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-- Prosa
--- Stehende Ewigkeit in Lichtenrade

ArnoAbendschoen - 26.08.2021 um 18:03 Uhr

An diesem Spätsommernachmittag sitze ich wieder einmal mit Sascha in einem Café in Berlin-Lichtenrade. Gemeinsam schweigen wir und ich hätte Zeit, mich an so viel mit ihm Unternommenes zu erinnern. Stattdessen wenden sich die Gedanken sehr viel länger Zurückliegendem zu. Ich mache mir klar, dass dies ein Zeichen des Alterns ist: Das Vergangene kann in beliebiger Reihenfolge aufgerufen werden, und was vor sieben Jahren war, erscheint dabei nicht bedeutender, nicht eindrucksvoller als das von vor sieben mal sieben Jahren. So lange ist das wirklich schon her und ich erinnere mich so genau noch an manche Details?

Damals unterhielt ich einige Monate lang ein, mit Verlaub, Fickverhältnis zu einem jungen Mann aus Lichtenrade. Gewöhnlich kam Axel zu mir nach Moabit, nur selten war ich bei ihm, einmal an einem Freitagabend, mit der Einladung verbunden die Information, Onkel Hans würde uns beim Abendessen Gesellschaft leisten. Der scherzhaft als Onkel Bezeichnete war Axels väterlicher Liebhaber, älter als wir beiden jungen Männer zusammen. Er war ihm Vater- und Mutterersatz, seine Stütze und sein Rettungsanker und sein Bettgespiele. Stell dir vor, sagte Axel einmal mit gesenkter Stimme, als wäre das Folgende nicht sehr rühmlich, Onkel Hans war Soldat bei der Wehrmacht, er hat sogar am Schluss den Krieg im Osten noch mitgemacht …

An jenem Abend aßen wir also zu dritt in Axels Ein-Zimmer-Wohnung. Onkel Hans kannte ich schon, ich hatte einmal mit Axel bei ihm Kaffee getrunken. Der Onkel hatte sympathisch gewirkt, unkompliziert, kein Anzeichen von Eifersucht festzustellen. Jetzt beim Essen stellte ich mir den Mann von damals um die Fünfzig wie unter Zwang immer wieder in Feldgrau vor. Der Krieg kam nicht zur Sprache, war dennoch in meinem Kopf gegenwärtig. Ein Vexierbild trieb da sein Unwesen, mal war es Axels viel älterer Geliebter, mal ein Brustbild meines eigenen, noch sehr jungen Vaters in Wehrmachtsuniform. Jahrzehnte behauptete es seinen Platz auf Mamas Vertiko, und wie sehr es mich bei meinen immer seltener werdenden Besuchen irritierte, dieses Foto aus Russland mit seiner unveränderlichen halbschüchternen Jungmännlichkeit, wie festgefroren, während ich mich rasch immer weiter zu entwickeln glaubte. Onkel Hans erschien mir nun unvorstellbar alt, er wirkte geradezu unnatürlich alt. Heute, wieder einmal in Lichtenrade und fast fünfzig Jahre später, versetze ich mich in seine Rolle damals und konfrontiere ihn erst mit den zwei blutjungen Männern am Tisch ihm gegenüber und gleich danach, ohne ihn selbst weiter altern zu lassen, mit mir, so wie ich gerade mit Sascha Kaffee trinke. Wie jung mir der Onkel auf einmal vorkommen muss … Seltsame Experimente mit der Zeit und ihren schwankenden Gestalten sind das.

Wir plauderten damals nur über Unverfängliches, auch nach dem Essen noch. Als der Beschluss gefasst war, zu Bett zu gehen, nahm mich Axel neben seinem Lager beiseite, während der Onkel weiter auf dem Sofa saß. Du gefällst dem Onkel auch, sagte Axel leise, kann er zu uns kommen – also eine Sache zu dritt? Ich lehnte flüsternd ab und Axel überbrachte die Botschaft dem Onkel, für mich kaum hörbar. Für ihn wurde dann rasch auf dem Sofa aufgebettet. Während ich kurz darauf Axel im Bett umarmte, hörte ich ihn im Geist zum Onkel sagen: Laden wir ihn für Freitag zum Essen ein und nachher sehen wir ja, wie er reagiert, du weißt schon … Onkel Hans musste noch wach liegen, und ich versuchte, das Peinliche unserer Lage wegzuküssen. Am anderen Morgen gaben wir uns alle drei unverändert gleichmütig. Axel erzählte beim Frühstück vom Abflammen seiner Zimmertür. Er hatte sie erst bemalt, dann ausgehängt und auf den Hof transportiert. Bei seinem Hantieren mit dem Gasbrenner seien die Nachbarn unruhig geworden. Kann sich aber sehen lassen, sagte Axel, sieht neu und doch irgendwie auch alt aus, richtig chic, oder?

Den Onkel bekam ich danach nie wieder zu Gesicht. Axel blieb mir noch eine Zeitlang erhalten. Aber tatsächlich verloren habe ich beide nie, auf Dauer sind auch sie Teil meiner Entwicklung, meiner Geschichte, meiner Wirklichkeit, nicht anders als Sascha, mit dem ich jetzt gerade das Lichtenrader Café verlasse.




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