten geschult, er blieb zeitlebens ein williges Werkzeug Russlands. Auch heute kultiviert Russland noch seine Wasserträger im Westen – Kaderschmieden besuchen sie jedoch nicht mehr und sie haben heute selbstverständlich andere Nachnamen.

Erich Honecker war ein durch und durch durchschnittlich veranlagter Mensch – dem die Russen das kleine Satelliten-Stätchen DDR anvertraut hatten. Es war ein Sozialexperiment, das wir in anderer Skalierung jeden Tag sehen: Ein kleiner Mensch wird in große Schuhe gesteckt und kann sein Glück gar nicht glauben. Die anderen sehen zu und müssen sein Glück, das ihr Unglück ist, ertragen.

Was bleibt? Ein lustiges Detail aus einem Fernsehbeitrag von 1993:
Honecker konnte auch in seinem Exil in Chile nicht ohne eine Mauer leben …




ArnoAbendschoen - 21.12.2021 um 19:11 Uhr

Bemerkenswert am Phänomen Honecker scheint mir gerade auch ein soziologischer Aspekt - er war keineswegs rein proletarischer Herkunft. Die Familie war im Übergangsbereich zum Kleinbürgertum angesiedelt (eigenes Haus, der Onkel selbständiger Dachdeckermeister mit Betrieb im Elternhaus von Erich H.). Dazu passt auch, dass einer seiner Onkel als Sozialdemokrat nach 1945 ehrenamtlicher Ortsbürgermeister gewesen sein soll (Information meiner Mutter, von mir nicht überprüft). Ich selbst lernte nach meiner Konfirmation als Leiter einer Gruppe der Evangelischen Jugend einen nahen Verwandten von Erich H. mit gleichem Zunamen kennen, vermutlich ein Großneffe. - Ulbrichts Herkunft sah wohl sehr viel anders aus und das erklärt wohl zum Teil die Unterschiede zwischen ihnen.



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