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-- Politik & Gesellschaft
--- Das Gute ist nicht immer gut

Kenon - 25.06.2021 um 17:44 Uhr

Es ist ein im Prinzip tragisches Schauspiel, das sich immer wiederholen kann:
Eine kritische Bewegung, die vielleicht einmal emanzipatorische Ziele verfolgte oder einfach nur für einen gewissen sozialen Fortschritt eintrat, der dazu führen sollte, dass es bestimmten noch benachteiligten oder sogar einer größeren Zahl an Menschen besser geht, wird von einer negativen zu einer positiven Kraft, weil sie die Endstation ihres Marsches erreicht hat und sich plötzlich selbst zu einer bestimmenden Macht geworden sieht. An diesem Punkt könnte sie sich auflösen, würde dadurch aber vielleicht ihre Errungenschaften noch gefährden. Wenn sie sich nicht auflöst, so müsste sie sich doch umorganisieren und den geänderten Realitäten und Kräfteverhältnissen anpassen, nach neuen sinnvollen Aufgaben suchen. “Was ich habe, das gebe ich nicht wieder her” ist nun aber eine Einstellung, die wohl besonders auf die Macht zutrifft. Wo eine Bewegung, als sie noch ein äußeres Ziel hatte, vor allem für andere eintrat, tritt sie, nachdem sie siegreich geworden ist, nur zu gern für sich selbst ein: Aus dem äußeren Ziel ist ein inneres geworden, ins Zentrum gerückt steht dann plötzlich der Erhalt und Ausbau der eigenen Strukturen und Macht, die Sicherung von möglichst vielen Ressourcen, was letztlich wieder auf Kosten der Gesellschaft gehen kann. Die Bewegung hat schließlich ihre historische Mission erfüllt – war sie früher progressiv, so sitzt sie den Menschen jetzt selbst im Nacken, bereichert sich an ihnen oder drückt sie sogar nieder, im schlimmsten Fall erfindet sie neue Ungerechtigkeiten, um vorgeben zu können, weiterhin gebraucht zu werden, weil nur sie dagegen zu kämpfen weiß. Heraklit meinte: “Nichts ist so beständig wie der Wandel” – mir scheint, dass auch deswegen das Gute nicht immer gut sein kann.




ArnoAbendschoen - 25.06.2021 um 22:31 Uhr

Ja, es scheint jede geistige (kulturelle, politische) Richtung von Beginn an den Keim zur späteren Wesens- und Richtungsänderung in sich zu tragen, d.h. oft auch schon zu ihrem Niedergang. Das ergibt von außen betrachtet ein interessantes Schauspiel, für aktiv teilnehmende Sympathisanten kann es recht verstörend sein. Wohin sich wenden, wenn sich alles um einen herum dreht, wenn einem der bisherige eigene Standpunkt allmählich so verkehrt wie sein Gegenteil erscheint? Da bleibt oft nur die Flucht nicht ab durch, sondern in die Mitte hinein, um dort wenigstens eine Zeitlang die Illusion von Stabilität und Solidität zu empfinden.

Ein historisches Beispiel für den radikalen Wandel einer Bewegung ist der Pietismus. Mir fiel neulich beim Blick auf eine Landkarte auf, dass die Zentren der Querdenker genau da sind, wo auch der Pietismus stark war: Sachsen und Württemberg. Daraufhin vertiefte ich mich ein wenig in seine Geschichte und staunte über seine Wandlungsfähigkeit, von Franke bis zu den Evangelikalen.

Bleibt noch die Frage, ob ebenso das Schlechte nicht immer schlecht bleiben muss. Da bin ich mir nicht so sicher ...




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