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-- Politik & Gesellschaft
--- Die Qual der Wahl #BTW21
Kenon - 04.09.2021 um 01:01 Uhr
Am 26. September 2021 sind Bundestagswahlen. Selten ist es mir so schwer gefallen, mich zu entscheiden, weil es eben keine Partei gibt, die mir ein passendes Gesamtpaket anbieten kann. Ich habe den Wahlomaten benutzt: Die Parteien, die mir am nächsten scheinen, erreichen da gerade einmal eine Übereinstimmung von knapp über 60 Prozent (bei der Berlin-Wahl sind es noch deutlich weniger, die Themen allerdings auch sehr seltsam gesetzt), etliche davon werden auch in 100 Jahren nicht über die 5%-Hürde kommen, die erste Partei, die aktuell auch im Bundestag vertreten ist, liegt auf Platz 5. In den sozialen Medien habe ich Screenshots von Leuten gesehen, die 96 Prozent Übereinstimmung mit manchen Parteien haben; vielleicht haben sie irgendwie geschummelt, es als ein Spiel aufgefasst und eine ganze Weile rumprobiert, um dort zu landen oder den HTML-Editor bemüht, jedenfalls kann ich mir schwer vorstellen, wie so etwas bei halbwegs ausgeglichenen Menschen möglich sein kann. Rechnen wir es dem Zufall zu: Einige Menschen müssen eben auch solche Übereinstimmungsraten haben. Aber was soll ich tun? Wenn ich für eine Reduzierung des Autoverkehrs, für eine wertebasierte Außenpolitik und gegen Nord Stream II bin, muss ich gleichzeitig für gegenderte Gesetzestexte und verfassungswidrige Frauenquoten stimmen. Liegen mir bürgerliche Freiheiten und eine Verschlankung des Staates am Herzen, so muss ich auch der Wirtschaftslobby Gutes tun. Wenn ich soziale Gerechtigkeit möchte, muss ich Putinversteher sein, die NATO auflösen wollen und vielleicht auch ein paar Enteignungen begrüßen. Über Migrationspolitik fange ich erst gar nicht an, nachzudenken … Wenn es wenigstens Kanzlerkandidaten mit Format gäbe! Stattdessen ein Lusche, eine Luftpumpe und ein kreidefressender Wolf im Schafspelz. Bleiben wieder nur die Kreuze beim geringsten Übel und den schönsten Versprechungen. Irgendwann werden sie schon einmal eingelöst werden, wenigstens ein bißchen.
ArnoAbendschoen - 04.09.2021 um 10:54 Uhr
Nun, da können für den einzelnen Wähler noch weitere Gesichtspunkte eine Rolle spielen: Welche Koalition möchte ich mit meiner Stimme wahrscheinlicher, welche unwahrscheinlicher machen? Und da in jeder möglichen Koalition die Programmatik der beteiligten Parteien große Unterschiede aufweist: Welche an einer evtl. Koaliton beteiligte Fraktion möchte ich mit meiner Stimmabgabe stärken, welche in ihrem Einfluss mindern? Ich plädiere also für eine strategische Stimmabgabe, bei der die vorangehende Nähe des individuellen Stimmbürgers zu einer einzelnen Partei nur ein Faktor ist. Mindestens ebenso wichtig sollte ihm sein, die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen einer stabilen oder veränderten Machtkonstellation richtig einzuschätzen und dann auch entsprechend beeinflussen zu wollen.
Die Wahlomat-Prozeduren entsprechen mir zu sehr dem Prinzip Input - Output. Politik, besonders die nach der Wahl, funktioniert aber anders. Es läuft auf ein Geben und Nehmen, auf Kompromisse und Kuhhandel hinaus. Das kann im Extremfall bedeuten, dass die von mir wegen 60%iger Übereinstimmung gewählte Partei in einer Koalition genau jene Positionen aufgibt, für die ich sie gewählt habe, um eben jene durchzusetzen, die ich als Kröte geschluckt habe. Noch schlimmer ist der andere Fall: Ich führe durch meine Stimme ungewollt eine Koalition mit herbei, indem die von mir begünstigte Partei sich als nicht koalitionsfähig erweist und in der Opposition landet.
Kenon - 05.09.2021 um 22:57 Uhr
Meine obigen Zeilen sind natürlich mit spitzem Stift geschrieben, von daher wehre ich mich gar nicht gegen alle von Dir, Arno, gemachten Einschränkungen.
Vom “strategischen Wählen” hört man häufiger; für Menschen, mit denen ich mich in letzter Zeit unterhalten habe, heisst das momentan meistens, die Linkspartei zu wählen, damit sie nicht unter 5% rutscht und RRG auf Bundesebene möglich wird.
Ich tue mich mit dem strategischen Wählen schwer. Erstens würde ich sowieso keine Partei wählen, die ich unter nicht-strategischen Aspekten nicht wählen würde, denn man bezieht sich dabei ja immer auf irgendeine Umfrage, die zu irgendeinem Zeitpunkt gemacht wurde. Ob da überhaupt Leute abgerechnet sind, die sowieso nicht wählen gehen, ist mir zum Beispiel unbekannt, auch, ob sie noch einmal ihre Meinung ändern oder sich per Briefwahl längst festgelegt haben; zudem wird es etliche Menschen geben, die auch “strategisch” wählen wollen, allerdings nicht in meinem Sinne, was noch einmal ein ganz anderes, nicht geplantes Bild ergibt.
PS: Der aktuelle Scholz-Hype ist mir schwer erklärlich.
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