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--- Hans Keilson: Das Leben geht weiter

ArnoAbendschoen - 23.09.2021 um 17:29 Uhr

Wie entdeckt man für sich einen neuen Schriftsteller, ich meine, einen, von dem man bisher weder Werk noch Namen kannte und der einen bei der Lektüre wie selten einer in Bann schlägt? Bei mir lief das gerade so ab: Elf Tage im märkischen Bad Freienwalde verbracht und täglich an dem stattlichen Eckhaus oben am Markt vorbeigegangen, da war eine Gedächtnistafel für den dort geborenen Hans Keilson - nie gehört. Der Name blieb dennoch hängen und ich fand ihn in der Ferienwohnung wieder, da lag ein Bildband, für das Keilson das Vorwort geschrieben hatte, freundliche, klug formulierte Zeilen über seine Kindheit und Jugend in der kleinen Stadt. Das hatte etwas von konkreter Milde und nahm mich sogleich für den Verfasser ein.

Wieder in Berlin. Ich recherchierte und erstaunte: welch ein Leben, schwer und ertragreich. 1909 als Sohn eines kleinen jüdischen Textilkaufmanns dort im Oderbruch geboren, nach der Schule in Berlin Medizin studiert, daneben – mit Anfang zwanzig! - einen autobiographischen Roman über die Zeit um 1930 geschrieben, der pünktlich zur Machtergreifung 1933 bei S. Fischer herauskam und bald verboten wurde. Keilson bestand sein Examen, durfte aber nicht als Arzt arbeiten. 1936 Emigration in die Niederlande und dort die deutsche Besatzung im Untergrund und Widerstand überlebt. Nach dem Krieg noch einmal studiert und Psychiater geworden. Und er schrieb wieder, Prosa und Lyrik, publizierte, war gut vernetzt, bekam Auszeichnungen. Gestorben ist er 2011.

Ich bestellte sofort die zweibändige Ausgabe seiner Werke von 2005, hatte sie zwei Tage später in Händen und lese nun seinen Erstling „Das Leben geht weiter“. Die Lektüre geht mir nahe. Da ist Neue Sachlichkeit und zugleich die nervöse und doch gebändigte Hypersensibilität des späteren Psychoanalytikers. In einem zur Neuauflage 1984 verfassten Nachwort räumt Keilson unumwunden ein, das Buch sei seine und die Geschichte seiner Eltern während der Weltwirtschaftkrise. Ich habe erst ein Drittel des Buches gelesen. Der Vater treibt dem Bankrott entgegen, der Sohn beobachtet ihn und die Mutter genau und schildert sie mit zartfühlender Akribie. Den Text heute zu lesen, ist doppelt schmerzlich: Keilsons Eltern wurden 1943 in Auschwitz umgebracht. Ich breche hier ab, um gleich wieder zum Buch zu greifen. Später vielleicht mehr …

Kennt ihn hier sonst einer oder mag das Werk bald lesen?




Kenon - 26.09.2021 um 23:41 Uhr

Auf einen einem selbst unbekannten Autoren zu stoßen, gibt es vielerlei Wege. In Kasachstan sah ich einst eine Gedenktafel für Herold Belger und notierte mir seinen Namen, der Name Elie Wiesels begegnete mir in einem kleinen Museum in Charkiw in der Ukraine, einige zur Schau gestellte Zitate haben mich nachhaltig beeindruckt – so kann es manchmal gehen.

Zu Hans Keilson kann ich leider gar nichts sagen; danke Dir aber sehr dafür, den Namen hier genannt zu haben. Dein Hinweis hat mich neugierig gemacht. Bad Freienwalde selbst kannte ich bis zu diesem Jahr nicht, war dann aber gleich mehrere Male dort, sei es zum Umsteigen nach Bad Saarow oder weil es einen bequemen Endpunkt von Flusswanderungen bildete, von dem aus ich wieder nach Berlin zurückreiste.
Ich habe mir erst einmal nur “Der Tod des Widersachers” zum Lesen vorgemerkt.




ArnoAbendschoen - 27.09.2021 um 11:51 Uhr

Bitte sei nachsichtig mit meiner Rechthaberei: Du warst offenbar in Fürstenwalde, das ich mitsamt seiner weiteren Umgebung auch schätze und oft besuche. Bad Freienwalde liegt viel nördlicher, am Abbruch des Barnims zum Oderbruch. Es gehört zu den ganz wenigen Städten östlich von Berlin, die die Kriegswalze im Frühjahr 1945 fast unbeschadet überstanden haben. Von Keilson geschilderte Punkte sind mühelos aufzufinden und präsentieren sich noch beinahe so wie vor neunzig Jahren.



Kenon - 27.09.2021 um 12:51 Uhr

Oh, wie peinlich für mich, diese beiden Städte zu verwechseln und vielen Dank für das Berichtigen.
In Bad Freienwalde war ich auch im Frühjahr, vermutlich habe ich beide Orte deswegen durcheinander gebracht.
Leider war es damals sehr verregnet.




