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-- Lektüregespräche
--- August 2021
Kenon - 04.08.2021 um 22:54 Uhr
Ernst Haffner – Blutsbrüder (1932)
Ein Berliner Cliquenroman – so heißt es heute im Untertitel; neu aufgelegt 80 Jahre nach Ersterscheinen, damals bekannt als “Jugend auf der Landstraße Berlin”, veröffentlicht bei B. Cassirer. Die Spuren des Autors verlieren sich im Dritten Reich, auch sein Buch hat man verboten und den Flammen übergeben. Der Roman schildert das Leben obdachloser Jugendlicher, wie es sie damals in ganz Deutschland zu Tausenden gab; er spielt in der Reichshauptstadt. Das ganze geht etwas holprig los, aber davon sollte man sich nicht irritieren lassen; es wird bald besser.
Ein wunderbares Zeitdokument.
Zitat:
Auf dem Bahnhof Friedrichstraße müssen sie umsteigen. Das Gewimmel auf der zentralen unterirdischen Umsteigestation ist beängstigend. Alles geht, läuft, hastet gegeneinander und durcheinander. Der Berliner versäumt nicht gern einen Zug. Das bedeutet zwei Minuten warten müssen! Selbst der Arbeitslose springt noch auf den anruckenden Zug auf. Das liegt noch so im Blut von früher, als man im glücklichen Besitz einer Stellung war ...
Kenon - 19.08.2021 um 23:07 Uhr
Alfred Weber – Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn geschichtlichen Daseins. (1953)
Alfred (1868-1958) war der jüngere Bruder von Max Weber, Kulturhistoriker und Soziologe. In seinem Buch “Der dritte oder der vierte Mensch”, so der Klappentext, durchleuchtet er “in umfassender theoretischer und empirischer Sicht die Krise des gegenwärtigen Menschen”. Worin besteht diese Krise? Im Raubbau an der Natur, in der Überbevölkerung, im Nihilismus, in der Bürokratie, der Rationalisierung und Technisierung. Nicht alle Prognosen sind eingetroffen, noch hält die Erde dem Bevölkerungswachstum stand, aber es ist doch erstaunlich, wie aktuell ein solches Buch sein kann, auch wenn es manchmal durch seinen Jargon befremdet. Natürlich, der Kommunismus ist inzwischen besiegt, aber dafür erscheint der Geist der Unfreiheit heute mit vielen anderen Gesichtern. Was hätte Alfred Weber zu den heutigen technischen Möglichkeiten der Überwachung und Steuerung von Menschen gesagt? Gut, dass er in einer anderen Zeit gelebt hat …
Zitat:
Der bürokratische Apparat aber gehört mit zu den Geburtshelfern der geschichtlichen Zivilisation überhaupt. Er ist dabei zugleich der älteste Feind breitgelagerter Eigeninitiative und Selbstgestaltung des menschlichen Lebens.
Itzikuo_Peng - 20.08.2021 um 08:54 Uhr
Ich lese Charles Baudelaire - Die Paradiese des Teufels oder Der Spleen von Paris - 50 Nocturnes. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins.
Das lyrisch-prosaische Ich flaniert z. B. unter reichhaltigem und blumigem, poetischem Sprach-Gedankenfluss durch das zeitgenössische Paris, und ich bereue es nicht, mir das kleine, feine Büchelchen neu gekauft zu haben.
Nach ca. 40 Jahren Baudelaire-nicht-mehr-gelesen-Habens verzaubert von der Sprache, erneut.
Ich rede von diesem hier: https://www.zweitausendeins.de/die-paradiese-des-teufels-oder-der-spleen-von-paris-24022 3.html
Itzikuo_Peng - 20.08.2021 um 08:58 Uhr
Nachtrag: Paris mit Fragezeichen. Es wird wohl nicht nur Paris gewesen sein, wo das Ich im Buch umherspaziert.
Itzikuo_Peng - 20.08.2021 um 09:05 Uhr
… es ist zumindest mal auch Paris: S. 31: Zitat:
... ein Glaser, dessen gellender Schrei durch die dicke schmutzige Pariser Luft zu mir drang.
(nota bene: schon damals dicke schmutzige Luft, jaja.)
Kenon - 20.08.2021 um 22:22 Uhr
Mit Baudelaire kann ich leider wenig anfangen, aber der Titel "Les Fleurs du Mal" ist natürlich genial. Auch vermute ich, letztlich mehr über als von Baudelaire gelesen zu haben. Generell habe ich es wohl nicht besonders mit dichtenden Franzosen; Ausnahme ist Rimbaud, aber den habe ich auch erst erschreckend spät entdeckt. Hoffnungslos, seine Werke hier wiederzufinden; die meisten Bücher stehen inzwischen in zwei Reihen. Ich habe vollkommen den Überblick verloren.
Itzikuo_Peng - 21.08.2021 um 10:52 Uhr
Schade finde ich es, by the way, dass ich nicht fähig bin, Baudelaire, Tranströmer (liegt permanent auf meinem Lesetisch), Brodsky (liegt permanent auf meinem Lesetisch) und weitere nicht in den jeweiligen Originalsprachen lesen und auch fließend verstehen zu können. So zwanzig Sprachen fließend verstehen wäre echt ultracool.
Zitat:
... Ich habe vollkommen den Überblick verloren.
Kann auch reizvoll sein. Hinsichtlich meiner Bücher bin ich da allerdings zu kontrollsüchtig für.
Kenon - 23.08.2021 um 08:05 Uhr
Oh, Joseph Brodsky, ein Russe, das überrascht mich ein wenig. Was magst Du an seinen Gedichten? Mir sind sie nicht konzentriert genug, also zu weitschweifig angelegt, auch wenn sie interessante Ideen enthalten. Ohnehin bin ich kein besonderer Freund moderner Lyrik, bei Czesław Miłosz (1911-2004) hört es bei mir auf, und da überwiegt dann auch schon das historische Interesse. Seitdem ich nicht mehr gewohnheitsmäßig Lyrik verfasse, habe ich kaum noch Lyrik gelesen; es scheint also irgendwie zusammenzuhängen. Neben meinem Bett liegen nur die “Anthologia Graeca” und Pindars Oden. Ich mag den ganz alten Kram.
Die Essays von Brodsky werde ich aber vielleicht doch einmal lesen.
Itzikuo_Peng - 24.08.2021 um 06:36 Uhr
Zitat:
Was magst Du an seinen Gedichten?
Gute Frage, danke. Das werde ich mal noch in einer Mußestunde ausformulieren. Bis dahin: gut les allerseits.
Kenon - 24.08.2021 um 07:29 Uhr
Zitat:
Bis dahin: gut les allerseits.
Danke, gleichfalls.