ArnoAbendschoen - 30.09.2021 um 18:10 Uhr

Heute die Lektüre von "Das Leben geht weiter" abgeschlossen und erste Notizen gemacht. Ich werde dazu eine gesonderte Darstellung verfassen. Das Buch ist exemplarisch dafür, wie unterschiedlich zwei Perspektiven sein können, einmal die eines sehr jungen Autors, der einen zeitgeschichtlichen Roman schreibt, und dann die andere von Lesern zwei Generationen später. Woran sich die Frage nach dem bleibenden Wert anschließt, der hier bei aller Differenz durchaus vorhanden ist. Den Text schreibe ich erst, wenn ich Keilsons spätes Erinnerungsbuch "Da steht mein Haus" gelesen habe, erschienen in seinem Todesjahr 2011 und gerade bei mir eingetroffen.

Der zweite Roman "Der Tod des Widersachers" kommt auch noch dran, vor oder nach den beiden Erzählungen. Und dann steht da noch der Band mit Lyrik und Essays.

Abschließend eine Stelle aus "Das Leben geht weiter", die mir besonders charakteristisch zu sein scheint:

"Dann sitzt er fertig angezogen an seinem Tisch und ißt mit der schwermütigen Feierlichkeit, die jeder an sich hat, der alleine am Tisch sitzt und ißt." Unmittelbar danach erhält der Student die Nachricht vom Selbstmord seines Schulfreundes in einem Berliner Hotel.




ArnoAbendschoen - 07.11.2021 um 18:21 Uhr

Hier abschließend nur einige Zeilen zu Keilsons Hauptwerk "Der Tod des Widersachers". Mein Eindruck ist zu zwiespältig für ruhiges Abwägen, daher keine Vollrezension. Da ist große Bewunderung für viele Abschnitte und Zweifel an der Gesamtkonzeption. In der knappen Rahmenhandlung heißt es: "Ästhetische Urteile sind die größten Mystifikationen, zu denen man sich verleiten lassen kann." Ja, dann - !

Der Roman wirkt in seinem Hauptteil wie eine stark überdehnte Parabel. (Dass dieser Charakter in der Rahmenhandlung selbst kurz erörtert wird, macht die Sache nicht besser.) Ein offenbar jüdischer Emigrant in Holland analysiert ohne direkten Bezug zur Zeitgeschichte die inneren (geistig-seelischen) Beziehungen zwischen sich, dem Opfer, und einem faschistischen Parteiführer und späteren Diktator. Das Hauptthema ist also psychoanalytisch und personalisierend. Der Leser jedoch kann darin nicht nur eine allgemeine Gesetzmäßigkeit erkennen, sondern auch die reale Wirkung des deutschen Antisemitismus von etwa 1920 - 1945 widergespiegelt finden. In letzterem Fall wird er alle nicht-psychologischen Aspekte des Ursachenzusammenhangs vermissen, das Historisch-Materielle, das Ökonomische, den kulturellen Überbau. Um überhaupt zur Romanform zu kommen, flicht Keilson in seinen abstrakten Stoff zahlreiche Beschreibungen von sehr real wirkenden Episoden ein. In ihnen, ihrer Gestaltung, ihrer Auswahl, ihrer Abfolge liegt nach meinem Empfinden der tatsächlich bedeutende literarische Wert des Romans, Mystifikation hin oder her. Diese Kinder- und Jugendszenen sind großartig, ebenso die zwei Begegnungen mit Hitler (der hier nur als "J.B." firmiert), auch ein Gang durch ein Warenhaus und vor allem der erotische Kontakt zu einer jungen Verkäuferin und zu deren antisemitischem Umgang. In diesem Kreis wird eine Friedhofsschändung rapportiert, auch wieder beklemmend faszinierend. Aber genau an dieser Episode zeigt sich erneut die Begrenztheit des Schriftstellers Keilson: Nach sehr gelungenem Beginn analysiert der erzählende junge Mann die Empfindungen seiner Mittäter auf eine unglaubwürdig empfindsame und differenzierende Weise, als käme alles direkt aus dem Kopf Keilsons oder des Roman-Ich-Erzählers.

Fazit: Sehr lesenswert, lohnend auch durch die auf verschiedene Weise mögliche Auseinandersetzung mit der Lektüre.




ArnoAbendschoen - 18.03.2022 um 10:31 Uhr

Gerade jetzt ausdrücklich zur Lektüre empfohlen: Hans Keilsons Roman "Der Tod des Widersachers". Er legt aus psychoanalytischer Sicht dar, wie "das Böse" und seine Kontrahenten oder Opfer sich im Kampf mental ineinander verstricken. Beispiele dafür finden wir heute leider wieder zuhauf.



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